Krzyzanowski / Krzyzanowski | Der Club der Buchstabenmörder | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Krzyzanowski / Krzyzanowski Der Club der Buchstabenmörder


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03820-919-5
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-03820-919-5
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wortspieler und Stilkünstler: Ein großer Unbekannter der russischen Moderne Der

Club der Buchstabenmörder ist eine Geheimgesellschaft im Moskau der

1920er Jahre. Jeden Samstag treffen sich die Mitglieder in einem Raum

voller leerer Bücherregale. Sie erzählen einander Geschichten, eine

phantastischer als die andere, aber nichts darf auf Papier gebannt

werden – Buchstaben sind Ideengefängnisse und müssen zerstört,

Manuskripte verbrannt werden. Darüber sind sich alle einig, doch das

gegenseitige Misstrauen wächst, die Atmosphäre der Treffen wird

zunehmend unheimlicher.

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I »Blasen über einem Ertrunkenen.« »Wie bitte?« Ein dreieckiger Fingernagel glitt mit flinkem Glissando über die gewölbten Buchrücken, die vom Bücherregal auf uns heruntersahen. »Ich sage, Blasen über einem Ertrunkenen. Man muss nur kopfüber zur tiefsten Stelle eines Gewässers hinuntertauchen, und schon treibt der Atem in Blasen nach oben: Die Blasen steigen auf und zerplatzen.« Der da gesprochen hatte, nahm noch einmal die Reihen schweigender Bücher in Augenschein, die sich entlang der Wände eng zusammendrängten. »Nun werden Sie sagen, auch eine Blase kann die Sonne einfangen, das Blau des Himmels, das grüne Gewoge der Küste. Mag sein. Aber was kann derjenige, der schon am Grund des Gewässers liegt, damit anfangen?« Unversehens, als sei er auf irgendein Wort gestoßen, stand er auf, umfasste seine auf dem Rücken zusammengelegten Ellbogen mit den Fingern und begann, zwischen Regal und Fenster hin und her zu schreiten, wobei er mir bisweilen prüfend in die Augen sah: »Ja, merken Sie sich, mein Freund: Wenn ein Buch mehr im Regal steht, dann deshalb, weil es einen Menschen weniger im Leben gibt. Und wenn ich mich zwischen dem Regal und der Welt entscheiden muss, dann gebe ich der Welt den Vorzug. Die Blasen zum Tageslicht, man selbst in die Tiefe? Nein, ergebensten Dank.« »Aber Sie haben doch …«, versuchte ich zaghaft einzuwenden, »… Sie haben doch den Menschen früher so viele Bücher gegeben. Wir alle lesen seit jeher Ihre …« »Früher ja. Aber jetzt nicht mehr. Seit zwei Jahren schon: kein einziger Buchstabe.« »Aber Sie bereiten doch gerade, so schreibt und sagt man jedenfalls, ein neues, großes …« Er hatte die Angewohnheit, einen nicht ausreden zu lassen: »Ob es groß wird, weiß ich nicht. Aber neu – das ja. Nur werden diejenigen, die das schreiben und sagen, von mir, das weiß ich gewiss, kein einziges typographisches Zeichen mehr bekommen. Verstehen Sie?« Meine Miene drückte offenbar kein Verständnis aus. Er zögerte einen Augenblick, ging dann auf einmal zu seinem leeren Sessel, rückte ihn ein Stück näher zu mir heran, setzte sich, beinahe Knie an Knie mit mir, und blickte mich forschend an. Eine Sekunde nach der anderen dehnte sich in dem Schweigen zu quälender Länge. Er suchte etwas in meinem Gesicht, wie man einen vergessenen Gegenstand in einem Zimmer sucht. Ich erhob mich abrupt. »Ihre Samstagabende – das ist mir aufgefallen – sind immer belegt. Der Tag neigt sich dem Ende zu. Ich werde jetzt gehen.« Kräftige Finger packten meinen Ellbogen und hielten mich zurück. »Es stimmt: Die Samstage halte ich – das heißt, halten wir unter Verschluss vor den Menschen. Aber heute werde ich Ihnen einen vorführen: einen Samstag. Bleiben Sie! Allerdings erfordert das, was Sie zu sehen bekommen, gewisse Vorkenntnisse. Solange wir allein sind, werde ich eine kurze Zusammenfassung geben. Ihnen ist wohl kaum bekannt, dass ich in der Jugend ein Zögling der Armut war. Meine ersten Manuskripte zu verpacken und zu verschicken, kostete mich meine letzten Pfennige, und alle kamen sie unweigerlich zurück, in meine Schubladen – zerrissen, beschmutzt und von Stempelabdrucken versehrt. Außer dem Schreibtisch, der als Friedhof für meine Einfälle diente, befanden sich in meinem Zimmer ein Bett, ein Stuhl und ein Bücherregal – vier lange Bretter über die gesamte Länge der Wand, die sich unter der Last der Buchstaben bogen. Gewöhnlich hatte der Ofen kein Brennholz und ich nichts zu essen. Aber zu Büchern hatte ich ein beinahe religiöses Verhältnis, wie es manch einer zu Ikonen hat: sie zu verkaufen … nicht einmal der Gedanke wäre mir gekommen – bis, bis … ein Telegramm ihn mir aufzwang: Mutter Samstag verstorben. Anwesenheit erforderlich. Kommen Sie. Das Telegramm überfiel meine Bücher am Morgen; gegen Abend waren die Tablare leer, und ich konnte meine Bibliothek, nunmehr in drei, vier Banknoten verwandelt, in die Seitentasche stecken. Der Tod derjenigen, die dir das Leben gab – das ist eine sehr ernste Sache. Das ist für allezeit und für jedermann wie ein schwarzer Keil im Leben. Nach den Trauertagen kehrte ich – über tausend Werst – zurück zur Schwelle meiner elenden Behausung. Am Tag meiner Abreise hatte ich gar nicht recht bemerkt, was um mich herum vorging – erst jetzt empfand und erfasste ich unwiderruflich die Wirkung der leeren Bücherregale. Ich erinnere mich, dass ich ablegte, mich an den Tisch setzte und mein Gesicht der auf den vier schwarzen Brettern schwebenden Leere zuwandte. Obwohl die Bücherlast von ihnen genommen war, waren die Bretter noch immer gebogen, gerade so, als würde auch die Leere auf ihnen lasten. Ich versuchte, meine Augen auf etwas anderes zu richten, doch in meinem Zimmer gab es – wie ich schon sagte – nur die Tablare und das Bett. Ich kleidete mich aus, legte mich hin und versuchte, die Depression durch den Schlaf zu überwinden. Nein – mein Empfinden, das mich nur kurz hatte rasten lassen, weckte mich: Das Gesicht dem Regal zugewandt, lag ich da und sah das Mondlicht zitternd über die nackten Tablare kriechen. Ein kaum wahrnehmbares Leben – in zaghaften Ansätzen – schien dort in der Bücherlosigkeit zu erwachen. Natürlich war das alles ein Spiel meiner überspannten Nervensaiten – und als der Morgen ihre Stimmwirbel lockerte, betrachtete ich gelassen die vom Sonnenlicht übergossenen leeren, durchhängenden Tablare, setzte mich an den Tisch und nahm meine übliche Arbeit wieder auf. Ich musste etwas nachschlagen: Meine linke Hand griff mit einer automatischen Bewegung nach den Buchrücken: An ihrer statt war Luft: nichts als Luft. Verdrossen starrte ich auf die mit Schwärmen von Sonnenstäubchen erfüllte Bücherlosigkeit und versuchte, mein Gedächtnis anzustrengen und die Seite und die Zeile zu sehen, die ich brauchte. Doch die imaginären Buchstaben schlingerten in dem imaginären Buchdeckel hin und her, und anstelle der gesuchten Zeile fand ich einen bunten Haufen Wörter, die Zeile zersprang und zerfiel in Dutzende Varianten. Ich suchte mir eine davon aus und fügte sie vorsichtig in meinen Text ein. Am frühen Abend, wenn ich mich von der Arbeit ausruhte, pflegte ich mich gerne auf dem Bett auszustrecken, einen schweren Band Cervantes in der Hand, und mit den Augen von Episode zu Episode zu springen. Das Buch war nicht da: Ich erinnerte mich gut – es hatte in der linken Ecke des unteren Tablars gestanden, mit seinem schwarzen Leder und den gelben Eckverzierungen an das rote Saffian von Calderóns autos geschmiegt. Mit geschlossenen Augen versuchte ich, mir das Buch vorzustellen, gleich hier – zwischen Handfläche und Auge (wie ein verlassener Liebhaber auch weiterhin der Geliebten begegnet – mit fest geschlossenen Lidern und konzentrierter Willenskraft). Es gelang. In Gedanken blätterte ich eine Seite nach der anderen um; dann ließ mein Gedächtnis versehentlich einige Buchstaben fallen – sie gerieten durcheinander und entglitten meinem Sehfeld. Ich versuchte sie zurückzurufen: Einige Wörter kehrten zurück, andere nicht; daraufhin begann ich, die Lücken zuwachsen zu lassen, eigene Wörter in die Wortzwischenräume einzusetzen. Als ich, müde von diesem Spiel, die Augen öffnete, war der Raum erfüllt von der Nacht, die mit satter Schwärze sämtliche Ecken des Raumes und der Tablare übertünchte. Ich hatte damals viele Mußestunden – und immer öfter wiederholte ich das Spiel mit der Leere meiner bücherlosen Tablare. Tag für Tag mehr wurden sie überwuchert mit Phantasmen, die aus Buchstaben gemacht waren. Ich hatte weder das Geld noch den Wunsch, Buchhändler oder Antiquariate aufzusuchen und Buchstaben zu holen. Ich nahm sie – Buchstaben, Wörter, Sätze, ganze Hände voll davon – fortwährend aus mir selbst: Ich nahm meine Ideen, machte in Gedanken einen Abzug davon, illustrierte sie, kleidete sie in sorgfältig erdachte Einbände, stellte akkurat eine Idee zur anderen, ein Phantasma zum anderen und füllte so die gefügige Leere, die auf ihren schwarzen Brettern alles aufnahm, was ich ihr gab. Einmal, als ein zufälliger Besucher mir ein Buch zurückbrachte, das ich ihm geliehen hatte, und es auf das Regal stellen wollte, hielt ich ihn zurück: ›Alles voll.‹ Mein Besucher war genau so ein Habenichts wie ich: Er wusste, dass Verschrobenheit das einzige Vorrecht halbverhungerter Dichter ist … Er musterte mich bedächtig, legte das Buch auf den Tisch und fragte, ob er mir sein Poem vortragen dürfe. Nachdem ich die Tür hinter ihm und seinem Poem geschlossen hatte, steckte ich das Buch hastig weg: Die vulgären goldenen Buchstaben des gewölbten Buchrückens störten mein gerade erst aufgenommenes Spiel mit den Ideen. Parallel dazu führte ich die Arbeit an meinen Manuskripten fort. Ein neues Bündel, das ich an die alten Adressen geschickt hatte, kam zu meiner aufrichtigen Verwunderung nicht zurück: Die Sachen wurden angenommen und gedruckt. Es zeigte sich, dass ich das, was Bücher aus Papier und Farbe mich nicht hatten lehren können, mithilfe von drei Kubikmetern Luft zustande gebracht hatte. Nun wusste ich, was ich zu tun hatte: Ich nahm sie, meine imaginären Bücher, die Phantasmen, die die Leere zwischen den schwarzen Brettern des alten Bücherregals füllten, eines nach dem anderen herunter und verwandelte sie, indem ich ihre unsichtbaren Buchstaben in ganz gewöhnliche Tinte tunkte, in Manuskripte und die Manuskripte in Geld. Nach und nach – Jahr für Jahr – wurde...


Trottenberg, Dorothea
Dorothea Trottenberg arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, u. a. von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol,Vladimir Sorokin, Maria Rybakova, Boris Akunin und Iwan Bunin. Für ihre Übersetzungen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Krzyzanowski, Sigismund
Sigismund Krzyzanowski (Aussprache Kschischanowski, 1887-1950) war einer der maßgebenden Autoren der russischen Moderne. Geboren in Kiew, zog er 1922 nach Moskau, wo er unter prekären Verhältnissen in einem winzigen Zimmer am Arbat lebte und exzessiv schrieb, ohne je ein Buch veröffentlichen zu können. Erst seit 1989 wird seine kunstvolle, phantastische Prosa auch in Russland pub- liziert.

SIGISMUND KRZYZANOWSKI (1887-1950, Aussprache Kshyshanowski) war einer der maßgebenden Autoren der russischen Moderne. Geboren in Kiew, zog er 1922 nach Moskau, wo er unter prekären Verhältnissen in einem winzigen Zimmer am Arbat lebte und exzessiv schrieb, ohne zu Sowjetzeiten je ein Buch veröffentlichen zu können. Erst ab 1989 wurde seine kunstvolle, phantastische Prosa auch in Russland publiziert. »Mich interessiert nicht die Arithmetik, sondern die Algebra des Lebens.«DOROTHEA TROTTENBERG studierte Slavistik, sie arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, u. a. von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol, Vladimir Sorokin, Maria Rybakova, Boris Akunin und Lev Tolstoj, zudem der Werke Iwan Bunins. 2007 wurde sie mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis ausgezeichnet, 2012 mit dem Paul-Celan-Preis.



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