Buch, Deutsch, 476 Seiten, KART, Format (B × H): 130 mm x 200 mm, Gewicht: 580 g
Zehn autobiographische Versuche
Buch, Deutsch, 476 Seiten, KART, Format (B × H): 130 mm x 200 mm, Gewicht: 580 g
ISBN: 978-3-939045-19-9
Verlag: Verlag Graswurzelrevolution
Autoren/Hrsg.
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Die zehn Fäden -KriegTheaterUniversitätenNazismusAmerikaJudenItalienDDRMusikReligion- und das lange Band der Geschichte:Krippendorff – „What’s in a name?"Namensregister
Das Unternehmen wird entschuldigtDie Frage: ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, für den höflichsten aller Menschen.“ (Goethe) Aber ist es nicht im Gegenteil geradezu unhöflich, mit dem Anspruch aufzutreten, andere Menschen, ZeitgenossInnen, gar Nachgeborene sollten sich für sie interessieren, ohne dass nachweisbar ein öffentliches Interesse geltend gemacht werden kann? Hat doch jeder seine und jede ihre Biographie: Was sollte an der eigenen so Besonderes sein, um Leserinnen und Lesern guten Gewissens die Investition von Zeit und Geld für ein Buch zuzumuten? Die Frage so stellen heißt, sie negativ zu beantworten - wäre da nicht der Einwand Me-tis, dass das Aufschreiben der eigenen Geschichte uns befähigt, sorgfältiger, bewusster, auch sparsamer, umsichtiger, schonender mit dem eigenen Leben umzugehen: Wir haben nur dieses eine und darum ist die Verantwortung groß. In der Reflexion unserer eigenen Geschichte legen wir Rechenschaft ab. Me-ti meint: Rechenschaft vor uns selbst. Aber dazu bedürfte es nicht der Öffentlichkeit, welche Geschriebenes und Buchgedrucktes zum Adressaten hat. Also vor wem? Vor der Mit- oder der Nachwelt? Zumindest Letzteres enthält folgenreiche Annahmen - unter anderem die, dass es für den Biographen eine Nachwelt gebe, von der erinnert oder in der nach seinem Tod erinnert aufgehoben zu werden ihm nicht gleichgültig ist. Die meisten Menschen würden dem zustimmen. Niemandem ist seine postmortale ‚Existenz‘ wirklich gleichgültig. Auch der radikalste Nihilist wäre empört bei dem Gedanken, sein toter Körper würde in der nächsten Mülldeponie entsorgt oder streunenden Hunden zum Fraß vorgeworfen werden. Aber denken wir dabei auch über die Voraussetzungen nach, die einer Sorge um den Platz und das Urteil in der Erinnerung der Nachgeborenen zugrunde liegen? Da öffnen sich Abgründe von Fragen, Fragen nach unserem Tod und einem Danach, die nirgends so bohrend gestellt werden wie von Hamlet in seinem großen Sein-oder-Nichtsein-Monolog:To die, to sleep;To sleep! Perchance to dream - ay, there’s the rub:For in that sleep of death which dreams may come,When we have shuffled off this mortal coil,Must give us pause - Erinnerung ist alles - alles ist Erinnerung. Die Ungewissheit über das Danach hat zur Bedingung die Gewissheit des Davor. Nur weil wir das Eine besitzen, können wir uns um das Andere Sorgen machen, wobei die Sorge in dem Maße erträglicher wird, in dem die Erinnerung lebendig ist. Darauf verweist der Philosoph Hans Jonas: Erinnerung ist die Bedingung der Möglichkeit von bewusster Gegenwart - und schließlich auch von Zukunft des Menschengeschlechts, das selbst die Summe aller seiner Mitglieder ist: Diese gehen in ihm auf als Erinnerte und haben insofern Dauer. Die Geschichte der Menschheit ist deswegen erzählbar, weil alle, die je gelebt haben, jede und jeder ein Interesse daran hatten, Spuren zu hinterlassen: Von ihren Gräbern bis zu Artefakten, von Monumenten bis zur schriftlichen Dokumentation ihrer Existenz. Die absichtsvoll hinterlassenen Spuren, und seien sie noch so mikroskopisch gering, sind Zeugnisse des Trotzes gegen die Angst der Ungewissheit, „Was im Todesschlaf für Träume kommen können, / Wenn wir den Lärm des Irdischen los sind.“ Das Individuum hat keine zeitlich unbegrenzte Zukunft, es ist sterblich und endlich. Unsterblich hingegen ist das Menschengeschlecht, dem wir alle angehören (sofern es sich nicht selbst ein - technisch inzwischen möglich gewordenes - Ende setzt). Für das Menschengeschlecht gilt die Zukunftsgewissheit aufgrund seiner kollektiv erinnerten und tagtäglich fortgeschriebenen Vergangenheit. In dieser Unsterblichkeit, dem „kulturellen Gedächtnis“ (Assmann), ist auch letztlich jedes Individuum als Erinnertes aufgehoben, indem es in dieses „Gewebe“ seine eigenen „Lebensfäden geschlagen“ hat (Arendt). Kant: „Das Vermögen, sich vorsätzlich das Vergangene zu vergegenwärtigen, ist das Erinnerungsvermögen und das Vermögen, sich etwas als zukünftig vorzustellen, das Vorhersehungsvermögen. Beide gründen sich, sofern sie sinnlich sind, auf die Assoziation der Vorstellungen des vergangenen und künftigen Zustandes des Subjekts mit dem gegenwärtigen, und obgleich nicht selbst Wahrnehmungen, dienen sie zur Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit, das, was nicht mehr ist, mit dem, was noch nicht ist, durch das, was gegenwärtig ist, in einer zusammenhängenden Erfahrung zu verknüpfen. Das Zurücksehen aufs Vergangene (Erinnern) geschieht nur in der Absicht, um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen.“ Soweit zur nachträglichen Rechtfertigung dieses autobiographischen Unternehmens.Biographik hat gegenwärtig Konjunktur. Das hängt untergründig zusammen mit den aktuellen Verunsicherungen, die „das Voraussehen des Künftigen“ mehr als in ruhigen Zeiten umsorgen. Trotzdem muss jeder, der sich da hervorwagt und in diesem lauten Chor seiner eigenen Lebensstimme schriftliches Gehör zu verschaffen versucht, dafür gute Gründe ins Feld führen. Oder auch nicht: Jedes gelebte und reflektierte Leben ist, wie Leopold von Ranke es für historische Epochen sagte, „unmittelbar zu Gott“ und hat einen Anspruch auf Gehör. Nicht im Sinne prätendierter Wichtigtuerei, sondern im Sinne menschenrechtlich begründeter Würde, der Einmaligkeit jeder Existenz - und zugleich ihres Exemplarischen, ihres zeitgeschichtlich, gesellschaftlich und kulturell Typischen. Jeder verkörpert in seiner Person die Summe aller historischen, soziologischen, ethnischen, genetischen und unzähliger anderer Komponenten, aus denen sich Gesellschaft zusammensetzt. Wenn Friedrich Schiller den Hörern seiner berühmten Antrittsvorlesung am 26. Mai 1789 zurief, ihre Gegenwart hier und jetzt sei „das Resultat vielleicht aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten: die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses einzige Moment zu erklären“ - so gilt das auch für jeden Einzelnen überall und zu jeder Stunde, und eben auch für jedes individuelle Leben, für jede Biographie. Wir sind, ein jeder und eine jede, ein buntes Kompositum aus einer Fülle von Einflüssen, Erfahrungen und Zufällen, von Erbgut und Traditionen, von Umwelt und Erziehung, von Lebensfäden, die in ihrer dichten Verschlingung ein überaus komplexes Gewebe bilden, das wenigstens teilweise zu entflechten eine analytisch dankbare und zumindest subjektiv spannende Unternehmung ist. Im Prozess der (heute in der Literaturwissenschaft modischen) „Dekonstruktion“ dieses Ganzen wird sehr schnell deutlich, dass es viel mehr ist als die Summe seiner Teile. Um im Bilde zu bleiben: Noch jeder Faden besteht aus individuell gedrehten und gesponnenen, gezogenen und gezwirbelten Fasern mit zusätzlich eigener Farbe und ist darum bereits selbst einmalig. Die Metapher des Fadens suggeriert aber auch eine Kontinuität, in die alle Menschen eingespannt sind, Bindungen an Vergangenes und Verlängerung in Zukünftiges. Als Individuen sind wir Endresultate, die zu erklären „die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein“, als Angehörige von Kollektiven aber sind wir vorübergehende Erscheinungen, und die jeweils Jüngeren spinnen bereits zu Lebzeiten der Älteren die Fäden weiter für ihre eigene, von den Letzteren nur ahnbare Zukunft. Die Metapher des Fadens und des aus ihm gewebten Tuches ist eine Art hermeneutische Vereinfachung dieses Versuches einer autobiographischen Entflechtung. Im Unterschied zum „Schälen einer Zwiebel“ oder zum finalen „Rosebud“ in Orson Welles’ „Citizen Kane“ verspricht sie keine Enthüllungen und keinen verdrängten oder verborgenen Kern. Wenn diese „Aufzeichnungen der Geschichte eines einzelnen Menschen“ (Me-ti) im breiten Strom der autobiographischen Literatur der Gegenwart mit einem bescheidenen Anspruch von Originalität auftreten, dann ist es ihre Form: Es sind hier zehn Lebensfäden, die das Gewebe des Ganzen ausmachen, zehn Themen, zehn Facetten, zehn Stränge, die die Masse der Alltäglichkeiten zusammenhalten und in ihrer Kombination so etwas wie ein Muster ergeben, das wir auch Identität nennen können. Und da jedes dieser Themen den ganzen erzählten Menschen mal mehr, mal weniger, aber doch lebenslang in Anspruch genommen hat, verdient jedes seine eigene Chronologie, seine Genesis und seine Geschichte. Das heißt, es musste zehn Mal wieder von möglichst weit vorn, von der ersten Erscheinung des später Bedeutungsvollen, angefangen werden: Sozusagen zehn einzelne Biographien. Deren Vorgeschichte beginnt in meinem Falle bereits im 14. Jahrhundert und hebt am Ende die individuellen Lebensfäden im Gewebeband der Sippen- wenn nicht gar der Nationalgeschichte auf - zugegeben, eher etwas für HistorikerInnen und FamilienforscherInnen, aber auch zugegeben, dass mir, dem Nachfahren, diese genealogische Erzählung aus den verstreuten Akten zu rekonstruieren ein besonderes Vergnügen gemacht hat: Einblicke in die deutsche Geschichte aus kleinster Perspektive zum Beispiel wie der eines Zolleinnehmers.„Wo beginnt die Geschichte? Wo sind die Quellen unseres individuellen Lebens? Welche versunkenen Abenteuer und Leidenschaften haben unseren Wesen geformt? Woher kommt die Vielfalt widerspruchsvoller Züge und Tendenzen, aus denen sich unser Charakter zusammensetzt? Ohne Frage, wir sind tiefer verwurzelt, als unser Bewußtsein es wahrhaben will. Niemand, nichts ist zusammenhanglos.“ So beginnt Klaus Mann seinen faszinierenden Lebensbericht (Der Wendepunkt), ohne dass er, der hochsensible Beobachter des Selbst und seiner ZeitgenossInnen, der bis ins Schmerzhafte vordringende neurotische Seelenanalytiker, das Mysterium, Erbe vergangener Generationen zu sein, aufzulösen vermochte; kann man es überhaupt? Auch ich, mit unvergleichlich entschieden bescheideneren Ansprüchen, bin in dieser Familiengeschichte auf kein deutliches genetisches Muster gestoßen - vielleicht das Thüringisch-Protestantische, das Kultur- und Kleinbürgerliche, das Pragmatische, auch eine fehlende künstlerische Ader (obwohl wir in der Person meines Großvaters mütterlicherseits einen begabten Maler in der Familie hatten) und eine wenig entwickelte ‚Leichtigkeit des Seins‘. In jedem Falle handelt es sich um eine sehr deutsche Sippengeschichte, Biographie und wohl auch Psychologie, zu der ich mich gerne und bewusst bekenne; sie kommt aber mit zwei „eingeheirateten“ Nicht-Deutschen in der kommenden Generation teilweise an ihr Ende: Bruder Klaus heiratete eine muslimische Pakistani und hat zwei Kinder aus dieser Ehe, ich eine tschechische Jüdin mit ebenfalls zwei Kindern - ein Mikrokosmos tendenzieller Weltbürgerlichkeit.Im Nachhinein hoffe ich, dass sich diese Erzähl- und Berichtform bewährt und zu einer wenigstens teilweisen Entflechtung des Gewebes geführt hat - nicht die Zahl zehn, wohl aber das Experiment der Methode.