E-Book, Deutsch, Band 93, 144 Seiten
Reihe: blue notes
Lamping Rahel Varnhagen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86915-245-5
Verlag: Ebersbach & Simon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ich lasse das Leben auf mich regnen
E-Book, Deutsch, Band 93, 144 Seiten
Reihe: blue notes
ISBN: 978-3-86915-245-5
Verlag: Ebersbach & Simon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rahel Varnhagen fasziniert bis heute: Eine emanzipierte Jüdin, die sich taufen ließ, einen deutlich jüngeren nicht-jüdischen Mann heiratete und in Berlin in die Geschichte einging als Salonière, Chronistin und Gesprächspartnerin zahlreicher Künstler und Philosophen, darunter die Gebrüder Humboldt, Fichte, Hegel und Schleiermacher. Heine nannte sie die "geistreichste Frau des Universums", für Goethe war sie "eine schöne Seele" – auch im 21. Jahrhundert lassen sich von ihr immer noch trefflich "Sprüche pflücken".
"Auf frischen, kleinen, abstrakten Wegen wollen wir gehen: und auch auf diesen noch dem Wolkenspiel folgen, den Lichtzauber genießen, und auch dem Dunkel, wenn es reizt, nachziehen! " Rahel Varnhagen
Dieter Lamping zeichnet in seinem kenntnisreichen Porträt Rahel Varnhagens facettenreichen Lebensweg nach, im Mittelpunkt steht dabei ihr Versuch der Selbstfindung, jenseits aller Konventionen – als Frau, Menschenfreundin und Wohltäterin.
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Ein »weiblicher Mensch«
Rahel erklärt sich
Als Jean Paul im Sommer 1800, auf dem Gipfel des Erfolgs, Berlin besuchte, lernte er in ihrem Salon auch Rahel Levin kennen. Er muss gleich von ihr beeindruckt gewesen sein. Nach seinem Umzug in die Stadt schrieb er ihr, ganz im Jean-Paul-Stil, am 6. November einen kurzen, liebenswürdigen Brief, in dem er versuchte, sie zu charakterisieren: »Sie behandeln das Leben poetisch, und das Leben daher Sie. Sie bringen die hohe Freiheit der Dichtkunst in die Gebote der Wirklichkeit und wollen die Schönheiten dort, auch als Schönheiten hier wiederfinden; – aber die poetischen Schmerzen sind, in die Prosa des Lebens übersezt, rechte wahre Schmerzen.«1 Rahel Levin wird diese Huldigung ihres berühmten Salon-Besuchers aufmerksam gelesen haben. Dass sie das Leben wie eine Kunst angehe, hatte ihr noch keiner gesagt. Sicher hätte sie Jean Paul darin zugestimmt, dass sie Freiheit und Schönheit zu verwirklichen suche, gerade in ihrem Salon. Dass aber das Leben sie wiederum ›poetisch‹ behandele, hätte sie wohl bestritten. Fünf Wochen später antwortete Rahel Jean Paul aus Paris, wohin sie inzwischen gereist war. Sie nahm die Gelegenheit wahr, von sich selbst ein anderes Bild zu zeichnen: ihr eigenes. »Wißen Sie«, schrieb sie in ihrer Rahel-Orthographie, »warum ich will daß Sie so viel von mir wißen sollen? […] Weil Sie Jean Paul Richter sind […] weil Sie so sehen und schreiben. Nun sollen Sie auch eine sehen die schon ungeschrieben so fertig ist. Wenig Weiber die so zart, fein, und weiblich sind als ich, sind so stark; und wißen soviel von sich selbst, und haben so viel Ironie, und scheinen dabey so sehr das Gegentheil von dem zu seyn was sie sind. Und damit Sie das geschwinder wißen sollen: zeig ich’s Ihnen. Sie loben die weiber schön! (in ihren Beschreibungen) aber noch haben sie einzureißende, eüßere Schranken; zeigen Sie dem Volke welche, ohne Schranken und die doch auf dem Punkt bleiben, außer welchem – sie aufhöhren zu existiren. außer welchem sie Mädchen, Frauen, Töchter, Mütter, Schwestern, Freündin, Wärtherin, Wirthin etc: sind; aber nicht ein weiblicher Mensch: mit einem Wort. Ich laß’ Sie bis in mein Innerstes sehen Richter! (als Nahme und Richter).«2 Rahel Levin war 29 Jahre alt, als sie diesen Brief schrieb. Nach ihrer ersten unglücklichen Liebe war sie nicht immer frei von Selbstzweifeln; doch als sie Jean Paul antwortete, war sie es. Dem verehrten Dichter, der nicht zuletzt für seine Frauengestalten berühmt war und der in der preußischen Königin Luise seine prominenteste Leserin hatte, wollte sie sich erklären: als eine Frau, die ›ungeschrieben‹ ist, keine literarische Gestalt also, und doch ›fertig‹, also ganz sie selbst – ein Mensch, wie er in der Literatur noch nicht dargestellt worden ist. Zuallererst als Mensch angesehen zu werden, war Rahel Levin seit Langem wichtig. Am 1. April 1793 schon hatte sie ihrem Freund David Veit in einiger Erregung geschrieben: »kann ein Frauenzimmer dafür, wenn es auch ein Mensch ist? […] (und das Gedanken hat wie ein anderer Mensch).«3 Von sich zu sagen, man sei ein Mensch, kann leicht banal oder sentimental klingen. Das ist es aber nicht, wenn einem oder einer verwehrt wird, sich als Mensch zu entfalten, ihm oder ihr Menschenrecht oder Menschenwürde verweigert wird. Rahel Levin empfand ihr Leben lange so. Immer wieder sah sie sich vor allem auf zwei Rollen verwiesen, die sie als Einschränkungen empfand. Die eine Rolle war die der Frau, die dem Mann Kinder gebärt, den Haushalt führt und ein gesellschaftliches Leben nur an seiner Seite hat. Rahel Levin war mit fast 30 noch unverheiratet, was ihrem Ansehen zumindest in ihrer Familie abträglich war. Man wartete ungeduldig darauf, dass sie endlich einen Mann finde. Sie aber hatte Vorbehalte, weniger gegen Männer als gegen die Ehe. Eine »Heirath«, schrieb sie 1793, gleiche ebenso sehr »einer Einschränkung« wie »ein Amt oder Stand.«4 Erst spät, nach einigen Enttäuschungen und nach längerem Zögern, heiratete sie, nicht ohne sich vergewissert zu haben, dass sie ihre Freiheit nicht würde aufgeben müssen. Die andere Rolle, auf die man sie verwies, war die der Jüdin – die sie zeitweise noch entschiedener ablehnte. Als junge Frau wollte sie sich aus dem Judentum lösen; sie glaubte nicht an seinen Gott, dem Volk fühlte sie sich nicht tief verbunden. Später ließ sie sich taufen und heiratete einen Nicht-Juden. Dem Antisemitismus ist sie gleichwohl nicht entronnen, nicht einmal in ihrem Freundeskreis. Rahel Levin, schreibt Günter de Bruyn, »sah sich als Schlemihl, als Pechvogel, der doppelt vom Pech verfolgt wurde, nämlich durch Herkunft und durch Geschlecht. Das Jüdischsein bewirkte Rahels Absonderung, das Frausein verdammte sie zur Untätigkeit.«5 Das vor allem war es, was ihr, abgesehen von äußeren Umständen, das Leben und das Menschsein immer wieder schwer machte. Dabei wusste Rahel Levin genau zu sagen, was ein Mensch sei. Sie hat darüber, wie über so vieles, nachgedacht und ihre Gedanken auch mitgeteilt. »Was wir eigentlich unter dem Worte Mensch verstehen«, schrieb sie etwa am 13. Dezember 1807 ihrer Freundin Rebecca Friedländer, »ist doch die Kreatur, welche mit ihres Gleichen in vernünftiger Verbindung steht, in einem Verhältnisse mit Bewußtsein, an welchem wir selbst zu bilden vermögen, und auch genöthigt sind immerweg zu bilden.«6 Dieser eine Satz enthält die wichtigsten Stichworte ihres Menschenbildes: ihre kleine Anthropologie. Der Mensch ist für Rahel Levin ein soziales Wesen. Er steht mit seinesgleichen in einer Verbindung, die auf Vernunft und Aufrichtigkeit gegründet ist. Er bildet und formt sich beständig, immer in dem Bestreben, ein besserer, ein vollständigerer Mensch zu werden. So einfach diese Maximen auch klingen mögen – sie haben Rahels nicht immer einfaches Leben bestimmt. Zwei dieser Stichworte hatte sie von zeitgenössischen Schriftstellern übernommen, die sie verehrte. Vernunft, als Gabe und Aufgabe des Menschen, ist ein zentraler Begriff in Lessings nicht zuletzt von Juden viel gelesenem Traktat Die Erziehung des Menschengeschlechts: Die Vernunft garantiert für Lessing die Verbundenheit der Menschen, jenseits von Klassen und Religionen. Davon war auch Rahel überzeugt. »Sie wissen«, schrieb sie ihrem Freund David Veit 1795, »daß ich Klassen nicht leiden mag, und mich zu keiner gerne einschränken lasse, als zu den Menschen.«7 In diesem Punkt war Rahel Levin, die Zeitgenossin der Romantik, eine Tochter der Aufklärung. Nicht zufällig hing in ihrem Zimmer ein Bild von Lessing. Das andere Stichwort, das sie aus der Literatur ihrer Zeit nahm, war ›Bildung‹. Mit ihm folgte Rahel dem Konzept der umfassend entwickelten Persönlichkeit, das im Zentrum der klassischen Idee der Humanität steht. Ihre wichtigste Quelle dafür war der große deutsche Bildungsroman: Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Seine Lektüre prägte ihr Leben. Wilhelm Meisters Ideal ist der »gebildete Mensch.«8 Im Brief an seinen Schwager Werner bekennt er von sich: »Daß ich Dir’s mit einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.«9 Rahel Levin hätte wahrscheinlich zu jeder Zeit ihres Erwachsenenlebens diesen Satz unterschreiben können. Nicht nur eine Person, sondern eine »Persönlichkeit«10 zu sein, wie es Wilhelm Meister möchte, war auch ihr Wunsch. Seine Idee der »harmonischen Ausbildung meiner Natur«11 schloss die »Neigung zur Dichtkunst« und das seinerzeit nur dem Adel zugebilligte Bedürfnis ein, »eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken.«12 Auch Rahel reklamierte beides für sich. Nur auf der Theaterbühne wollte sie, anders als Wilhelm, nicht stehen. Sie erfand sich eine eigene kleine Bühne: den Salon. Ein Mensch zu werden war für Rahel Arbeit. »An sich arbeiten; klar werden, was uns verwirrt und drückt; und wären es die größten Schmerzen«13, riet sie der Frau des Dichters Friedrich de la Motte-Fouqué. »Denn«, so heißt es in einem ihrer Aphorismen, »wir machen unser Ich kontinuirlich«14: Wir sind auch unser eigenes Werk, das wir aber nicht vollenden und abschließen können. Erkennbar hat Rahel nach dieser Maxime selbst gelebt. Gelegentlich hat sie ihr noch eine weitere Zuspitzung gegeben, etwa wenn sie 1801 notierte: »Der Mensch als Mensch ist selbst ein Werk der Kunst.«15 In diesem Gedanken kann man, mit Hannah Arendt, das »romantische Element«16 in Rahels Denken sehen: »daß man aus seinem eigenen Leben durch...