E-Book, Deutsch, 368 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
Reihe: Politik und Bildung
Kost / Massing / Reiser Handbuch Demokratie
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7344-1075-8
Verlag: Wochenschau Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 368 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
Reihe: Politik und Bildung
ISBN: 978-3-7344-1075-8
Verlag: Wochenschau Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Handbuch bietet eine umfassende politikwissenschaftliche Einordnung des Begriffs „Demokratie“. Die Autor*innen gehen der Frage nach, was die Demokratie als politisches System auszeichnet. Dazu werden theoretische Grundlagen ebenso berücksichtigt wie aktuelle Herausforderungen. Was macht das Demokratiemodell der Bundesrepublik Deutschlands im Vergleich zu anderen Typen moderner Demokratien aus? Wie kann Demokratie aussehen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?
Nachschlagewerk für Multiplikator*innen der politischen Bildung
Grundlagenwissen für Studium und Lehre
Fundierung von Entscheidungen in Politik und Verwaltung
Der Band ermöglicht das gezielte und systematische Erschließen einzelner Themenfelder mit Fokus auf zentralen Begriffen und Kernkonzepten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I Einleitung
Andreas Kost, Peter Massing, Marion Reiser
II Ideengeschichtliche Grundlagen der Demokratie
Bernd Ladwig
III Kernbegriffe und theoretische Grundlagen der Demokratie
Franziska Martinsen
IV Typen moderner Demokratie
Demokratische und nicht-demokratische Herrschaftsformen
Frank Decker
Direkte und repräsentative Demokratie
Andreas Kost
Konsens- und Mehrheitsdemokratie
Marcel Solar
Parlamentarische, präsidentielle und semipräsidentielle Regierungsformen
Frank Decker
V Das Demokratiemodell der Bundesrepublik Deutschland
Historische Grundlagen
Everhard Holtmann
Grundlegende Prinzipien
Everhard Holtmann
Das Institutionengefüge des bundesdeutschen Regierungssystems
Ray Hebestreit, Karl-Rudolf Korte
Interessen- und Politikvermittlung in der Demokratie: Zur Rolle von politischen Parteien und anderen intermediären Organisationen
Uwe Jun
Entscheidungsprozesse im Demokratiemodell
Helmar Schöne
Die Europäisierung der deutschen Demokratie
Emanuel Richter
Lokale und regionale Demokratie im deutschen Mehrebenensystem
Marion Reiser
Demokratie in der Einwanderungsgesellschaft
Sybille Münch
VI Die Zukunft der Demokratie
Postdemokratie
Christoph Held, Dirk Jörke
Algorithmen, Bots und Trolle: Vom Ende der demokratischen Öffentlichkeit, wie wir sie kennen
Ulrike Klinger
Demokratie in der Krise?
Wolfgang Merkel, Sascha Kneip
VII Der Zusammenhang von Demokratie, Politikdidaktik und politischer Bildung
Peter Massing
Ideengeschichtliche Grundlagen der Demokratie
Bernd Ladwig
1. über die Schwierigkeit, eine verbindende Idee der Demokratie zu finden, um deren Geschichte schreiben zu können
Die Demokratie gilt heute zwar als die einzige legitime Herrschaftsform, doch geschichtlich gesehen ist dies die Ausnahme und nicht die Regel. Erst in der Moderne sollte sich die Wertschätzung einer auf das ganze Volk gegründeten und durch tatsächliche Mitwirkung des Volkes geprägten politischen Ordnung so weit durchsetzen, dass selbst noch die faktischen Feinde der Volksherrschaft ihr verbal huldigen. Sie behaupten etwa, die wahre Demokratie gegen deren bürgerliche oder elitistische Entstellungen ins Recht zu setzen, auch wenn sie dazu die Zivilgesellschaft zügeln, die Medien kontrollieren und die Justiz an die Leine legen müssten. Damit ist indes auch schon ein zentrales Problem für eine Ideengeschichte der Demokratie berührt: Als „demokratisch“ wurden und werden so verschiedenartige politische und auch gesellschaftliche Ordnungen bezeichnet, dass fragwürdig scheint, ob überhaupt genügend Gemeinsamkeiten für einen diachronen Vergleich übrig bleiben. Gängig ist vor allem die Entgegensetzung einer klassischen, auf die griechische Antike zurückgehenden, und einer modernen Demokratieauffassung. Die klassische Konzeption sieht eine direkte Selbstregierung des Volkes in kleinräumigen Kontexten vor, die moderne eine Repräsentativverfassung für Flächenstaaten mit zumeist mehreren Millionen Einwohnern. In der klassischen Demokratie war politische Mitwirkung eine Bürgerpflicht, in der modernen gilt sie als Bürgerrecht. Zum Ideal der klassischen Demokratie gehörte die Konzentration der politischen Kompetenzen in den Händen einer Aktivbürgerschaft, im modernen Verständnis erscheint eine Teilung der Gewalten unabdingbar. Die klassische Demokratie setzte eine hochgradige Homogenität der Sitten, Überzeugungen und Interessen voraus, die moderne Demokratie soll dagegen für einen pluralistischen Interessenausgleich sorgen und faire Lösungen für das Faktum der Vielfalt finden. Und was die politische Theorie angeht, so fällt auf, dass so gut wie alle bedeutenden politischen Denker, von Platon und Aristoteles über Hobbes und Montesquieu bis hin zu Kant, die klassische Demokratie negativ bewerteten. Dies steht in klarem Kontrast zur eingangs erwähnten Wertschätzung der modernen Demokratie, die auch im Selbstverständnis der Politikwissenschaft als einer Demokratiewissenschaft ihren Ausdruck findet. Die politische Ideengeschichte befasst sich mit Vorstellungen, die sich auf grundlegende und zentrale Begriffe beziehen. Wenn „Demokratie“ ein solcher Begriff sein soll, so müssen sich die Verfechter unterschiedlicher Vorstellungen und auch Bewertungen auf einen wie immer vagen gemeinsamen Inhalt einigen können. Eine Bemerkung des jungen Karl Marx mag uns hier den Weg weisen: „Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eigenes Werk gesetzt.“ (Marx 1843/1976, 231). Marx wollte damit sagen, dass die demokratische Verfassung das ganze Volk als das anerkennt, was es der Sache nach schon immer war: der handelnde Urheber der sozialen Verhältnisse und der Regeln des Zusammenlebens. Andere Verfassungen, etwa die monarchische, in der dem Anspruch nach nur einer herrscht, oder die aristokratische, in der die Regentschaft als Sache weniger gilt, verweigern dem Volk zwar diese Anerkennung. De facto aber sind auch sie null und nichtig ohne die tatsächliche Unterstützung durch die Gesamtheit der Menschen, die am Gemeinwesen mitwirken, es durch ihre Arbeit aufrechterhalten und durch ihren Legitimitätsglauben in seiner herrschaftlichen Gestalt bestätigen. Erst recht nicht haltbar sind Vorstellungen wie das Gottesgnadentum der Herrscher, weil damit die letzte Verantwortung für die innerweltliche Ordnung auf außerweltliche Autoritäten abgewälzt wird. Demokratie ist für Marx von Aufklärung nicht zu trennen: In ihr erkennt und bejaht eine Gesamtheit von Menschen, dass sie selbst die Verhältnisse verantwortet, unter denen sie lebt. Demokratie ist also die ausdrückliche institutionelle Anerkennung der Tatsache, dass die Menschen selbst für die Regelung des Zusammenlebens zuständig sind, dass diese Regelung nicht nur Sache einer oder einiger Person(en) ist und dass sie der tätigen Teilnahme möglichst aller bedarf, um allgemeine Zustimmung zu verdienen. In dieser entscheidenden Hinsicht geteilter Zuständigkeit für das Zusammenleben spielen auch die verbleibenden Unterschiede unter den Menschen keine Rolle: Alle müssen als Gleiche an der Gestaltung ihres Gemeinwesens mitwirken können. Dessen Institutionen müssen jedem die Möglichkeit zur egalitären Teilnahme auf zumindest einer maßgeblichen Stufe des politischen Prozesses geben. Zur Demokratie gehören demnach die vier Merkmale der ausdrücklich akzeptierten innerweltlichen Verantwortung, der Inklusivität, der Gleichheit und der Partizipation. Jedes dieser Merkmale gibt aber auch Raum für unterschiedliche Auslegungen, die wiederum auch Antworten auf historisch-spezifische Herausforderungen sind. Aber wie auch immer die genauen Vorstellungen der Demokratie aussehen mögen, anerkannt und gelebt wurde diese nur in der Antike und dann wieder in der Moderne, die mit den Revolutionen in Nordamerika und Frankreich begann. Im Mittelalter mussten sich weltimmanentes und damit auch politisches Denken gegen eine dominante Jenseitsorientierung durchsetzen, was durch die Wiederentdeckung des Werkes von Aristoteles begünstigt wurde (dazu Roth 2003, 528 ff.). Doch selbst noch die Denker der Renaissance und der Aufklärung hielten fast einhellig an der negativen Bewertung der Demokratie fest; eine nennenswerte politische Mitwirkung des Volkes schien ihnen allenfalls im nicht demokratischen Rahmen einer republikanischen Mischverfassung vorstellbar. Dennoch sind in der Neuzeit wichtige Weichen für das heute vorherrschende und verwirklichte Demokratieverständnis gelegt worden. Als wesentlich sollten sich vor allem die Gewaltenteilung, die Zurückführung der politischen Ordnungen auf die Interessen der Individuen, die Menschenrechte und die Repräsentation erweisen. Aus diesem Grund bezieht die folgende kurze Darstellung und Diskussion neben der Antike und der Moderne auch die Neuzeit in die Ideengeschichte der Demokratie ein. 2. Demokratie in der Antike
Die Demokratieauffassung der alten Griechen, wie sie vor allem im Athen des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts verwirklicht wurde, weicht in allen vier Merkmalen von der heute für fast selbstverständlich gehaltenen ab. Besonders augenfällig ist der Unterschied im Verständnis demokratischer Partizipation. Den Bürgern stand kein Staatsapparat mit Berufspolitikern und bürokratischem Verwaltungsstab entgegen. Stattdessen sollten sie durch regelmäßige Anwesenheit im öffentlichen Raum und Mitwirkung an der Regierung buchstäblich ihr eigenes Gemeinwesen bilden. Sie mussten sich dazu immer wieder auf der Agora zum Zweck der Gesetzgebung versammeln und auch selbst die wichtigsten Ämter innehaben. Die als verpflichtend verstandene Mitverantwortung für das Regieren wurde den Bürgern durch das Los zugewiesen, das als die eigentlich demokratische Methode der Verteilung von Personen auf Machtpositionen galt (vgl. Buchstein 2009, Kapitel 1 und 2). Die Begrenzung der Amtszeiten auf ein Jahr und das Verbot mehrmaliger Besetzung durch dieselben Personen sorgten dafür, dass tatsächlich die allermeisten Bürger im Laufe ihres Lebens auch einmal an den Regierungsgeschäften teilhatten. Politische Gleichheit bedeutete bei den Athenern wesentlich Gleichheit vor dem Gesetz (Isonomia) und gleiches Rederecht in der Volksversammlung (Isegoria). Sie erstreckte sich nicht auf die privaten Haushalte, in denen die männlichen Vorstände über Frauen, Kinder und Sklaven herrschten. Während unter den Bürgern ein horizontales Verhältnis der Herrschaftsfreiheit bestand, war der jeweilige Haushalt (Oikos) ein anerkannter Ort der Ungleichheit durch Unterwerfung unter den Willen des Hausherrn. Die Bürger untereinander durften sich indes auch substanziell nicht allzu sehr voneinander unterscheiden. Weder große wirtschaftliche Ungleichheit noch deutlich divergierende Sitten und Gebräuche oder eine Pluralität weltanschaulicher Überzeugungen waren mit der radikalen Demokratie vereinbar. Die Gleichheit der Bürger bedeutete dennoch nicht Harmonie in jeder Hinsicht. Dies bezeugen Institutionen wie das Scherbengericht, das die Athener gebrauchten, um unliebsame oder zu mächtig gewordene Mitbürger für zehn Jahre aus der Stadt zu verbannen. Den Betroffenen standen dagegen auch keine Rechtsmittel zur Verfügung, wie überhaupt (subjektive) Rechte, die Individuen oder Minderheiten vor einer Tyrannei der Mehrheit hätten schützen können, noch unbekannt waren. Die direkte Demokratie...