E-Book, Deutsch, 286 Seiten
Korb Spuk!
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95869-579-5
Verlag: Amrun Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Dunkle Geschichten von Markus K. Korb
E-Book, Deutsch, 286 Seiten
ISBN: 978-3-95869-579-5
Verlag: Amrun Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wenn die Rache aus dem Reich der Toten kommt …
Wenn im Genfer See ein grauenhafter Fund gemacht wird …
Wenn japanische Geister nach dem Leben trachten …
Wenn verhüllte Dinge Schauer über den Rücken jagen …
Wenn nachts im Riesenrad schicksalshafte Begegnungen lauern …
… dann ist die Zeit reif für Spuk!
Unheimliche Erzählungen von Markus K. Korb.
Autoren/Hrsg.
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KEIN BLICK ZURÜCK
Non, Rien de rien Non, je ne regrette rien. Ni le bien qu’on m’a fait Ni le mal tout ça m 'est bien égal! Non, Rien de rien Non, je ne regrette rien. Nein, gar nichts Nein, ich bedaure nichts. Nicht das Gute, das mir widerfahren ist Nicht das Schlechte, all das ist mir egal! Nein, gar nichts Nein, ich bedauere nichts. Edith Piaf, »Non, je ne regrette rien«, 1960 Durch die mit Leichengeruch geschwängerte Nachtluft schwebte Edith Piafs trotziger Gesang gleich einem Mantra in Dauerschleife. Das Lied ertönte aus Bernds altem Kassettenrekorder, der neben der Kaffeemaschine auf dem Aktenordnerschrank stand. Es war das Lieblingslied seiner Mutter gewesen. Seit ihrem Tod hatte es auch für ihn eine besondere Bedeutung. Das war auf den Tag drei Jahre her. Bernd saß in dem kleinen Büro, kaute Kaugummi und blickte durch die Glasscheibe hinaus auf den düsteren Flur der Morgue, die in diesem Dämmerlicht einer halbdunklen Gebärmutter glich. Sein Spiegelbild starrte zurück: braunes Haar, das an den Schläfen schon zurückwich; dazu blaue Augen, tiefe Schatten darunter und eingefallene Wangen. Die vielen Nachtschichten forderten ihren Tribut. Draußen vor dem Büro tröpfelte das Licht auf das Linoleum, schimmernd wie aus einem Eimer dahingegossen. Ganz am Ende des Flurs, jenseits der vielen Türen, floss ein Lichtschimmer in die Gegenrichtung auf das Büro zu. Er sickerte aus einer hohen Reihe von Glasbausteinen, welche vom Flur bis zur Decke reichte. Dahinter erhoben sich in einiger Entfernung die Leuchtmasten der Stadtautobahn und verstreuten ihr orangefarbenes Licht. Bernd erhob sich schwerfällig. Es war Zeit für den stündlichen Rundgang. Sein weißer Pflegeroverall spiegelte sich in der Türglasscheibe. Bernd hatte keine Ahnung, warum die Krankenhausleitung darauf bestand. Wen sollte er denn hier im Leichenschauhaus pflegen? Und dieser stündliche Rundgang diente auch nur dazu, dass man ihn gängelte, so mutmaßte Bernd. Dennoch war er gezwungen alle Räume der Morgue aufzusuchen, um sich dort elektronisch anzumelden. Dementsprechend genervt schlurfte Bernd jede Nacht durch die Morgue. Bernd trat auf den Flur. Den Bewegungsmelder neben der Tür überklebte er mit seinem Kaugummi. Bernd hasste grelles Licht. Er liebte es, im Halbdunkel zu laufen. Die vielen Schatten verliehen dem Flur etwas Unheimliches. Sie entrückten ihn der Realität, verkleideten seine Profanität mit dem Mantel der Phantasie. War das da drüben vielleicht eine viel zu schlanke Gestalt, die am Türrahmen lehnte? Und da hinten – kauerte da nicht eine Bestie mit Katzenbuckel hinter dem Pflanzkübel? In der absoluten Gewissheit, dass dem nicht so war, überlief Bernd ein wohliger Schauer. Er war in Sicherheit, wie in einer halbdunklen Gebärmutter. Er hob die Nase in die Luft und schnupperte. Die Techniker der Belüftungsanlage gaben ihr Bestes, um es durch beigemischte Aromen zu verdecken. Aber er konnte es dennoch riechen. Es roch nach toten Menschen hier. Klebrig legte sich der Geschmack auf die Zunge, bitzelte dort schwach wie alt gewordene Brause. Der Speichel sammelte sich im Mund, man wollte ihn vor Ekel nicht schlucken. Doch irgendwann war es so weit und dann schmeckte er bitter. Bernd unterdrückte mühsam den Würgereiz, spuckte Schleim auf den Boden und schob sich einen weiteren Kaugummi in den Mund. Die Pfefferminze vertrieb den Formalingeschmack in der Mundhöhle. Mit hängenden Schultern lief der Nachtwächter hinüber zum ersten Raum: dem Autopsie-OP. Um seinen Hals hing eine Plastikkarte. Bernd griff sich die Karte und zog sie durch den Scanner neben der Tür. Nun ließ sich die Tür öffnen. Die Bewegungsmelder ließen die Neonröhren an der Decke aufblitzen. Sie flackerten kurz, dann stand ihr Licht und klatschte gegen die kahlen Kacheln und die Autopsietische aus Edelstahl mit angeflanschten Waschbecken. Zwei davon waren mit Rollen versehen. Die gesamte rechte Wand diente der Aufbewahrung der Toten. Quadratische Klappen, wohinter sich ausziehbare Stahlböden auf Schienen befanden. Bernd hatte sie schon mal offen gesehen. Sie erinnerten ihn an Schubladen. Schubladen für tote Menschen. Er strich mit den Fingerkuppen an ihnen entlang, während er zum Terminal an der gegenüberliegenden Wand lief. Er fühlte das kalte Metall. Es erregte ihn. Der Nachtwächter zog die Karte durch den Scanner. Das Gerät piepte als Zeichen, dass es die Karte gelesen hatte. Wie Bernd das Geräusch des Scanners hasste. Überlaut echote es in dem gekachelten Raum. Der Nachtwächter hatte in diesem Moment stets das Gefühl, dass die Toten sich in ihren dunklen Schlafzimmern unruhig drehten, gestört vom lauten Signal des Kartenscanners. Nervös beschleunigte er auf dem Rückweg seine Schritte. Ohne Vorkommnisse erreichte er die Tür und trat hinaus auf den Flur. Als sie sich automatisch verriegelte, sperrte sie gleichzeitig das obszön grelle Neonlicht aus und Bernd stand wieder im Dunkeln. Erleichtert atmete er tief ein und aus. Dann wandte er sich dem nächsten Raum zu. Aus den Augenwinkeln sah er die Gestalt und wandte den Kopf. Sie stand vor der Wand aus Glasbausteinen und rührte sich nicht. Bernd zwinkerte ein paarmal, um sicherzugehen, dass er nicht halluzinierte. Aus dem Büro schwebte Edith Piafs trotziger Gesang und verbreitete sich fächerförmig im Flur bis hin zur schimmernden Wand aus Glasbausteinen. Der Umriss war immer noch davor. Klein war er. Hochgezogene Schultern, der Kopf in schiefem Winkel nach vorn gebeugt. Die dürren Arme hingen kraftlos herab. Zwei rote Augen glommen im unsichtbaren Gesicht. »Was machen Sie hier? Wie sind Sie hier hereingekommen?« Das wollte Bernd fragen, aber es kam nur ein Krächzen aus seinem Mund. Der Grund dafür war, dass er die Gestalt zu erkennen glaubte. Nur aufgrund ihres Umrisses. Er war ihm vertraut. Schrecklich vertraut ... Seine Selbstsicherheit fiel von ihm ab wie Schlacke. Bernd nässte sich zum ersten Mal seit Jahren wieder ein. Er fühlte, wie es warm und feucht im Schritt wurde, und schämte sich. Seine Augen weiteten sich, das Kinn zitterte, der Atem wurde ihm ruckweise aus den Lungen gezogen und kondensierte vor seinem offenen Mund. In Panik machte er auf dem Absatz kehrt und rannte ins Büro. Dort verrammelte er die Tür mit dem Stuhl. Unter weinerlichem Gejammer kroch er unter den Tisch, über dem die Fensterscheiben auf den dunklen Flur blickten. »Non, je ne regrette rien!«, sang Edith Piaf und Bernd wiederholte es auf Deutsch: »Nein, ich bereue nichts!« Da war ein Kratzen über ihm. Ein Kratzen wie von Fingernägeln auf Glas. Finger, die an der Scheibe entlangstreiften. Jeder einzelne suchte ihn. Plötzlich schlug etwas gegen die Bürotür, der Stuhl wurde umgeworfen, die Glühbirne explodierte und Splitter regneten herab. Schlagartig wurde es dunkel. Und nachdem das Klirren des Glases verklungen war, sang Edith Piaf weiter. »Non, Rien de rien ...« Bernd fühlte die Kälte, die hereingekommen war. Sie biss ihm in die Haut und ließ die Nase tropfen. In der Brust wurde ihm kalt und sein urinnasser Penis fühlte sich an wie ein Eiszapfen. Und gemeinsam mit dem Frost war etwas gekommen, das schrecklicher war als die Kälte. Es trat mit langsamen Schritten auf knirschende Glassplitter. Bernds Zähne schlugen aufeinander. Er konnte nichts sehen, roch aber die Fäulnis, die von dem Ding ausging. Es hatte lange in einem feuchten Grab gelegen. Würmer krochen über Bernds Hände. Sie mussten aus dem fauligen Wesen gefallen sein. Er biss sich auf die Zunge, um nicht aufzuschreien. »Nein, ich bereue nichts!« Ein Leichenhemd rauschte und Bernd mutmaßte, dass sich das Wesen hinkniete und nun höchstens eine Armlänge vor ihm entfernt war. Der Gestank ließ ihn würgen. Er hielt die Luft an und dachte angestrengt nach: »Wieso sollte ich bereuen? Sie war doch krank. So sehr krank! Monatelang saß ich an ihrem Bett im Krankenhaus. Sie war regungslos, teilnahmslos. Mit keinem Zucken der Augäpfel unter den geschlossenen Lidern verriet sie mir, dass sie meine Stimme hörte. Das war nicht mehr sie – da waren nur piepsende Maschinen. Und Schläuche. Überall Schläuche. Die Ärzte gaben mir keine Hoffnung, dass sie je wieder erwachen würde.« Bernd liefen Tränen über das Gesicht. Edith Piaf weinte mit ihm. »Tag für Tag das ansehen zu müssen und niemanden zu haben, der meinen Schmerz teilt. Niemand, mit dem ich reden konnte, außer Ärzten und Krankenschwestern. Aber bei denen geht es nur um das Technische: Durch die künstliche Beatmung ist die Nase wund, wir müssen auf eine Atemmaske umstellen ... Es sammelt sich Wasser in der Lunge, wir müssen es abpumpen ... Bei der Magensonde hat sich Eiter gebildet, wir müssen es abschmieren ... Das war doch menschenunwürdig! Und dann kam die Nacht, in der alle wegschauten: Ärzte, Schwestern und Pfleger. Ich habe es gespürt damals. Alle schauten weg. Ich blieb stundenlang mit ihr allein ...« Ein hohles Stöhnen wehte den Gestank von feuchter Erde und Verwesung unter den Tisch. Bernds Brustkorb wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Rotz lief ihm in langen Schlieren aus der Nase. »Und da hab ich sie angeschaut. Lange angeschaut. Und irgendwann hab ich ihr Gesicht nicht mehr wiedererkannt. Die Krankheit hat sie ausgezehrt. War schlimm anzuschauen. Das war der Moment, als sie mir fremd geworden ist.« Es raschelte und das Ding kroch unter den Tisch. Bernd zuckte unkontrolliert, stieß sich mit den Füßen ab. Aber da war...