Ladwig | Gerechtigkeitstheorien zur Einführung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: zur Einführung

Ladwig Gerechtigkeitstheorien zur Einführung


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-96060-007-7
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-007-7
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gerechtigkeit ist eine moralische und politische Grundnorm. Ihren Kern bilden Fragen gerechter Verteilung. Ist eine gerechte Verteilung aber gleichbedeutend mit recht verstandener Gleichheit? Die Einführung vertritt diese zuerst von Aristoteles systematisierte Ansicht. Am Leitfaden begrifflicher Merkmale werden dabei institutionelle mit handlungs- und personenbezogenen Gerechtigkeitsvorstellungen vermittelt. Auf dieser Grundlage bietet der Band eine ausgewogene Darstellung und kritische Würdigung der Beiträge von Denkern wie John Rawls, Robert Nozick, Michael Walzer, Ronald Dworkin und Amartya Sen. In einem Ausblick kommen Fragen globaler Gerechtigkeit zur Sprache.
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Inhalt

Vorwort

I. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
1. Begriffliches
1.1 Zum Begriff der Gerechtigkeit
1.2 Zum Begriff der Moral
2. Bereiche der Gerechtigkeit
2.1 Gerechtigkeit als Tugend
2.2 Verwirklichungen der Gerechtigkeit
3. Arten der Gerechtigkeit
3.1 Allgemeine und besondere Gerechtigkeit
3.2 Herrschaft und Gerechtigkeit
4. Gleichheit
4.1 Gerechtfertigte Ungleichheit?
4.2 Begründungen substanzieller Gleichheit
5. Gerechtigkeit und Maximierung
5.1 Konsequentialismus und Rechte
5.2 Die Grenzen der Maximierung

II. HEUTIGE DEBATTEN
6. Eine Vertragstheorie der Gerechtigkeit: John Rawls
6.1 Gerechtigkeit als Fairness
6.2 Die Grundsätze der Gerechtigkeit
7. Ein konsequenterer Liberalismus?
7.1 Rechte als Stoppschilder
7.2 Eine ›historische‹ Theorie der Gerechtigkeit
8. Gerechtigkeit und Gemeinschaft
8.1 Wie wir uns selbst verstehen
8.2 Rawls' späte Theorie: Politischer Liberalismus
9. Gerechtigkeit als Gleichheit?
9.1 Welche Gleichheit?
9.2 Warum eigentlich Gleichheit?
10. Ausblick: Gerechtigkeit jenseits des Nationalstaats

Anmerkungen; Hinweise zum Weiterlesen; Über den Autor


2. Bereiche der Gerechtigkeit
Das bisherige Ergebnis lautet: Gerechte Handlungen bestehen in der willkürfreien Befolgung von Normen, die selbst willkürfrei gerechtfertigt sind. Aber Handlungen und Normen sind nicht das Einzige, was wir gerecht oder ungerecht nennen. Vor allem zwei weitere Bereiche der Begriffsverwendung sind wichtig: Manche Gerechtigkeitsurteile beziehen sich auf Personen, andere auf Verwirklichungen. Wir können erstens Menschen, ihre Einstellungen, ihre Haltungen und ihre Charaktermerkmale gerecht oder ungerecht nennen. Wir können zweitens von der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit sozialer Zustände, Ordnungen, Institutionen und auch Praktiken sprechen. 2.1 Gerechtigkeit als Tugend
Die erste Redeweise ist heute etwas aus der Mode gekommen. Sie wird gelegentlich noch in einem etwas feierlichen Tonfall verwendet. So darf in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ein »Gerechter unter den Völkern« einen Baum für sich pflanzen. Jeder Baum steht für einen Menschen, der bei der Rettung von Juden vor den Nazis persönliche Risiken auf sich genommen hat. Auch darf der Retter dabei keine Vorteile für sich selbst angestrebt haben.23 Diese Verwendung von »gerecht«, so außergewöhnlich sie heute ist, war in der Antike und im Mittelalter die primäre. Gerechtigkeit wurde vor allem als eine Qualität von Menschen verstanden. Sie galt als lobenswertes Merkmal des Charakters, den ein Mensch sich durch ständige Bemühung erworben hatte: als persönliche Tugend.24 Dass ein Mensch über die Tugend der Gerechtigkeit verfügt, zeigt sich daran, dass er zuverlässig, gezielt und normalerweise sogar gern tut, was die Gerechtigkeit gebietet. (a) Die Grenzen der Gesetze: Eine besonders einflussreiche Erläuterung des tugendethischen Ansatzes stammt von Aristoteles. Ein gerechter Mensch ist nach Aristoteles ein umsichtiger Mensch, ein phronimos, dem die Liebe zur Gerechtigkeit zur ›zweiten Natur‹ geworden ist. Er beachtet ihre Gesetze, auch wenn er sie ungestraft übertreten könnte. Aber die Gesetze können ihm nur in engen Grenzen sagen, was er zu tun hat. Vieles, was für das gerechte Handeln erheblich ist, variiert mit den Umständen, und wir haben nicht für jeden neuen Umstand eigene Regeln. In der Welt des Handelns ist Aristoteles zufolge ein gewisser Wandel unvermeidlich. Völlige Exaktheit dürfen wir hier nicht erwarten.25 Aristoteles sagt darum auch, besser als eine buchstabengetreue Befolgung der Gesetze sei im Zweifelsfall eine Beachtung ihrem Geiste nach. Das aber kann vom Urteilenden verlangen, vom Wortlaut eines Gesetzes abzuweichen. Ein gutes Urteil wird dem besonderen Fall gerecht, von dem es handelt. Dazu aber muss es nicht nur recht, sondern auch billig sein. Billigkeit (epieikeia) ist das Vermögen, zu erfassen, wo ein Gesetz aufgrund seiner Allgemeinheit Lücken hat, und diese Lücken durch ein Urteilen im Sinne des Gesetzgebers zu füllen.26 Das mag widersprüchlich wirken: Warum sollte der Gesetzgeber ein Interesse daran haben, dass vom Wortlaut seiner Gesetze abgewichen werde? Aristoteles deutet dafür zwei Gründe an. Der Gesetzgeber ist entweder gar nicht dazu imstande, vorab alle Lücken der Gesetzesanwendung zu schließen, weil die zu regelnden Fälle unabsehbar vielfältig sind. Oder aber es ist ihm bei der allgemeinen Formulierung für sein Gesetz ein Fehler unterlaufen. In beiden Fällen hätte er selbst gewollt, dass der Urteilende, der das Gesetz anwendet, über den Wortlaut hinaus auch dessen Sinn und Zweck beachtet. Die Billigkeit gehört darum als ein notwendiges Korrektiv zur Gerechtigkeit. Exkurs über Dekonstruktion: In dem neueren philosophischen Ansatz der Dekonstruktion findet sich eine Radikalisierung dieses Gedankens. Jacques Derrida wollte zeigen, dass die Gerechtigkeit eine grundsätzlich paradoxe Sache ist.27 Sie kommt ohne die Anwendung überindividueller Maßstäbe, ohne Verallgemeinerung, nicht aus. Zugleich soll sie aber dem Anspruch jedes Einzelnen gerecht werden. Der einzelne Mensch indes entzieht sich jeder Verallgemeinerung. Alles, was wir generalisierend über ihn sagen, tut ihm in gewissem Sinne Gewalt an: Ist er eine Frau, eine Violinistin, eine Diebin wertvoller Noten? Vielleicht, aber was sagen diese allgemeinen Ausdrücke über diesen Menschen in seiner Einzigkeit? Ein Mensch ist ein Gegenüber, das grundsätzlich nicht aufgeht in der Gesamtheit der Eigenschaften und Vorgänge, die wir aufgrund von Erfahrung mit ihm verbinden. Stellen wir uns vor, jemand nagelt uns auf etwas fest, das wir gerade gesagt oder getan haben: »So sind Sie also!« Aber schon im nächsten Moment könnten wir doch etwas ganz anderes sagen oder tun! Und damit ist keine Unberechenbarkeit gemeint, so wie etwa der genaue Weg, den eine Billardkugel aufgrund mikrophysikalischer Vorgänge nimmt, unberechenbar sein mag. Gemeint ist, dass wir eine Quelle der Spontaneität sind – oder dass wir uns jedenfalls notwendig so wahrnehmen. Es kann von uns im nächsten Moment etwas wirklich Neues ausgehen, etwas, das noch nicht da war und das sich auch aus den vorliegenden Umständen und den Naturgesetzen mit noch so viel Wissen nicht ableiten ließe. Ein Mensch, so könnte man sagen, ist unergründlich. Denn was wesentlich an ihm ist, ist das, was er aus sich macht. Und er kann gar nicht anders, als etwas aus sich zu machen, weil er sein Leben in Spielräumen des Überlegens und des eigenen Bemühens führt. Diese Spielräume mögen größer oder kleiner sein. Aber sie werden nie gänzlich fehlen, solange ein Mensch sein Leben als selbstbewusste Person führt, also weder im Koma liegt noch schwer altersverwirrt oder gehirngewaschen ist. Das ist auch normativ bedeutsam. So sollte das Strafrecht sich offenhalten für die Fähigkeit eines noch so ruchlosen Verbrechers, sein Leben aus eigener Einsicht zu ändern. Das gehört zum Standard eines die Menschenwürde achtenden Rechts. Ein Mensch wird entwürdigt, wenn das Recht oder der Richter ihm bedeutet, dass er sich gar nicht mehr ändern könne. Das mag empirisch, mit Blick auf manchen Einzelfall, naiv erscheinen. Aber man wende den Gedanken der Unverbesserlichkeit einmal auf sich selbst an: Legt nicht jeder Mensch Wert darauf, dass er mit sich selbst nicht fertig ist, solange er sein Leben noch selbst führt? Meint nicht ein jeder, er sei zur Selbstüberschreitung und zur Einsicht (und auch zur Selbstüberschreitung aus Einsicht) fähig? Allerdings ist hier zu beachten, dass die Gedanken Derridas und anderer ›Dekonstruktivisten‹ über den Fragekreis, in dem sich Aristoteles’ Gedanken zur Billigkeit bewegen, hinausgehen. Aristoteles will nicht sagen, dass das Allgemeine schon als solches etwas Ungerechtes an sich habe. Er will es mit Blick etwa auf richterliche Urteile mit dem Besonderen vermitteln, das der tägliche Stoff des Rechts ist. Hingegen stellt Derrida eine Frage, die kein Gesetzgeber der Welt und auch kein Richter beantworten könnte oder auch nur sollte: Wie könnten wir einem Menschen gänzlich gerecht werden? Dass ein Urteil dem, wovon es handelt, »gerecht werden« sollte, ist eine Redeweise, die auf einen weiteren Wortsinn von »Gerechtigkeit« verweist: Das Gerechte passt zu seinem Gegenstand, von welcher Art er auch sei. Eine Theorie zum Beispiel wird ihrem Gegenstand gerecht, wenn sie etwas Wahres über ihn aussagt. Derrida macht von diesem sehr allgemeinen Wortsinn Gebrauch, indem er ihn auf die spezielle Schwierigkeit anwendet, der Unergründlichkeit menschlicher Personen gerecht zu werden. Was unergründlich ist, entzieht sich eben allen Urteilen, und daher rührt der Eindruck der Paradoxie des Gerechten, auf den Derrida hinauswill. Er mag unser Gespür dafür wecken, dass jedes Gesetz und jede Rechtsanwendung etwas gegen den Einzelnen Gewaltsames an sich haben. Aber diese Auskunft ist so allgemein, dass sie über die größere oder geringere Gerechtigkeit innerweltlicher Regelungen überhaupt kein Urteil erlaubt. Die Gerechtigkeit, von der wir in politischen und rechtlichen Zusammenhängen reden, kommt ohne Verallgemeinerungen nicht aus. (b) Auch die Gerechten sind fehlbar: Genuin tugendethisch ist allerdings die Ansicht, das Gerechte sei gar nicht unabhängig davon bestimmbar, wie ein gerechter Mensch handelt. Für diesen Gedanken spricht manches, solange man ihn nicht ins Extrem treibt. Allgemeine Grundsätze und Regeln können uns tatsächlich nur in Grenzen sagen, was wir tun sollen. Was etwa heißt »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, wenn die Arbeiten von sehr unterschiedlicher Art sind, wie die Arbeit einer Sekretärin einerseits, eines Kohlenschleppers andererseits? Oder wenn einige Kohlenschlepper schneller mit Kohlen beliefert werden als andere, die dafür weniger lange im Stau stehen? Angesichts solcher Komplikationen, die sich beliebig vermehren ließen, mag es sinnvoll sein zu sagen: »Anna ist ein gerechter Mensch, sie hat in Gerechtigkeitsfragen schon...


Bernd Ladwig ist Professor für Politische Theorie an der Freien Universität Berlin.



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