E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Kui Solange es hell ist
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-21528-6
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-21528-6
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Eins Immer wenn Katie Salomon kurz davor war, Mist zu bauen, murmelte sie diesen einen Satz vor sich hin: »Ich glaube, das ist gegen das Gesetz.« Es klang süßsauer, eine seltsame Mischung aus Wichtigtuerei und vorweggenommener Entschuldigung für das, was geschehen würde, und ich war nie ganz sicher, ob sie das sagte, um sich anzuspornen oder eben gerade nicht. Wahrscheinlich hatte sie selbst keinen Schimmer. Meistens jedenfalls setzte sie ihr Vorhaben dann in die Tat um – und kassierte die Quittung. Draufzahlen mussten wir natürlich alle. Bis auf die wenigen Ausnahmen, die Katie für uns zur Heldin machten. Beispiel: Auch geklaute Lichterketten lassen einen Weihnachtsbaum heilig erstrahlen. Und wie. »Ich glaube, das ist gegen das Gesetz.« Jetzt also war es passiert. Ich hatte Katies Mantra auf den Lippen und fühlte mich dabei alles andere als heldenhaft. Nie hätte ich geglaubt, dass es jemals so weit kommen würde, denn ich wollte schon längst nicht mehr sein wie sie. Wer will das schon, mit fünfzehn eine Kopie der eigenen Mutter abgeben, und dazu noch eine schlechte? Gegen das Gesetz. Die Hände vor mir auf dem Lenkrad sahen fremd aus, als gehörten sie nicht zu mir, als hätte ich sie nie zuvor gesehen. Die Glasperlenringe in Rosa, Himbeerrot und Türkis. Den Kratzer, den der Kater vom Hausmeister mir am letzten Tag vor den großen Ferien auf dem Schulhof verpasst hatte. Kein Zweifel, keine Ausflüchte – es waren meine Hände, und sie führten meinen Willen aus, als ich den Motor startete, wofür ich geschlagene fünf Versuche benötigte. Die blaue Blechkiste, genannt Alditüte, machte einen gewaltigen Satz nach vorn, soff ab und kam auf dem Hang rückwärts ins Kullern, bis ich den Fuß von dem Pedal nahm, das ich idiotischerweise für die Bremse gehalten und als Reaktion auf den Schreck bis zum Anschlag durchgetreten hatte. Es war wohl eher die Kupplung. Die Kontrollleuchten auf dem Armaturenbrett glimmten in meinen Augen mindestens so hell wie einst die geklauten Weihnachtsbaumlichter, aber von Heiligkeit konnte keine Rede sein. Ich riss an der Handbremse und fluchte. Verfluchte Katie, die mich in diese Lage gebracht hatte, wenn auch (ausnahmsweise) ohne jede Absicht, wie ich glaubte. Oder besser: hoffte. Dennoch war ich stinkwütend auf sie, gleichzeitig vermisste ich sie fürchterlich, während ich mir die Augen rieb und versuchte mich daran zu erinnern, was sie und ihr damaliger Freund Jens mir im vorletzten Winter über das Autofahren im Allgemeinen und über unseren störrischen alten Polo im Besonderen beigebracht hatten. Ein Auslaufmodell mit schwammiger Lenkung und einer Gangschaltung, die Jens zufolge zu viel Spiel hatte. Zu viel Spiel, was immer das heißen mag. Es kam mir wie eine Metapher für das Leben meiner Mutter vor. Ich mag Metaphern. Und hier ist gleich noch eine, eine sensationelle, weil doppeldeutige Metapher für den Schlamassel, in dem ich steckte: auf der schiefen Bahn. Denn ich hatte natürlich keinen Führerschein (wie auch?), und die Auffahrt zur Berghütte war teuflisch steil. Zu allem Überfluss parkte die Alditüte auch noch mit der Nase zur Haustür, was bedeutete, dass ich wenden musste, um uns von hier wegzubringen. Weit, weit weg. Dabei waren wir doch gerade erst angekommen und hatten uns Knall auf Fall in die Holzhütte mit ihren Schnitzereien am Giebel und den giftgrünen Fensterläden verliebt, hatten unter einem Wasserfall in einem Teich geplanscht, einen unordentlichen Strauß Wiesenblumen gepflückt und abends ein Lagerfeuer entfacht, was ziemlich kniffelig ist, wenn man von solchen Dingen keine Ahnung hat. Umso ausgelassener waren wir, als es endlich loderte und knackte. Unsere heißen, roten Wangen. Wie sich Funken in den Sternenhimmel geschraubt hatten. Wie glücklich wir waren. Heute, so der Plan, wollten wir zum Fluss, der in der Nähe rauschte, um ein Floß aus Treibholz zu bauen. Daraus wurde nun definitiv nichts. Penny und Elias schliefen noch. Es würde schwer werden, die beiden davon zu überzeugen, so früh am Tag zu mir ins Auto zu steigen, obwohl unser Floßabenteuer lockte. Mir war schleierhaft, was ich ihnen erzählen sollte, aber eins wusste ich: Ich musste sie irgendwie überrumpeln, bevor sie richtig wach wurden. Und dann improvisieren – Katie-Style. Gegen das Gesetz. Mein Herz hämmerte. Ich drehte den Zündschlüssel im Schloss und bezweifelte, dass ich das Zeug dazu hatte, die Sache durchzuziehen. Eine schwammige Lenkung bedeutet: Dein Wagen verarscht dich. Zuerst passiert nichts, dann viel zu viel, wie auf Glatteis. Weil ich beim besten Willen nicht am Hang anfahren konnte, ohne den Motor abzuwürgen, beschloss ich, mich ganz sachte auf die Wiese rollen zu lassen, um dabei mit maximalem Fingerspitzengefühl den entscheidenden Richtungswechsel zu vollziehen. Leider wurde, passend zu dem Taumel, in dem ich mich ohnehin schon befand, eine Pirouette daraus, wodurch der Polo so viel Schwung bekam, dass er plötzlich auf den Abgrund am Ende der Wiese zuraste. Unterhalb schlängelte sich der Fluss durch den Wald. Ein schäumender Wildbach in einem felsigen Bett, überall Klippen wie Messer. Wenn die verfluchte Karre nicht bald täte, was ich von ihr wollte, würde sie entweder als Blechgeschnetzeltes oder – im besten Fall – als Floß enden, eine trotzige Antwort auf unsere Pläne für den Tag, die wir nun auf unbestimmte Zeit verschieben mussten. Vielleicht für immer. Das Jaulen des Getriebes. Kräuterduft. Wie der Kühlergrill das hohe Gras und alles, was auf der Bergwiese wuchs und gedieh, durchsiebte – auch eine Art, Blümchen zu pflücken, nur dass man sie wahrscheinlich hinterher nicht in eine Vase stellen kann. Ich hatte immer noch unseren Strauß vor Augen, er stand unversehrt in seiner Vase auf dem Tisch und wollte bewundert werden. In Gedanken entschuldigte ich mich bei ihm und der Wiese. Der Abgrund gähnte beinahe gelangweilt, ein Höllenschlund, bereit mich ohne Aufhebens samt Alditüte zum Frühstück zu verspeisen. Mir wurde schwindelig, die Bodenwellen rüttelten mein Hirn durch. Auf einmal kam mir das Lenkrad wie ein Spielzeug vor, vielleicht war alles nur ein schlechter Witz, und ich saß in einer Autoattrappe in einem etwas zu groß geratenen Kinderkarussell. Gleich würde es sich unweigerlich in eine Achterbahn verwandeln. Ich kniff die Augen zusammen und wartete darauf, dass mein Magen sich hob. Das schreckliche Gefühl, ins Bodenlose zu fallen, kannte ich ja schon. Doch diesmal blieb es aus. Der Untergrund und das Geräusch, das die Räder erzeugten, veränderten sich: Schotter. Als ich es wagte, die Augen zu öffnen und geradeaus zu schauen, konnte ich mein Glück kaum fassen. Wie durch ein Wunder war der Polo wieder auf Kurs, vor mir die Abfahrt ins Tal, hinter mir die Hütte. Die erste Herausforderung unserer Reise ins Ungewisse war gemeistert – ich hatte gewendet. Ich keuchte wie nach einem Sprint. Gerade wollte ich den Motor ausschalten und aussteigen, um meine Geschwister aus den Betten zu holen, da wurden hinter mir die Türen aufgerissen. Penny und Elias ließen sich mit Schwung auf die Rückbank fallen. »Wir wollen mit!« Perfekt. Die Küken waren der Glucke wieder mal gefolgt. Das war ja einfach. Erleichtert nahm ich den Fuß von der Bremse, und schon rollten wir an, nahmen Fahrt auf. Unser Traum von unbeschwerten Ferien hatte ein jähes Ende gefunden. Ich schluckte. Jetzt bloß nicht zurückschauen. Und um keinen Preis anfangen zu heulen, dafür war keine Zeit. Ich war schließlich die Älteste. Ich musste die Nerven behalten, meine Aufgabe war es, Weisheit und Zuversicht zu versprühen, wenn das hier klappen sollte. »Wo ist denn Mika?«, fragte Penny direkt hinter mir, als sie bemerkte, dass niemand auf meinem Stammplatz, also auf dem Beifahrersitz saß. Dann erst erkannte sie mich (wie hätte sie ihre normalerweise äußerst regelverliebte Schwester auch hinter dem Steuer vermuten sollen?), schrie vor Überraschung spitz auf, fing sich aber bemerkenswert schnell und korrigierte ihre Frage. »Wo ist Katie?« »Mama?«, rief Elias. Er war der Einzige von uns, der sie so nannte. Für mich war sie Katie, seit ich denken konnte, in der Grundschule war Penny in ihrem damals noch grenzenlosen Ehrgeiz, mich zu kopieren, ebenfalls dazu übergegangen, unsere Mutter beim Vornamen zu nennen. Inzwischen hatte die Kleine ihren eigenen Kopf. Wir waren vier Jahre auseinander, seit Neuestem hielt sie sich für eine elfjährige Stilikone, stand auf Miniröcke, schwarzen Nagellack und ihre falschen Doc Martens und gab mir ungefragt Modetipps. Ein richtiges Früchtchen, wie unsere scheintote Nachbarin sagen würde. Ich war eher der Typ Boyfriendjeans, T-Shirts und Hoodies. Damit fiel ich am wenigsten auf, was in unserem Viertel in Berlin von Vorteil sein konnte. »Sitzt Elias auch richtig im Kindersitz? Hilf ihm, sich anzuschnallen«, befahl ich, ohne auf die Frage einzugehen. Meine Stimme hatte Biss, Penny gehorchte. Ihr Bemühen, unser zappeliges Nesthäkchen ordnungsgemäß anzugurten, gewährte mir leider nur kurz Aufschub, bevor es mit der quälenden Fragerei weiterging. »Wo ist Mama?« »Hat Katie das erlaubt?« »Wo fahren wir hin?« Und so weiter. Mein Kopf war voller Antworten, die ich für mich behielt. Es dauerte eine Weile, bis den beiden dämmerte, dass mein Schweigen eine Mauer war, hoch und mächtig und obendrauf mit Stacheldraht gesichert. Verständlicherweise frustrierte sie das gewaltig. »Du bist gemein«, sagte Elias. »Ich hasse dich.« Ich biss die Zähne zusammen. Hassen war anscheinend seine...