E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Landolt Psychotraumatologie des Kindesalters
3., überarbeitete Auflage 2021
ISBN: 978-3-8444-2879-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grundlagen, Diagnostik und Interventionen
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-8444-2879-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gewalterleben, Vernachlässigung, Unfälle, Naturkatastrophen und lebensbedrohliche Krankheiten gehören zu den häufigsten Ursachen für die Entwicklung von Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen. Wie entstehen solche Störungen? Wie können sie erfasst werden? Welche Möglichkeiten der Prävention gibt es und welche therapeutischen Behandlungen sind geeignet und wirksam? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die Kinderpsychotraumatologie, über deren aktuelle Entwicklungen dieses Buch einen Überblick gibt.
Die vorliegende Neuauflage geht auf die Klassifikation von Traumafolgestörungen nach DSM-5 und ICD-11 ein und informiert über neue Methoden und Weiterentwicklungen im Bereich der Diagnostik. Weitere Kapitel diskutieren Entstehungsmodelle und biologische Faktoren unter Berücksichtigung aktueller Forschungsbefunde. Neben Interventionsmöglichkeiten in der Notfallpsychologie werden therapeutische Verfahren vorgestellt, die sich in der Behandlung von Traumafolgestörungen als wirksam erwiesen haben, wie z.B. die kognitive Verhaltenstherapie, die traumabezogene Spieltherapie, EMDR und die narrative Expositionstherapie. Abschließend wird auf langfristige Auswirkungen kindlicher Traumatisierungen und traumabedingte Reifeprozesse eingegangen. Der Band bietet somit eine wertvolle Hilfe für alle, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten.
Zielgruppe
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen, Kinder- und Jugendpsychiater_innen, Kinder- und Jugendpsycholog_innen, Schulpsycholog_innen, Pädiater_innen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Kinder- & Jugendpsychiatrie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Pädiatrie, Neonatologie
Weitere Infos & Material
|17|1 Einleitung
1.1 Das Fachgebiet der Psychotraumatologie
Der Begriff der Traumatologie (von griech. Trauma?=?Verletzung) bezeichnet traditionellerweise einen Zweig der Chirurgie, der sich mit körperlichen Verletzungen beschäftigt. Analog und in Abgrenzung zur somatischen Traumatologie steht der Begriff der Psychotraumatologie, der sich mit der Entstehung, der Phänomenologie, dem Verlauf, den Folgen und der Behandlung von seelischen Verletzungen befasst, die in der Folge extrem belastender Ereignisse auftreten. Entsprechend befasst sich die Kinderpsychotraumatologie, so wie sie in diesem Buch verstanden wird, mit der Psychotraumatologie bei Individuen bis zum Alter von 18 Jahren. Die moderne Psychotraumatologie als interdisziplinäre wissenschaftliche Disziplin begann mit der Einführung der diagnostischen Kategorie der posttraumatischen Belastungsstörung im DSM-III (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen; American Psychiatric Association, 1980) und hat seither einen starken Aufschwung erlebt. Dies zeigt sich beispielsweise anhand der enormen Zunahme entsprechender Publikationen (vgl. Abb. 1). Dieser Aufschwung stand zunächst im Zusammenhang mit den Folgen des Vietnamkriegs, in welchem eine große Zahl amerikanischer Soldatinnen und Soldaten psychisch traumatisiert worden war. Mit der Zunahme der terroristischen Bedrohungen und Anschläge seit der Jahrtausendwende sowie einer Vielzahl von Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Flutkatastrophen ist ein zunehmendes Bewusstsein einhergegangen, dass Menschen durch solche Ereignisse nicht nur körperlich, sondern in einem erheblichen Maße auch seelisch verletzt werden können. Erstaunlicherweise herrschte noch bis weit in die 1980er Jahre in den maßgebenden Lehrbüchern der Kinderpsychiatrie die Ansicht vor, dass Kinder nur mit kurzfristigen Störungen auf traumatische Ereignisse reagieren (Garmezy & Rutter, 1985). Aufgrund unangepasster Untersuchungsmethoden und der alleinigen Abstützung auf Informationen von Eltern und Lehrkräften war das Ausmaß kindlicher Reaktionen auf psychische Traumatisierungen lange Zeit nicht wahrgenommen bzw. massiv unterschätzt worden. Systematische Beschreibungen psychotraumatischer Symptome im Kindesalter finden sich in der Fachliteratur seit |18|ungefähr Mitte der 1980er Jahre, wobei das diagnostische Konzept anfänglich noch unklar blieb. Erst im Jahre 1988 mit der Einführung des DSM-III-R (American Psychiatric Association, 1987) erkannte die Fachwelt das Vorhandensein posttraumatischer Belastungsstörungen explizit auch bei Kindern an. Damit war die Grundlage für die Entwicklung des Fachgebietes der Kinderpsychotraumatologie gelegt. Die Zahl entsprechender Publikationen zum Kindes- und Jugendalter ist seit Beginn der 1990er Jahre kontinuierlich angestiegen (vgl. Abb. 1). Etwas verspätet hat die Kinderpsychotraumatologie seit der Jahrtausendwende auch im deutschsprachigen Raum zunehmend an Bedeutung gewonnen und ist im klinischen und akademischen Kontext zunehmend besser verankert. Die Bedeutung der Psychotraumatologie für die praktische Tätigkeit von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten ergibt sich aus der Häufigkeit traumatischer Ereignisse im Leben von Kindern und Jugendlichen. In der Bremer Jugendstudie (Essau, Conradt & Petermann, 1999) berichten 22.5?% der befragten Jugendlichen, irgendwann in ihrem bisherigen Leben ein potenziell traumatisches Ereignis erlebt zu haben. Am häufigsten wurden körperliche Angriffe, Verletzungen und schwerwiegende Unfälle genannt. Zu vergleichbaren Befunden kam eine andere epidemiologische Studie aus Deutschland, in welcher 26?% der jungen Männer und 17.7?% der jungen Frauen im Alter von 14 bis 24 Jahren über mindestens ein traumatisches Ereignis in ihrem Leben berichten (Perkonigg, Kessler, Storz & Wittchen, 2000). Sogar deutlich höhere Raten zeigten sich in einer neueren bevölkerungsrepräsentativen Studie bei Jugendlichen aus der Schweiz, in welcher 56.6?% der Mädchen und 55.7?% der Jungen im Selbstbericht angaben, |19|dass sie in ihrem Leben schon einmal ein potenziell traumatisches Ereignis erlebt haben (Landolt, Schnyder, Maier, Schoenbucher & Mohler-Kuo, 2013). Eine signifikante Minderheit dieser Kinder und Jugendlichen entwickelt in der Folge posttraumatische psychische Störungen. Angaben zur Lebenszeitprävalenz der posttraumatischen Belastungsstörung im Kindes- und Jugendalter schwanken in Abhängigkeit der untersuchten Population zwischen 1.3 und 9.2?%. Je nach Art, Dauer und Frequenz der Ereignisse entwickeln allerdings bis zu 100?% der traumatisierten Kinder und Jugendlichen klinisch relevante und damit behandlungsbedürftige psychische Störungen. Posttraumatische Belastungsstörungen und andere Arten von Traumafolgestörungen gehören insgesamt gesehen zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Kinderpsychologinnen und -psychologen sowie Kinderpsychiaterinnen und -psychiater sind entsprechend in ihrer Tätigkeit immer wieder mit traumatisierten, psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Diese Störungen chronifizieren zudem rasch und können eingreifende und lebenslange Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit haben (vgl. Kapitel 10). Ein vertieftes psychotraumatologisches Wissen sowie Kompetenzen in der Diagnostik und Behandlung von Traumafolgestörungen sind deshalb von hoher Relevanz für psychologische und ärztliche Psychotherapeutinnen und -psychotherapeuten. 1.2 Der Traumabegriff
1.2.1 Definition Es gibt unzählige Beschreibungen und Definitionen dessen, was unter einem psychischen Trauma verstanden wird, und diese Definitionen haben sich teilweise auch über die Zeit verändert bzw. werden an neue Forschungsbefunde und Theorien angepasst. Einerseits kann zwischen phänomenologischen und klassifikationssystembasierten Definitionen des Traumas unterschieden werden. Andererseits unterscheiden sich die Definitionen auch dahingehend, ob sie nur das Ereignis als solches definieren oder auch die Reaktionen des Individuums auf das Ereignis miteinbeziehen. Ein Beispiel für eine phänomenologische Definition ist jene von Tyson und Tyson (1990), welche ein psychisches Trauma aufgrund folgender drei Merkmale bestimmen: Es handelt sich um eine existenziell bedrohliche, überwältigende Lebenssituation. Die Situation überfordert die Fähigkeit des Ich zur Organisation und Regulation. Die Situation geht mit einem Zustand von Ohnmacht einher. |20|Beispiele für klassifikationssystembasierte Traumadefinitionen sind jene aus der ICD-111 (World Health Organization, 2018) oder dem DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013, 2015). Die genauen Definitionen sind in Kapitel 3.3 dargestellt. Gemäß ICD-11 muss das Ereignis extrem bedrohlich oder entsetzlich sein, damit es die Definitionskriterien für ein Trauma erfüllt. Im DSM-5 wird ein traumatisches Ereignis definiert als eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt. Dabei wird noch spezifiziert, dass eine solche Konfrontation direkt oder als Zeuge oder Zeugin erlebt werden kann. Außerdem wird erwähnt, dass bereits die Nachricht, dass ein solches Ereignis einer nahestehenden Person zugestoßen ist oder dass man beispielsweise im Rahmen des Berufes wiederholt mit aversiven Details solcher Ereignisse konfrontiert worden ist, die Traumadefinition erfüllt. Die Definitionen in den beiden Klassifikationssystemen unterscheiden sich insofern, als dass die infrage kommenden Ereignisse im DSM-5 etwas genauer spezifiziert und eingegrenzt sind, während die Definition in der ICD-11 allgemeiner gehalten ist und dem subjektiven Erleben bzw. der subjektiven Einschätzung der betroffenen Person ein größeres Gewicht gibt. Erwähnenswert ist, dass es im DSM-5 eine angepasste Definition für Kinder unter dem Alter von 6 Jahren gibt. Diese unterscheidet sich insofern von der Definition bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, als dass bezeugte Ereignisse bei jungen Kindern besonders dann als relevant betrachtet werden, wenn sie eine primäre Bezugsperson ...