E-Book, Deutsch, 256 Seiten, E-Book Epub
Kummer Nina & Tom
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1281-8
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten, E-Book Epub
ISBN: 978-3-8412-1281-8
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tom liebt Nina.
Nina liebt Tom.
Sie hat nur noch wenige Tage zu leben.
Die größte Liebesgeschichte seit Love Story.
In Barcelona lernten sie sich kennen, in Berlin wurden sie ein Paar, und in L.A. gründeten sie eine Familie: Nina & Tom sind das ungleiche Paar, das nur die Extreme kennt. Doch nun ist Nina krank. Sie wird sterben. Und niemand kann sie davon abhalten, ihre letzten Tage in Freiheit zu verbringen. Ein Buch, wie es nur das Leben schreiben kann. Barcelona 1983: So jemanden wie Nina hat Tom noch nie gesehen. Sie sieht aus wie ein 13-jähriger Junge, ist störrisch, zickig und selbstbewusst. Sie ist ziellos – und viel empfindsamer, als sie sich eingestehen will. Er verliebt sich auf den ersten Blick in sie und weicht ihr nicht von der Seite, bis sie sich erbarmt und mit ihm im alten Mercedes losfährt, von Barcelona ins verschneite Berlin. Dort leben sie in einer unbeheizten Fabriketage und experimentieren mit Pop, Drogen und Sex. Tom arbeitet inzwischen als weltreisender Reporter, Nina steht viel vor dem Spiegel und raucht Kette. Dann fällt die Berliner Mauer. Und das rastlose Paar zieht weiter, nach L. A., zu den Schönen und Reichen. Zehn Jahre später haben sie zwei Söhne, und in Ninas Körper wütet der Krebs. Sie wird sterben. Die Familie beschließt, ein letztes Mal in die kalifornische Wüste zu fahren. An jene Stelle, wo Nina ihre Asche verstreut haben möchte.
Tom Kummer, der »Bad Boy« des deutschen Journalismus, hat der Frau ein Denkmal gesetzt, von der ihn nur der Tod scheiden konnte: ein durch und durch erschütterndes Buch.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Der Morgen, als Nina zum letzten Mal in den Spiegel schaut. Ich bin erwacht. Wir liegen nebeneinander. Ich strecke meine Hände aus, um ihre Haut zu berühren. Noch ist es dunkel in unserem Zimmer. Durch die Jalousie ist ein blutroter Streifen am Horizont zu erkennen. Ich ertaste ihre Brust. Sie hebt und senkt sich weich. Jeder Atemzug aus Ninas geöffnetem Mund fühlt sich kostbar an. Jedes noch so seltsame Geräusch bedeutet Leben: Husten. Röcheln. Luftholen. Das Rascheln der mit Plastik überzogenen Matratze. Manchmal höre ich Wörter. Zusammenhangslose Wörter. Wie eine Botschaft aus einer fernen Galaxie. Ich liege dann einfach neben Nina und lausche. Ich sehne mich nach Intimität. Ich will Nina berühren. Und lasse morgens immer öfter meine Hand zwischen ihre Beine gleiten. Vielleicht will ich nur testen, was ihre Leblosigkeit noch zulässt. Nina war unberechenbar. Früher bewies sie mir ständig ihre sexuelle Hemmungslosigkeit. Manchmal trank sie Unmengen heißer Schokolade mit Vanille, um sich zu stimulieren. Zucker machte sie wild. Dabei war sie war immer schlank. Dieses Ausgehungerte der Fotomodelle war ihr angeboren. Nina tat nie, was ich wollte. Sie mochte es nicht, ihre Zunge einzusetzen. Ich glaube, sie hatte irgendwann keine Lust mehr auf mein Sperma. Sie entschied, wann ich mich ausziehen und was ich mit ihr anstellen durfte. Beim Sex war sie nur an sich selbst interessiert. Meistens stieg die Geilheit wie ein Wahnsinn in ihr auf und löschte alle Vernunft. Ihr narzisstischer Jetzt-und-Alles-Terror konnte nur befriedigt werden, wenn man sie körperlich schockierte. Dabei ist Nina ein zerbrechliches Wesen. Jetzt liegt sie einfach da. Speichel läuft aus ihrem Mundwinkel. Sie berührt meine Hand. Ich putze ihr Gesicht sauber, während hinter Downtown das Morgenlicht wie eine detonierende Napalmwand aufsteigt. Dann ziehe ich die Jalousie hoch. Eine riesige LED-Leuchtwerbung über dem Wilshire Boulevard verkündet die Botschaft von M&M’s: Melts in your Mouth, not in your Hand. Ich höre mein iPhone vibrieren. Europa meldet sich bei uns zwischen 6:30 und 8:30 Uhr. Es sind besorgte Anrufe von Freunden. Ich nehme nicht mehr ab. Ich schalte die Nachttischlampe an. Es ist das Signal für unsere Jungs, Jack und Henry, die am anderen Ende des Schlafzimmers in ihren Kajütenbetten liegen, aufzustehen. Unser gemeinsames Schlafzimmer ist zehn Meter lang und sieben Meter breit. Über unserem Bett hängt eine einäugige Puppe des Künstlers Mike Kelley, über Jacks Bett thront Mario Götze im Dress der Borussia Dortmund, Henrys Schlafstelle ziert ein Schal des FC Arsenal London. Dort, wo die Kajütenbetten stehen, lagen Henry und Jack als Babys in einer Krippe. An der Decke rotiert ein Ventilator. Während des Northridge-Erdbebens 1994 ist das schwere Ding auf unser Bett gefallen. Damals rettete ich Nina, indem ich sie rechtzeitig auf meine Seite zog. Am Boden verstreut liegen Lego-Spielsteine, iPod, iPads, Verpackungen von Videospielen, Bücher, Kleider, eine »Glock«-Luftpistole. Wir haben unsere verwilderte Wohnlandschaft irgendwann »Widerstandsnest« genannt und es aufgegeben, nach einem typisch amerikanischen Haus mit viel Platz und Vorgärtchen zu suchen. Nichts ist hier privat, nichts bleibt geheim. Keine Bewegung, keine Laune, kein Stöhnen. Manchmal wirken unsere Räume klaustrophobisch, dann wieder wie ein warmes Nest. Manche Möbelstücke haben Schäden, die auf Gewalt verweisen. Es hängen alte Kinderzeichnungen an den Wänden. Auf dem Nachttisch neben Nina liegt »Love Story« von Erich Segal, das Buch zum großen Kinohit der siebziger Jahre mit Ali MacGraw und Ryan O’Neal. Nina hat es ihr Leben lang mit sich herumgetragen und mir war es immer schon unbegreiflich, was sie an dieser Schnulze gut findet: Bildschöne Studentin aus einfachen Verhältnissen trifft bildschönen Kommilitonen aus reichem Haus, verliebt sich, heiratet ihn trotz sozialer Widerstände, erkrankt an Blutkrebs und stirbt. Und jetzt liegt das Buch neben Ninas Bett. Als ob das der letzte Stoff wäre, den sie sich noch reinziehen will. Auf dem Teppich sind Spuren unseres Lebens zu sehen, schwarze Schlieren, weiße und rote Flecken. Hier habe ich herausgefunden, dass Nina es mag, wenn ich ihren Hals würge, während ich von hinten in sie eindringe. Tatsächlich hat sie irgendwann zugegeben, dass sie beim Orgasmus spüren möchte, wie sie erstickt, eine Panik beim Kommen, vielleicht wie beim Sterben. Zärtlichkeit war nie ihr Ding. Ich schiebe mich näher an Ninas Gesicht heran, studiere ihren Zustand. Unter den Augen sind dunkle Ringe, die Lider angeschwollen. Sie sieht schön aus mit diesen tieftraurigen, kranken Augen. Sehr ausdrucksstarke Augen, die mit zunehmender Leblosigkeit wie ein Spiegel der Seele wirken. Aber was gäbe es da nach dreißig Jahren noch zu entdecken? Ihre wächserne Haut ist durchscheinend. Die Lippen glänzen von zu vielen Schichten teurer Hautcreme gegen wütende Allergien. Nina ist fortwährend übel. Und wenn sie von Zeit zu Zeit mit aller Kraft versucht, sich aufzusetzen, so gelingt ihr das nicht. Also richte ich sie auf und schiebe ihr, wie jetzt, kleine Trockenfruchtstückchen in den Mund. Speichel tröpfelt an den Mundwinkeln hinunter, weil sie nicht schlucken kann oder nicht mehr will. Meistens reißt sie dann ihre Augen vor Entsetzen auf. Stummes Entsetzen. In den letzten Wochen versuchte Nina, mir immer wieder zu erzählen, wie sie sich fühlt, mit hauchender Stimme, ganz langsam. Sie sagte, es sei, als ob ihre Augen aus den Höhlen zu springen drohten. Ich hatte mein Ohr an ihren Mund gepresst, um sie besser zu verstehen. Sie sagte, dass der Schmerz durch ihren Kopf schieße und in ihren Ohren und Schläfen steche. Der Körper brenne, werde manchmal starr, als würde er vor Anspannung zerspringen. Sie versuche dann, sich zu krümmen. Und ich massiere Nina, bis sie signalisiert, dass das überhaupt nicht helfe. Es fühle sich an, als würde jede einzelne Zelle ihres Körpers versengen, sämtliche Knochen gebrochen werden. Manchmal rieche sie Verbranntes. Das Brennen in den Augen sei das Schlimmste. Sie reibt sich auch heute minutenlang die Augen. Sie kratzt ihre Haut. Sie kratzt sich ständig. Ich schiebe mich noch näher an sie heran. Sie keucht unregelmäßig. Ich streichle ihre Beine. Auf ihren Fingernägeln sind Spuren von rotem Nagellack zu sehen. Ich berühre ihre Nachtwindeln. Wir liegen jetzt in Löffelstellung aneinandergeschmiegt. Ich drücke mich gegen ihren Hintern. Ich rieche ihre Haut. Ich spüre Bewegung in Ninas Körper, als würde sie meine Nähe fordern. Ich küsse ihren Hals, der sich fettig anfühlt. Plötzlich rudert sie mit ihren Armen, schlägt ihre Hand gegen meinen Kopf. Sie stößt mich weg, mit letzter Kraft vielleicht. Sie will mich nicht spüren. Doch ich lege mein Ohr zurück an ihren Mund. Sie will schreien, schafft es aber nicht, auch nur einen Laut von sich zu geben. Also verharrt sie im Schmerz. Der Sauerstoffmangel vermag nur langsam, Ninas Gehirn und ihre Gedanken zu vernebeln. Der Arzt hat es mir überlassen, zu entscheiden, wann sie Morphium bekommen soll. Ich weiß, dass das Morphium einen endgültigen Abschied bedeuten würde. Jack steht neben dem Bett. Er studiert Ninas Gesichtszüge. Ihre Augen sind geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Unser Sohn wirft mir einen fragenden Blick zu. Henry, der Ältere, schleicht kommentarlos vorbei. Henry ist sechzehn. Jack ist zehn. Henry ist der Empfindsame, Jack der Aufgeweckte. Henry hat sämtliche Selbstschutzjalousien heruntergefahren, Jack zieht sich alles ungefiltert rein. Henry findet es komisch, dass ich Nina nicht im Hospiz unterbringe. You’re so weird, Dad. »Weird« ist sein Lieblingswort. Beide kennen den Ernst der Lage. Wir sprechen offen über alles. Sie schweigen meistens. Jack und ich stehen minutenlang stumm vor Ninas Bett. Manchmal fühlt es sich an, als würden wir uns das stille Spektakel Sterben wie eine Reality-Show reinziehen. Nina ist jetzt in einen Halbschlaf gefallen. Wir konzentrieren uns auf ihr extrem schnelles Schnaufen. Und ich muss dabei an das Jüngste Gericht denken. Das archaische Urbild des auf dem Sterbebett Ruhenden. Auch bei uns hat das Schlafzimmer eine neue Dimension bekommen. Unser Bett wirkt wie eine Bühne. Unser Bett hat sich zum Sterbebett gewandelt. Ich denke sehr klar. Ich kann nicht weinen. Ich habe dieses Bett kürzlich bei einem jüdischen Matratzen-Experten am Pico Boulevard zum halben Preis bekommen, direkt ab Lager. Marke: Simmons Beauty Sleep. Unser medizinischer Versorger – Kaiser Permanente – hat uns längst kostenfrei ein Krankenhausbett mit allen technischen Spielereien angeboten, eine mobile Toilette wäre bei unserem Versicherungsplan auch dabei, dazu eine Gehhilfe aus Aluminium. Vor zwei Wochen hat eine Sozialhelferin uns ein fahrbares Gestell für das Atemgerät präsentiert. Ein anderes Gestell für Beutel mit hochkalorischer Nahrung. Einen Cough-Assist, der das Husten erleichtern soll. Nina ist zusammengebrochen, als ihr die Funktionalität dieser Geräte erklärt wurde. Dabei war sie immer superpositiv konditioniert, was den Kampf gegen ihre Krankheit angeht. Nichts verschwamm für Nina in nebulösem Schrecken. Doch der Besuch des Pflegedienstes war für sie unerträglich. Seitdem übernehme ich diese Gespräche. Der Arzt hat Tabletten verschrieben, die Krankenschwester hat Morphium empfohlen, der seelische Fürsorger fragte nach, wie es den Kindern gehe. Und ob es für mich in Ordnung sei, Nina zu Hause zu pflegen. Ich habe erklärt, es gäbe für uns keine andere Lösung. Ich mag diese...