Kury | Der überforderte Mensch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 66, 342 Seiten

Reihe: Campus Historische Studien

Kury Der überforderte Mensch

Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-593-41904-6
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout

E-Book, Deutsch, Band 66, 342 Seiten

Reihe: Campus Historische Studien

ISBN: 978-3-593-41904-6
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jeder kennt Stress und redet darüber, doch kaum jemand kennt seine Geschichte. Sie wird hier von Patrick Kury erstmals erzählt: von der Erforschung organischer Vorgänge in den 1930er Jahren über die psychosoziale Stressforschung in den USA und Skandinavien bis zur breiten Popularisierung des Stresskonzepts seit den 1970er-Jahren.

Auch im deutschsprachigen Raum fand die Diskussion um den Stress in den letzten Jahrzehnten ein großes Medienecho. Die aktuelle Konjunktur des Burnouts ist der vorläufige Höhepunkt dieser Erfolgsgeschichte.

Heute sind Stress und Burnout, so Patrick Kury, Allroundbegriffe, mit denen sich die Auswirkungen des modernen Lebens auf den Einzelnen kritisch beschreiben lassen: Beschleunigung und Flexibilisierung zwingen zu Selbstoptimierung und permanenter Anpassung - eine Aufgabe, die der Mensch offenbar nicht unbegrenzt und ohne negative Folgen erfüllen kann.

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Inhalt

1.Einleitung9

2.Ein schwer fassbarer Gegenstand: Die Geschichte des Stresses23

3.Neurasthenie: Ein Stressphänomen avant la lettre?37
3.1Nerven unter Strom oder: Macht die Moderne krank?40
3.2Neurasthenierezeption in Deutschland44
3.3Neurasthenie und Stress52

4.Bedrohung und Anpassung: Zur Genealogie der Stressforschung vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs55
4.1Walter B. Cannon: Konzeptioneller und begrifflicher Ideengeber56
4.2Hans Selye und das Allgemeine Anpassungssyndrom63
4.3Die angelsächsische Militärpsychiatrie und der frühe Stressbegriff68
4.4Das Stresskonzept setzt sich durch77

5.Kritik und Rezeption: Stressforschung in Nordamerika und Skandinavien seit den späten 1940er Jahren89
5.1Die psychosoziale Stressforschung in Nordamerika89
5.2Sozialmedizinische Stressforschung in Schweden101

6.Belastung im Zeitalter von Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum: Die Managerkrankheit109
6.1Terminologie111
6.2Die Managerkrankheit als medizinisches Deutungsangebot118
6.3Die Brückenfunktion der Managerkrankheit145

7.Stressrezeption und der Umgang mit kriegsbedingten Leiden in Westdeutschland 1950 bis 1975177
7.1Erste Ansätze der Beschäftigung mit Stress im deutschsprachigen Raum178
7.2Gründe für die marginale Rezeption196
7.3Die Problematisierung kriegsbedingter psychischer Leiden206
7.4Exkurs: "KZ-Syndrom" und Post-Traumatic Stress Disorder217

8.Das psychosoziale Stresskonzept und neue Technologien des Selbst: Stress im gesellschaftlichen Wandel der 1970er Jahre223
8.1Zirkulation von Wissen und die Vergesellschaftung von Stress224
8.2Auf der Suche nach einem neuen Mensch-Umwelt-Verhältnis245
8.3Stress und Selbstführung: Die ersten Ratgeber253

9.Leben in der Stressgesellschaft: Anpassung, Optimierung und Erschöpfung267
9.1Psychosozialer Stress: Ursachen und gesundheitliche Folgen267
9.2Burnout - eine Stresserkrankung?270
9.3Erschöpfung im Zeitalter von Selbstoptimierung, Flexibilisierung und Beschleunigung279
9.4Auflehnung und Anpassung: Die doppelte Funktion von Stress und Burnout288

10. Schluss291

Bibliografie299
Dank331
Personenregister333
Sachregister338


Will man eine Geschichte des Stresses schreiben, stellt sich unweigerlich die Frage, wann eine solche beginnt. Ist Stress ausschließlich ein Phänomen, das Gesellschaften nach 1945 kennzeichnet, oder gab es bereits früher Erscheinungen, die rückblickend als Stress oder zumindest als dessen Vorläufer bezeichnet werden können? Diese Frage lässt sich je nach Perspektive unterschiedlich beantworten.

Aus der Perspektive der individuellen Wahrnehmung historischer Akteure ist unbestritten, dass auch Menschen früherer Epochen Belastungen und Arbeitsdruck empfanden und darin womöglich die Ursache für physische sowie psychische Beeinträchtigungen erkannten. Wie einleitend erwähnt, hat der bekannte schwedische Stressforscher Lennart Levi bereits 1964 darauf hingewiesen, dass die durch Epidemien, Krieg und Krisen hervorgerufenen Herausforderungen in den vergangenen Jahrhunderten um einiges höher gewesen sind als in der Zeit nach 1945. Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht geklärt, ob Menschen früherer Epochen physio-psychische Belastungen auch in einer ähnlichen Weise empfunden haben, wie dies die Menschen der Gegenwart tun. Eine solche universalistische Sichtweise, dass Stress quasi eine anthropologische Konstante darstelle, wird zumeist implizit in der Ratgeberliteratur zum Stress- und Zeitmanagement eingenommen. Dabei geht es weniger darum, historische Sachverhalte verständlich zu machen; vielmehr sollen dem Individuum Werkzeuge an die Hand gegeben werden, die es befähigen, mit Arbeitsdruck umzugehen sowie die individuellen zeitlichen Ressourcen zu optimieren. Die Historizität aktueller Belastungsphänomene wird dabei kaum thematisiert.

Ohne historische Tiefenschärfe kommen meist auch enge naturwissenschaftliche Perspektiven aus - nämlich dann, wenn Stress in Anlehnung an Hans Selye ausschließlich als eine physiologisch-hormonelle Reaktion beziehungsweise als eine Anpassungsleistung definiert wird, die bei jeder psychischen und physischen Herausforderung des Organismus von selbst in Gang kommt. So betrachtet mag es Stress zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften sowohl bei Mensch und Tier als auch teilweise bei Pflanzen gegeben haben. Zur Beantwortung der Frage, warum Stress seit den 1950er Jahren zu einem wissenschaftlichen Konzept sowie zu einem hegemonialen Belastungsdiskurs westlicher Gesellschaften geworden ist, tragen solche Denkansätze wenig bei. Sie ignorieren vielmehr, dass erst die Konzeptualisierung von und das Reden über Stress diesen zu einem wahrnehmbaren und handlungsleitenden Körper-, Gesellschafts- und Kulturphänomen werden ließen, was wiederum auf den naturwissenschaftlichen Umgang mit Stress zurückgewirkt hat.

Da ich mich sowohl für die wissenschaftliche Thematisierung von Stress als auch für seine kulturelle Deutungen interessiere, werde ich mich auf historische Konstellationen konzentrieren, die einen Blick auf das Verwobensein der unterschiedlichen Bereiche gewähren.

Aufgrund des Zusammenwirkens moderner Lebensführung, neuer medizinischer Krankheitskonzepte und der Thematisierung von Gesundheit wird die Neurasthenie in der medizinhistorischen Literatur gemeinhin als erste sogenannte Zivilisationskrankheit bezeichnet. Daher halte ich es für angebracht, die Geschichte des Stresses mit dem Nervositätsdiskurs der vorletzten Jahrhundertwende zu beginnen. Auch der Bielefelder Historiker Joachim Radkau hat in der Einleitung seines Buches Das Zeitalter der Nervosität 1998 die Frage gestellt: "Die in den 1880er Jahren ausbrechende Nervositätsepidemie ist der sichtbarste Beginn moderner Streßerfahrungen: Damals wurden sie erstmals zum historischen Ereignis. War es der moderne Streß schlechthin, der zu jener Zeit massenhaft ausbrach?" Ich verstehe im Folgenden Neurasthenie jedoch nicht als Stress, sondern als Stressphänomen avant la lettre, das gewisse strukturelle Ähnlichkeit zu Zivilisationserscheinungen wie der Managerkrankheit und der heute ominipräsenten Stressfolgeerkrankung Burnout aufweist.

Das aus den USA stammende Konzept der Neurasthenie fand in Mittel- und Westeuropa zu Beginn der 1880er Jahre rasch Verbreitung, in besonderem Maß in Deutschland und Österreich. Neurasthenie zeichnete sich, wie Hans-Georg Hofer pointiert festhält, durch eine "ubiquitäre Symptomatologie des Leidens" aus und erlebte bis 1900 ihren Höhepunkt. Mediziner, Psychiater und Betroffene gingen davon aus, dass es die modernen Lebensumstände, die technischen Innovationen, die neuen Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten sowie die Beschleunigung der meisten Lebensbereiche seien, die das Nervensystem der Menschen stärker beanspruchten und schwächten, als dies bei Menschen in früheren Epochen der Fall gewesen sei. Sie glaubten in der Neurasthenie ein Signum der Moderne schlechthin zu erkennen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und unter völlig gewandelten sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen verlor das Krankheitskonzept Neurasthenie allerdings wieder rasch an Bedeutung.

Da die Geschichte der Neurasthenie gut erforscht ist und der Blick auf den Nervositätsdiskurs in dieser Untersuchung primär dem diachronen Vergleich dient, werde ich im Folgenden nur auf einige wenige Aspekte dieser Geschichte eingehen. Mich interessiert vor allem die Frage, ob die Neurasthenie, wie sie zunächst in den USA konzipiert worden war, für das physiologische Stresskonzept von Hans Selye eine Referenzgröße darstellte. Auch wenn sich dieses Verhältnis, wie ich zeigen werde, hauptsächlich durch Unterschiede auszeichnet, ist die Darlegung des Neurastheniekonzepts insofern von Bedeutung, als es für spätere und aktuelle Belastungsdiskurse wie die Managerkrankheit oder das Burnout ein Repertoire an medizinischen Deutungen und soziosomatischen Ansätzen bereitstellt.


Patrick Kury, Dr. phil., ist Privatdozent und Oberassistent für Schweizer Geschichte und Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bern.



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