E-Book, Deutsch, Band 2126, 262 Seiten
Korb Lovecrafts Schriften des Grauens 26: Treibgut
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-936-2
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2126, 262 Seiten
Reihe: Lovecrafts Schriften des Grauens
ISBN: 978-3-95719-936-2
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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2. Kapitel
Das auf- und wieder abschwellende Jaulen des Windes war das erste Geräusch, das seine Ohren hörten, als sein Geist aus dem Dämmerzustand der Lähmung herauskroch. „Willkommen in meinem bescheidenen Zuhause, Mr. Scott!“ Die heiser klingende Stimme drang wie ein rostiges Schwert in sein Hirn und machte ihm schlagartig klar, wo er sich befand. Auf dem Körper fühlte er den hauchdünnen Stoff eines fremden Nachtgewandes. Mit flatternden Lidern öffnete der Schiffbrüchige die Augen. Er lag in einem großen Himmelbett, dessen Vorhänge zurückgezogen waren. An den Wänden hingen schwere Gobelins, deren Webereien die Jagdszenen eines vergangenen Jahrhunderts auf dem Kontinent wiedergaben. Zum größten Teil lagen die Figuren auf den szenischen Tableaus jedoch im Dunkeln, da man darauf verzichtet hatte eine Lichtquelle im Raum zu entzünden. Der Mann auf dem Himmelbett musste mit dem Licht auskommen, das durch zweiflüglige Türfenster hereinschien. Ein Luftzug drang durch die Ritzen und bewegte die leichten Gardinen. Eine schwarze Silhouette stand davor. „Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in meinem Gästezimmer. Leider ist es das mit dem Blick aufs stürmische Meer, dessen Tosen sie glücklicherweise gerade noch entkommen sind. Ich kann Ihnen aber keinen besseren Raum anbieten, denn dies ist das einzige noch halbwegs bewohnbare Zimmer des Hauses, das frei ist. Die übrigen sind entweder durch das Gesinde besetzt oder werden durch mich und meine Schwester beansprucht. Ich bitte um Verständnis.“ Die Gestalt mit der heiser flüsternden Stimme trat näher an das Bett. Das Tageslicht fiel nun auf ihre Gesichtszüge und Mr. Scott konnte eingefallene Wangen und eine Adlernase erkennen. Die Augen lagen in schwarzumrandeten Höhlen, sodass der Schiffbrüchige ihre Farbe nicht erkennen konnte. Das lange weiße Haar fiel dem Gastgeber schütter über die Schultern und wirkte ungekämmt. Der Mann war in einen Morgenrock altmodischer Schnittart gekleidet, der von der Größe her seinen Körper in einer unvorteilhaften Proportion erscheinen ließ. Zu weit war das Kleidungsstück, der Körper darunter wirkte dadurch ausgezehrt. Zwei zerfasernde Pantoffel lugten unter dem Mantel hervor. Bei jedem Schritt gaben sie ein patschendes Geräusch auf dem Holzboden von sich. „Mein Name ist hier in der neuen Welt wenig von Bedeutung, doch wird man sich in England wohl an die Familie Ravenloft erinnern. Ich bin der letzte Nachfahre der Barone von Ravenloft. Edgar Anton Ravenloft.“ „Howard Peter Scott. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätten Sie mir nicht Ihr Haus geöffnet!“ Ravenloft nickte langsam, dann setzte er sich auf das Bett. Howard Scott mühte seinen Oberkörper empor und lehnte sich seufzend gegen das Kopfende des Bettes. „Ich bin Offizier der Handelsmarine, meines Zeichens Kapitän der Brigg Mary Dayne. Jedenfalls war ich das bis zu diesem furchtbaren Sturm ...“ Die Erinnerung setzte bei Scott ein und er konnte nicht mehr weitersprechen, da er fürchtete, dass all seine Kameraden und Freunde bei dem Schiffsuntergang ertrunken waren. Doch noch gab es Hoffnung. Wenn er es geschafft hatte, warum dann nicht auch andere? „Haben Sie weitere Überlebende gefunden?“, wollte Scott wissen. Ravenloft senkte den Kopf. „Gleich nachdem Sie vor unserer Tür zusammengebrochen sind, habe ich meine Dienstboten damit beauftragt, den Strand kilometerweit abzulaufen. Es fanden sich Unmengen an Treibholz, intakte Fässer und Kisten, aber kein Überlebender. Es tut mir aufrichtig leid.“ Howard Scott schluckte schwer, dann antwortete er: „Das muss Ihnen nicht leid tun. Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht steht, und dafür danke ich Ihnen.“ Der Baron winkte mit einer schwachen Bewegung seiner feingliedrigen Hand ab. „Es ist meine Pflicht als Christ mich in Nächstenliebe um diejenigen zu kümmern, die bedürftig sind. Seien Sie mein Gast und erholen Sie sich, bevor Sie aufbrechen. Die offiziellen Stellen sind informiert. Man ließ mich wissen, dass Sie zunächst in meinem Hause bleiben sollen, bis sich Ihr körperlicher und seelischer Zustand soweit verbessert hat, dass man Sie in ein Lazarett überführen kann. Man gab mir die Verfügungsgewalt, um über den richtigen Zeitpunkt zu entscheiden. Seien Sie unbesorgt, Mr. Scott, es soll Ihnen bei uns an nichts mangeln. Ich habe meinen Leibarzt schon verständigt, er wird sie bald untersuchen. Ah, ich höre ihn schon an der Pforte.“ Scott lauschte intensiv, nahm aber nur das Tosen des Windes und den auf die Fensterscheiben prasselnden Regen wahr. Nach einigen Minuten ertönten Schritte und ein Pochen erschreckte Howard. Es kam von einer Tür, die links von ihm zwischen den Gobelins eingebettet war. „Kommen Sie nur herein, Doktor Livotti“, flüsterte der Baron. Die Tür öffnete sich und ein Mann mittleren Alters betrat das Zimmer. Er trug einen schwarzen Regenmantel von dessen Rockschößen das Wasser zu Boden tropfte. Sein Gesicht schien eine Maske zu sein, derart unbeweglich war sein Mienenspiel. Daran änderte sich auch nichts, als er den hohen Hut abnahm, den Arztkoffer ans Bett stellte und Scott die fleischige Hand reichte. „Guten Tag, Mr. Scott. Ich hoffe, Sie fühlen sich etwas besser?“ Die unnatürliche Fragestellung verwirrte Howard. Er konnte nur nicken. „Gut. Bitte lassen Sie uns einen Moment alleine, Herr Baron. Ich werde in wenigen Minuten mit der Untersuchung fertig sein und Ihnen das Ergebnis selbstverständlich mitteilen.“ Der Baron nickte schläfrig und stand langsam auf. Dabei knackten seine Gelenke hörbar und seinem Mund entrang sich ein leiser Seufzer. Er trottete mit schlurfenden Schritten davon und schloss die Tür hinter sich. Der Doktor wartete mit unbewegtem Gesicht auf das Schließen der Tür, dann wandte er sich dem Bettlägerigen zu. „Herr Scott. Sie sollten einige Dinge über das Haus und seine Bewohner wissen, damit es nicht zu unangenehmen Szenen kommt.“ Scott zog die Stirn in Falten, sagte aber nichts. „Die Familie Ravenloft hat auf der britischen Insel einen klangvollen Namen, ist aber durch eine alte Geschichte in Verruf geraten, weshalb sie als Clan kurz nach den Pilgervätern hierher in die neue Welt übersiedelte. Die Familie ist sehr alt und ihr Stammbaum besitzt kaum Nebenzweige, was in den Adelsgeschlechtern Europas aber keine Seltenheit ist, ging es doch vornehmlich darum, den finanziellen Besitz und die Ländereien zusammenzuhalten. Doch hat diese Konzentration der Heirat auf den engsten Umkreis negative Folgen gehabt, wie sie sich sicher vorstellen können. Während man bei den russischen Zaren der Romanoffs häufig das Krankheitsbild eines Bluters feststellen kann, ist es bei den Ravenlofts etwas anderes. Ihre Krankheit hat noch keinen Namen, doch ich bin überzeugt davon, dass sie erblich ist. Sie überträgt sich vor allem an die Söhne, doch auch die Töchter sind davon betroffen, allerdings in einem weit weniger gravierendem Maße.“ Dr. Livotti sprach sehr langsam und setzte seine Worte ganz bewusst, während er dem Patienten den Puls fühlte und mit einem Hörrohr die Herztöne kontrollierte. „Kennen Sie eine Krankheit, die sowohl Körper als auch Gehirn angreift und diese dabei schwächt, gleichzeitig aber die Sinne in herausragender Weise zu ungeahnten Kräften der Feinheit beflügelt?“ Scott schüttelte den Kopf. „Sehen Sie? Der Welt dort draußen ist Derartiges unbekannt. Doch hier im Haus ist dies gewöhnlicher Alltag. Seien Sie nicht überrascht, sollten Sie sich einer Türe scheinbar lautlos nähern und der Baron im Zimmer dahinter ruft Ihnen schon von Weitem zu, dass Sie eintreten mögen. Seien Sie weiterhin nicht erstaunt darüber, dass selbst der winzigste Funke Lichts, wenn er das Auge des Barons oder seiner Schwester trifft, einen Schmerz ungeahnter Dimension hervorruft, den nur absolute Dunkelheit zu lindern vermag.“ Howard Scott wurde es unbehaglich zumute. „Das alles ist doch ein Fluch für die Familie Ravenloft. Wie kann man hierbei von Kräften der Feinheit sprechen?“ Der Doktor beendete seine Untersuchung und verstaute das Hörrohr im Koffer. „Nun, es ist die eine Seite der Medaille, dass eine Überreizung der Sinne entstehen kann. Die andere ist es, dass die Krankheit den Träger dazu befähigt, im Dunkeln sehen zu können und geradezu hellsichtige Voraussagen über kommende Besucher zu machen. Das letztere mag für einen diplomatisch versierten Baron durchaus von Vorteil sein. Aber Baron Ravenloft ist auf keiner diplomatischen Mission hier in Amerika, demnach muss ich Ihnen Recht geben. Es ist ein Fluch, der seinen Körper zerstört. Ich schätze seine Lebenserwartung auf noch rund zehn Jahre. Wenn er stirbt wird er Ende Zwanzig sein!“ Howard schluckte. Er selbst war Mitte Dreißig und hatte demnach den Baron auf Grund seines Aussehens auf mindestens Vierzig geschätzt. In diesem Moment ertönte ein Klingeln hinter der Tür. „Ah, der Baron bittet zu Tisch. Dann werde ich mich mal wieder auf den Nachhauseweg machen. Die Familie Ravenloft hat eine starke Affinität zu Fischgerichten, was ich jedoch nicht für mich behaupten kann.“ In den Augen des Doktors glomm für einen Moment etwas auf, was Scott für den Anflug eines Lächelns hielt. Erfreut über die Wendung des Gesprächs meinte er: „Ich liebe Fisch! Was bleibt einem als Kapitän der Handelsmarine denn anderes übrig?“ Er lachte leise über seinen eigenen Scherz, den er schon hundertmal in Gesellschaft erzählt und der seine Wirkung noch nie...