E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Konrad Das Private ist politisch
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7117-5457-8
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marianne und Oscar Pollak
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7117-5457-8
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selten haben zwei Menschen eine Bewegung, ein Land, eine Zeit so sehr geprägt wie die Journalistin Marianne und der Journalist Oscar Pollak. Selten finden sich auch Lebensläufe, in denen das Private so sehr vom Politischen - von politischen Überzeugungen und deren Vermittlung - durchsetzt war. Die beiden prägten den österreichischen Journalismus der Zwischen- und Nachkriegszeit, Marianne Pollak als eine der ersten sozialistischen Nationalratsabgeordneten, die sich nicht nur für die Frauenrechte, sondern auch für das Recht auf Abtreibung engagieren, und als Chefredakteurin der Frau, Oscar Pollak als langjähriger Chefredakteur des Zentralorgans der SPÖ, der Arbeiter-Zeitung. Helmut Konrads Doppelbiografie zeichnet nicht nur das Leben und Wirken der beiden nach, sondern wirft auch einen Blick auf den Umgang der Sozialistischen Partei mit Emigrantinnen und Emigranten. Eine umfassende politische Doppelbiografie zweier wegweisender österreichischer Persönlichkeiten und damit ein Kapitel der Geschichte der frühen Jahre der Zweiten Republik.
Helmut Konrad, 1948 geboren, war 1993 bis 1997 Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des dortigen Instituts für Geschichte. Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur politischen Geschichte der Ersten Republik und zur Alltagsgeschichte. Zahlreiche Veröffentlichungen. Im Picus Verlag erschien 2019 in der Reihe Wiener Vorlesungen als Band 193 gemeinsam mit Gabriella Hauch 'Hundert Jahre Rotes Wien'. Die Doppelbiografie 'Das Private ist politisch. Marianne und Oscar Pollak' erschien im Herbst 2021.
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DIE GEMEINSAMEN ANFÄNGE
Gut sieben Jahrzehnte vor den dramatischen Ereignissen in Hinterstoder und in Wien war die politische Situation in Wien und in Österreich noch eine völlig andere. Wien war Weltmetropole, eine der größten Städte der westlichen Welt, die Hauptstadt eines riesigen multiethnischen Reiches, und die Habsburgermonarchie war dabei, ihre Modernisierungsrückstände aufzuholen. In den gut zwei Jahrzehnten, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch vergehen sollten, nahmen auf der politischen Ebene vor allem die nationalen Spannungen gewaltig zu. Unter »Nation« verstand man damals »Sprachnation«, aber biologistische Sichtweisen verkomplizierten gerade in dieser Zeit die Diskussionen. Die Definitionen von »Nation«, die Theorien dazu und die Lösungsvorschläge zur »Nationalen Frage« nahmen in der Habsburgermonarchie großen Raum ein. Auch die junge Sozialdemokratie sah sich dadurch herausgefordert. Was sie zur Nationalen Frage an Theorie und Lösungsvorschlägen erarbeitete, sollte im ganzen 20. Jahrhundert den weltweiten Diskurs mit prägen. Auf diesen theoretischen Arbeiten fußt der »Austromarximus«12. Anderseits machte aber die demokratische Mitsprache im Staat Fortschritte. 1896 schuf die Badenische Wahlrechtsreform eine allgemeine Wählerkurie. Nun waren alle Männer über vierundzwanzig, die seit mindestens drei Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und eine Sesshaftigkeit von zumindest einem Jahr nachweisen konnten, wahlberechtigt. Dieses Wahlrecht galt für die 5. Kurie, in der zwar fast alle Männer wählen durften, in der aber nur 72 der insgesamt 425 Sitze im österreichischen Reichsrat zu vergeben waren. Immerhin zogen vierzehn Sozialdemokraten ins Parlament ein, allesamt Vertreter der Industrieregionen außerhalb der Hauptstadt. Die junge Arbeiterpartei hatte allerdings gerade erst ihre Häutungen hinter sich. Gut anderthalb Jahrzehnte rangen verschiedenste politische Positionen um den Führungsanspruch, Anarchisten, Syndikalisten, Lassalleaner und manche Splittergruppierung. Die Einigung war erst 1889 in Hainfeld gelungen, und die politische Feuerprobe wurde 1890 beim sogenannten »ersten Ersten Mai«13 bestanden, als man den öffentlichen Raum vor allem in Wien gewaltfrei und stolz besetzen konnte. Man war nicht länger staatsgefährdend, sondern eine konstruktive Kraft, die, viel stärker als alle anderen, den multiethnischen Charakter der Monarchie akzeptierte, sah sie sich doch als internationalistisch agierende Bewegung, zumindest in ihrem theoretischen Anspruch und in der Selbstdarstellung. Da die ehemals liberalen politischen Strömungen der Monarchie zunehmend nationalistisch und vor allem antisemitisch geworden waren, fand sich vor allem der emanzipierte Teil des Judentums bald in der Nähe oder sogar in den Reihen der Sozialdemokratie. Im Biotop einer kulturell und politisch wachen Weltmetropole, in der Welt der Musik, der Theater und der hitzigen politischen Debatten, fanden vor allem junge Menschen, die Zugang zu Bildung hatten, leicht ihren Platz in der als modern und aufgeschlossen interpretierten jungen politischen Bewegung. So wurde die Sozialdemokratie rasch auch zur Partei der Intellektuellen, der politischen Denker und der Kulturschaffenden, sie blieb aber auch die Partei der Menschen, die in der Industrie oder im Gewerbe oft sehr schlecht bezahlte Arbeit gefunden hatten. Arbeiter und auch schon Arbeiterinnen bildeten die Massenbasis der Partei, die freien Gewerkschaften waren sehr bald das materielle Rückgrat der Bewegung. Geführt wurde sie aber von Intellektuellen aus dem großstädtischen Lebensraum. Es gelang der Gewerkschaftsbewegung, die Lebensverhältnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter zumindest schrittweise zu verbessern, was diesen die Möglichkeit bot, die politischen Diskussionen mitzuverfolgen und manchmal sogar an diesen teilzunehmen. Aber die Metropole Wien war mehrfach aufgefaltet.14 In der Ringstraße, die mit ihren Prachtbauten durchaus den Geschmack der alten Eliten treffen konnte, da sich in den Gebäuden ausreichend historische Zitate fanden, zeigt sich die erste Faltung. Die an ihr angesiedelten kulturellen Einrichtungen, Ikonen der Kulturstadt Wien bis heute, waren auch für das aufstrebende Bildungsbürgertum aus den Bezirken innerhalb des Gürtels offen, also nicht nur Sehnsuchtsorte, sondern durchaus erreichbare Orte, Eintrittsmöglichkeiten in die damals in der Stadt herrschende kulturelle Hochblüte. Dann aber war da die zweite Auffaltung, die der Gürtel, der zweite Wiener Ring, bildete. Die Gegenden außerhalb des Gürtels waren zum kleineren Teil ländlich, zum überwiegenden Teil aber proletarisch. Auffangbecken für die meist nicht deutschsprachigen Zuwanderer waren vorerst die Bezirke Favoriten und Simmering. Die tschechischen Ziegelarbeiter am Wienerberg waren, vor allem durch die Aufmerksamkeit, die sie bei Victor Adler erregten, symbolisch jene Zuwanderergruppe, an der das Elend der Arbeiterschaft am Stadtrand festgemacht werden konnte. 1904 wurde Floridsdorf eingemeindet, ein weiterer Arbeiterbezirk. In der Überformung der ehemals ländlichen Gebiete herrschte das Chaos des industriellen Konkurrenz- und Überlebenskampfes, mit unvorstellbar schlechten Wohnverhältnissen und oftmals bitterer Armut. Das schreckliche Bild, das diese Armut vermittelte, brachte viele humanistisch gesinnte Menschen in die Nähe der Sozialdemokratie, von der man mit gutem Recht annehmen konnte, dass nur sie gegen dieses Elend auftreten und dieses zumindest mittelfristig überwinden konnte. Architektonische Pläne für großflächige Umgestaltungen, wie sie etwa Otto Wagner für Floridsdorf vorlegte, mit denen ein zweites Zentrum mit großen Freiflächen den Vorort komplett neu erscheinen lassen sollte, waren allerdings für jene, die ökonomisch von den schlechten Situationen der arbeitenden Bevölkerung profitierten, wie dies etwa die »Hausherren« taten, die die Partei Luegers symbolisch repräsentierten, nicht attraktiv. So war Wien einerseits die glänzende Weltmetropole, die damals drittgrößte Stadt der Welt und der Hotspot der Kultur15, anderseits aber die Stadt mit den tristen Lebensverhältnissen in den Vorstädten, der multilingualen Situation unter den Zuwanderern aus allen Teilen der Monarchie und der ungelösten sozialen Frage. Diese Widersprüche griff die junge österreichische Arbeiterbewegung auf. Der Liberalismus hatte die sozialen Problemlagen bewusst übersehen, die Armut lag außerhalb des Blickfelds der Handlungsträger. Karl Lueger, der als christlichsozialer Bürgermeister 1895 erstmals gewählt wurde und, nach anfänglicher Verweigerung der erforderlichen kaiserlichen Zustimmung, ab 1897 Bürgermeister war, kanalisierte die kleinbürgerlichen Ängste der weniger begüterten deutschsprachigen Stadtbewohner bewusst in Vorurteilsbahnen. Der Antisemitismus war sein politisches Instrument, und so prägte er die Stadt zwar durch kommunale Infrastrukturmaßnahmen, wirkte aber ausgrenzend und bot sich für das jüdische Bildungsbürgertum wohl nur als Feindbild an. Luegers Klientel war eher kleinbürgerlich, er sprach weder die arbeitenden Massen noch die intellektuellen Zirkel an. In dieser Stadt voller Widersprüche verbrachten Marianne Springer und Oscar Pollak ihre Kindheit und Jugend. In der Matrosengasse 3 im 6. Wiener Gemeindebezirk wurde am 29. Juli 1891 Marianne Springer geboren. Ihr Vater war ein kleiner Vertreter, es gab eine ältere Halbschwester aus der ersten Ehe des Vaters und ein weiteres Kind. Eine fünfköpfige Familie mit einem bescheidenen Einkommen zu ernähren, war nicht einfach. Dennoch litt man keine Not, die Aufstiegschancen der Kinder waren aber begrenzt. Die begabte Marianne musste statt der Mittelschule die Bürgerschule besuchen, ein Weg an die Universität war ihr damit verwehrt. Aber sie bildete sich in Englisch und Französisch weiter, absolvierte die Staatsprüfung als Sprachlehrerin und legte damit den Grundstein für ihr späteres Wirken in den internationalen Organisationen der Sozialdemokratie. Eine Frau mit diesen Qualifikationen war gesucht. Das Geburtszeugnis Oscar Pollaks16, ausgestellt vom Matrikelamt der Israelischen Kultusgemeinde Wien, vermeldet, dass Oscar als Sohn des Markus Pollak und dessen Frau Rosa, geborene Fried, am 7. Oktober 1893 das Licht der Welt erblickte. In der Urkunde ist aber auch vermerkt, dass Oscar Pollak am 17. Dezember 1918 aus der israelitischen Religionsgemeinde ausgetreten ist. Seine Eltern waren wohlhabend, und so konnte Oscar ohne finanzielle Notlage nach der Matura ein Jusstudium beginnen, das er nach der Unterbrechung durch den Kriegsdienst 1919 beenden konnte. Seine Jugend und sein Bildungsweg waren sorgloser und vordefinierter als jener Weg, den Marianne zu gehen hatte. Oscars Vater stammte ursprünglich aus Ungarn, die Familie hatte allerdings in Wien gut Fuß gefasst. Söhnen aus solchen jüdischen Familien stand der Weg zum Studium der Medizin oder der Juristerei offen. Dass sie politisch zur Sozialdemokratie tendierten, war durch die in Wien herrschenden Rahmenbedingungen naheliegend. Dass der junge Oscar begann,...