Kreiser | Geschichte der Türkei | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 2758, 130 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Kreiser Geschichte der Türkei

Von Atatürk bis zur Gegenwart
2. Auflage 2020
ISBN: 978-3-406-75775-4
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Von Atatürk bis zur Gegenwart

E-Book, Deutsch, Band 2758, 130 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-75775-4
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die moderne Türkei entstand auf den Trümmern des Osmanischen Reiches. Nach der Gründung der Republik im Jahr 1923 entwickelte sich das Land in wenigen Generationen zum bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Staat der Region. Klaus Kreiser beschreibt die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes und erklärt die wichtigsten innen- und außenpolitischen Spannungsfelder, die das Land heute in Atem halten: der wachsende Einfluss des Islams, der Umgang mit Minderheiten und Flüchtlingen, die Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg sowie das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn.

Die Republik Türkei entstand 1923 auf den Trümmerndes Osmanischen Reiches und machte sich sogleichkulturell, wirtschaftllich und politisch auf den Weg nach Europa. Klaus Kreiser beschreibt, wie das Vielvölkerreich in kürzester Zeit zu einem Nationalstaat umgestaltet wurde und welche Spannungen sich daraus ergeben. Bis heute sorgt die einmalige Stellung der Türkei zwischen Orient und Okzident – als unbestrittener Bestandteil der islamischen Welt und zugleich eingebunden in den Westen – für vielfältige Konflikte, im Land selbst, aber auch gegenüber Nachbarn und Partnern.

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1. Das Osmanische Reich in einer Nussschale?
Die amtliche Eigenbezeichnung Türkei bzw. Türkiye ist neu, obwohl der Name Turchia und davon abgeleitete Formen seit den Kreuzzügen außerhalb des Landes allgemein gebräuchlich waren. Die vorrepublikanische Türkei führte in staatlichen Dokumenten, auf Geldscheinen, Münzen und Briefmarken die Benennung «Erhabener Osmanischer Staat» (Devlet-i Aliye-i Osmaniye). Nach der kurzlebigen Variante Türkiya entschied man sich mit der Schriftreform von 1928 für Türkiye, eine Form, die zwischen einer arabisierenden Wortbildung und dem französischen Turquie vermittelt, das seit jeher als gleichbedeutend mit «Osmanisches Reich» verwendet wurde. Die Türkei war das erste islamische Land, das die Staatsform einer Republik (aus arab. Cumhuriyet, bis 1938 in der Form Cümhuriyet) annahm; ihr voller offizieller Name ist deshalb Türkiye Cumhuriyeti, abgekürzt T. C. Alle Bewohner dieser Republik waren im Sinne der Verfassung von 1924 «Türken», wobei ihre «Gleichheit vor dem Gesetz» bis heute eng ausgelegt wird. So verweigert das Verfassungsgericht beispielsweise Angehörigen von Minderheiten die Führung von Vor- und Nachnamen in ihren angestammten Sprachen (wie Kurdisch oder Aramäisch). Die am 29. Oktober 1923 in Ankara ausgerufene Republik Türkei stellt sich dem Betrachter der Landkarte als ein Staat dar, der in größtenteils natürlichen Grenzen zwischen dem Schwarzen Meer, der Ägäis und dem Mittelmeer eingeschlossen ist. Manche Historiker erkennen in der Republik ein Osmanisches Reich en miniature, eine Art Kondensat nicht nur seiner Menschen, sondern auch von deren Sitten und Gebräuchen; andere sehen in ihr den nationalen Torso des ehemaligen Vielvölkerstaates. Entsprechend uneinheitlich sind die Antworten auf die Frage, ob auf dem Boden Anatoliens ein Schmelztiegel der religiösen und sprachlichen Gruppen entstanden ist oder ob wir vielmehr ein Mosaik aus den (nur sprichwörtlichen) «72 ½ Volksgruppen» vor uns haben. Mit einer Fläche von 783.562 km² übertrifft die heutige Türkei sowohl das Staatsgebiet Frankreichs (674.843 km²) als auch Spaniens (504.645 km²). Angesichts der Größe der asiatischen Türkei erscheint der nach den Balkankriegen (1912/13) verbliebene europäische Anteil (3,04 %), wenn man allein die geographische Ausdehnung im Auge hat, als eher unbedeutend. Die Türkei hat seit 1923 mit Ausnahme des 1939 beigetretenen, in Europa als «Sandschak von Alexandrette» (Iskenderun) bezeichneten Gebiets keine territorialen Veränderungen erlebt. Die Bevölkerung dagegen wandelte sich in den Jahrzehnten nach der Gründung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht radikal. Die junge Republik zählte etwa 14 Millionen Einwohner und hatte mit ca. 18 Menschen pro Quadratkilometer eine geringere Bevölkerungsdichte als alle europäischen Staaten. Nach einem halben Jahrhundert (1970) hatte die Türkei mit 34,8 Millionen Einwohnern Spanien, nach weiteren 25 Jahren (1995) mit 61,9 Millionen auch Italien überholt. Im Jahr 2010 ermittelte die amtliche Zählung 73.722.938 Bürger. Trotz seiner komplexen ethnisch-linguistischen Gemengelage erwies sich Anatolien letztlich als ein Kulturraum, der etwa 4 Millionen Einwanderer aus dem Kaukasus, von der Krim, aus Kreta und den Balkanländern nach mehreren Generationen zu Türken machte. Im historischen Gedächtnis der Bevölkerung bleibt aber als Ergebnis von Vertreibungen und Bevölkerungsaustausch mit Griechenland die Dreiteilung in «Flüchtlinge», «Ausgetauschte» und «Einheimische» haften. Flüchtlinge und «Ausgetauschte» bilden mit ihren Nachkommen etwa ein Drittel oder Viertel der heutigen Bevölkerung. Nach den Kriegen, die der Osmanische Staat zwischen 1911 und 1918 und danach das Regime der Großen Nationalversammlung von Ankara zwischen 1919 und 1922 fast ununterbrochen führten, war die Bevölkerung Anatoliens von geschätzten 13,7 Millionen auf 11,2 Millionen gesunken. Der Verlust von 2,5 Millionen Menschen in Anatolien verteilte sich folgendermaßen: Etwa zwei Drittel wurden Opfer von Kriegen, Epidemien, aber auch von mörderischen Verfolgungen, ein weiteres Drittel verließ das Land als Flüchtlinge oder im Rahmen des Bevölkerungsaustausches mit Griechenland. 1923 waren von den einst 2,8 Millionen Nicht-Muslimen (20 %) nur 300.000 im Lande geblieben. In Istanbul lebten vor dem Krieg 910.000 Menschen, davon 350.000 Nichtmuslime. Für 1920 werden Zahlen von einer Million bis 1,2 Millionen genannt. Zu den Einheimischen und aus den osmanischen Ländern gekommenen Flüchtlingen drängten sich im November 1920 allein 167.000 «Weiße Russen», die vor der Roten Armee geflohen waren. Muslimische Einwanderer konnten das demographische Defizit nur zum Teil ausgleichen. Schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten Einschüchterungen und Anschläge auf Griechen im Ägäis-Raum dazu geführt, dass annähernd 150.000 von ihnen die Osmanischen Länder verließen. Ihre Häuser und Grundstücke wurden muslimischen Flüchtlingen aus Makedonien und dem Kosovo übergeben. Diese Form von «demographic engineering» konnte als Vorzeichen für die Massaker an den Armeniern und Assyrern des anatolischen Ostens gesehen werden. Die armenische Katastrophe von 1915–1916 bedeutete die Vernichtung eines Drittels der armenischen Bevölkerung und die «ethnische Säuberung» von sechs Ost-Provinzen, in denen sie einen erheblichen Prozentsatz der Bevölkerung gebildet hatten. Ein großer Teil wurde durch Zwangsheiraten und Adoptionen Minderjähriger an die Mehrheitsbevölkerung assimiliert. Nach dem Waffenstillstand (Oktober 1918) scheiterten alle Versuche der Kriegsgewinner, die enteigneten und vertriebenen Armenier nach Anatolien zurückzuführen. Lediglich in Kars und in dem von alliierten Truppen kontrollierten Kilikien gelang es vorübergehend, Armenier bis Anfang 1919 wieder anzusiedeln. Von den etwa 120.000 Personen verließen mindestens 50.000 diese Landesteile vor bzw. unmittelbar nach einem türkisch-französischen Abkommen von 1920. Die Einladung der Kemalisten im Oktober 1922 an alle einheimischen Christen, zurückzukehren, war eine leere Geste. Einen deutlich spürbaren demographischen Einschnitt löste der Vertrag von Lausanne (24. Juli 1923) aus, der eine Vereinbarung über den Austausch der christlichen Bevölkerung Anatoliens mit den Muslimen Griechenlands mit dem Stichtag 1. Mai 1924 einschloss. Von 1912 bis etwa Oktober 1924 verließen rund 400.000 Muslime Griechenland, während 1,2 Millionen Orthodoxe aus der Türkei auswanderten. Von Letzteren kamen 627.000 aus Kleinasien, 256.000 aus Ost-Thrakien, 182.000 vom Schwarzmeerrand (Pontos) sowie 40.000 aus Istanbul, die übrigen aus nichttürkischen Gebieten wie dem Kaukasus, der Ukraine und von der Krim. Nach den Kriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Bevölkerung unterernährt und die Kindersterblichkeit dramatisch hoch. Der Kampf gegen Malaria und Syphilis schien aussichtslos. Im Westen Anatoliens wurden beim Rückzug der griechischen Besatzungsmacht mehr als hunderttausend Häuser zerstört, beträchtlich waren auch die Verluste an Tieren. Die «Ausgetauschten» wurden, zumal sie zu einem großen Teil «nur» Muslime (wie Pomaken, Albaner und Kreter) und keine «echten» Balkantürken waren, nicht überall in Anatolien mit offenen Armen empfangen. Nicht selten scheiterte die Zuweisung von Wohnsitzen und Ackerland der früheren christlichen Bewohner daran, dass lokale Notabeln längst die Hand auf wertvolle Grundstücke gelegt hatten. In vielen Fällen passte das Land nicht zu den Erfahrungen der Neuankömmlinge, von denen einer klagte: «Die Bergbewohner siedelte man in der Ebene an, die aus der Ebene in den Bergen.» Die jüdische Bevölkerung der Republik zählte 1927 81.872 Personen (zu 95 % Sephardim). Da immer mehr türkische Juden auswanderten, zunächst nach Israel, wohin allein 1949 26.306 gingen, später nach Europa und in die USA, verringerte sich ihre Zahl fortlaufend. Seit den späten 1950er Jahren verzeichnet die Türkei zunächst temporäre, dann sich verfestigende Bevölkerungsverluste durch Emigration. Die Zahl der nach Deutschland ziehenden «Gastarbeiter» erreichte 1974 mit etwa 650.000 Menschen einen ersten Höchststand. Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, dem Nahen Osten und dem subsaharischen Afrika einwandern, nehmen seit den 1980er Jahren stetig zu. Allein zwischen 1996 und 2008 nahm die türkische Polizei etwa 800.000 Personen wegen Verstößen gegen Aufenthaltsbestimmungen fest. Der Bevölkerungsaufbau der Gegenwart unterscheidet sich stark von dem der Gründerjahre ...


Klaus Kreiser ist Professor em. für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur.



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