E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Michael Winter ermittelt
Langer Gnädig ist der Tod
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-21499-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Wien-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Michael Winter ermittelt
ISBN: 978-3-641-21499-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog »Jedes Kind hat ein Recht auf Leben«, sagt sie und fügt bestimmt hinzu: »Aber nur die wenigsten hätten je gezeugt werden dürfen!« In Situationen wie diesen verfluche ich den Tag, an dem ich beschloss, Polizist zu werden. Auf den Fotos, die ich in meinen Händen halte, liegt ein Mädchen auf seinem Bett. Es heißt Antonia. Vor drei Wochen hat Antonia ihren achten Geburtstag gefeiert. Ihr Kopf ruht auf einem weichen Kissen, und in eine flauschige Decke eingehüllt sieht sie aus, als würde sie schlafen. Ein friedliches Bild, wären da nicht diese Striemen an den Handgelenken, wo die Fesseln ins Fleisch geschnitten haben, diese aufgerissenen Lippen, diese aschfahle Haut. Ich kann den Tod riechen, auch wenn ich mich längst nicht mehr am Tatort befinde, sondern in einem Gruppenraum des Wiener Landeskriminalamtes sitze. Ich lege die Fotos hin und sehe in die Augen ihrer Mutter, einer zweifachen Mörderin. Sie sind wie kalte nasse Steine, an denen man abrutscht und in die Tiefe fällt. Alles an dieser Frau ist streng und diszipliniert. Ihr langes blondgefärbtes Haar wird mit einigen Spangen militärisch in Zaum gehalten, ihre Augenbrauen und Fingernägel wurden vor Kurzem einer sorgfältigen Pflege unterzogen, ihr Lippenstift ist dezent und mit klarem sicherem Strich aufgetragen. Auch ihre weiße Bluse ist frisch gewaschen und verströmt einen zarten Geruch nach Weichspüler. Ich weiß, dass ich die Fragen jetzt stellen muss, und sie beantwortet sie mit der Präzision einer geeichten Maschine. Ich bemühe mich, ihr nicht in die Augen zu sehen, und betrachte stattdessen ihre geraden weißen Zähne, ihre Grübchen, die links und rechts symmetrisch ihr Lächeln einfassen und ihre kleinen Ohren, die zwei grüne Perlen zieren, kalt wie der Meeresgrund. Ihr Atem geht ruhig und regelmäßig. Hinter ihr an der Wand tickt eine Uhr mit großen schwarzen Ziffern. Tick, tick, tick. Sie tickt verdammt richtig, denke ich. »Und Sie«, beginne ich und schlage mein Notizbuch auf, »was hat Sie aus der Bahn geworfen?« Ich weiß nicht, warum ich das sage, es kommt, ohne zu überlegen. Ich fühle nichts außer diese Abneigung dagegen, hier zu sein, diesen Wunsch, mein Studium nicht abgebrochen zu haben, nicht in diese kalten Augen blicken zu müssen. Zu meiner Überraschung antwortet sie: »Ihr Vater hat ihr wehgetan.« Dann schweigt sie wieder. Behutsam hake ich nach: »Inwiefern wehgetan?« Sie scheint zu überlegen, nach den passenden, ihrer Meinung nach der Situation angemessenen Worten zu suchen. Sie spricht nichts unbedacht, plaudert nicht, jedes ihrer Worte hat Gewicht. »Er hat sie missbraucht.« Ich höre den Satz, lasse ihn in mich eindringen. Dann reiße ich ein Blatt mit den Daten zu ihrer Person aus meinem Notizbuch, lege es vor mich hin und streife es glatt. Isabella Martin, 32 Jahre, Besitzerin einer kleinen Boutique im 8. Bezirk, wohnhaft in der Taborstraße im 2. Bezirk, keine Vorstrafen, verheiratet, ein Kind. Sie sieht mich an, schweigt, erwartet, dass ich weitere Fragen stelle, klar und präzise. Auch wenn es mir widerstrebt, muss ich auf sie eingehen. Also fordere ich sie auf, mir im Detail zu schildern, was genau er getan hat. Sie legt ihre linke Hand auf die rechte, atmet etwas stärker aus als zuvor. »Er hat sie berührt«, presst sie hervor. Ich warte eine gefühlte Minute, aber es werden wohl nur Sekunden gewesen sein. Dann fließt es aus ihr heraus. »Am Anfang war es kaum zu merken. Er hat seine Hand auf ihre Schulter gelegt und dabei ihren Hals gestreichelt. Nichts Besonderes. Dann hat er sie manchmal von hinten umarmt und dabei ihre kleinen Brüste berührt. Sie war recht reif für eine Achtjährige. Ich weiß genau, dass es nicht einfach aus Versehen passiert ist. Ich habe es ihm sehr bald angesehen. Er wollte sie haben. Wenn wir miteinander geschlafen haben, hat er an sie gedacht. Sagen Sie nichts! Ich weiß es einfach. Eine Mutter spürt so was.« Ich wage nicht zu widersprechen und nicke nur. »Wenn sie auf dem Sofa saßen und fernsahen, hat er ihre Knie gestreichelt und die Oberschenkel. Sie hat nicht gewusst, was sie tun sollte. Er war einfach zu stark, nicht physisch, meine ich, aber psychisch. Manchmal hat sie mich angesehen, Hilfe suchend. Ich habe ihn zur Rede gestellt, aber er hat nur gelacht. Es sei ja wohl nichts dabei, seine Tochter zu liebkosen. Ja, genau so hat er es gesagt. ›Liebkosen‹. Ich habe mir noch gedacht, was für eine eigenartige Wortwahl: ›Liebkosen‹.« Ich höre zu. Mache mir Notizen, während sie redet, zeichne ein Mädchen mit Kniestrümpfen, das auf einem Sofa sitzt, und neben ihm einen übergroßen Mann. Ich weiß, dass er gar nicht groß war. Vielleicht einen Meter siebzig. Aber muskulös, zumindest wirkt er auf den Fotos so, die wir in der Wohnung sichergestellt haben. An seinem Körper konnte man das nicht mehr sehen. Dazu war zu wenig von ihm am Stück vorhanden. Seine Frau hat ihn in praktisch abpackbare Portionen zerteilt und diese im Gefrierschrank eingefroren. Sie wurden längst abgeholt und befinden sich in der Gerichtsmedizin. »Es war am 2. Februar«, sagt sie. »An dem Tag habe ich sie allein mit ihm gelassen. Das geschah nur sehr selten im letzten Jahr. Ich habe das vermieden. Und ich weiß auch, warum.« Sie schweigt wieder, scheint nachzudenken. Ich lasse ihr Zeit. »Sie waren allein. Ganze zwei Stunden. Das war einzig und allein mein Fehler.« Zum ersten Mal während unseres Gesprächs wirkt sie nervös. Aber sie fängt sich rasch, atmet ruhig ein und aus und sieht mich an. »Sie sind dagesessen, als wäre nichts gewesen, aber ich habe es in ihren Augen gesehen. Eine Mutter …« »Ich weiß«, unterbreche ich sie, »eine Mutter spürt so was. Hat Ihre Tochter irgendwann darüber gesprochen?« Sie nickt. »Am nächsten Tag, als er in der Arbeit war. Sie hat sich an mich geklammert wie ein Kleinkind und mir alles erzählt. Jede Einzelheit.« Ich warte, aber sie macht eine quälend lange Pause. Ich spüre Unruhe in mir aufsteigen. Lass ihr Zeit, ermahne ich mich selbst, nur dann wirst du begreifen, was passiert ist. Warum eine Frau ihren Mann getötet und zerstückelt und danach ihre Tochter ans Bett gefesselt hat, ihr nichts mehr zu trinken und zu essen gab, eine unerträglich qualvolle Woche lang. Und warum die Nachbarn nichts gehört haben. Sie streicht ihren Rock glatt und richtet dann den Oberkörper kerzengerade auf, bereit für die Offenbarung. »Er hat sie gestreichelt. Und als sie ihm sagte, dass es ihr unangenehm sei, hat er nur gemeint, dass man das für seinen Vater tut, wenn man ihn liebt. Ob sie ihn denn überhaupt lieb hat. Sie hat ihm gesagt, dass sie ihn sehr lieb hat. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt. Wie das denn sein kann, wenn sie ihm nicht erlaubt, sie zu streicheln.« Langsam und ruhig erzählt sie weiter, und ich erfahre, wie es dazu kommen konnte, dass ein Vater seine achtjährige Tochter dazu brachte, ihre Kleider auszuziehen und ihre Brust streicheln zu lassen. Wie sie selbst dabei half, dem Vater Hose und Unterhose auszuziehen, und er sie dazu nötigte, seinen Penis anzufassen und ihm schließlich zu gestatten, mit dem Penis ihre Klitoris zu berühren. Das Schlimmste, so sagt sie, war wohl, dass das Mädchen etwas empfunden zu haben glaubte, von dem sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte, ein prickelndes Gefühl, etwas unangenehm Angenehmes, etwas, wofür sie sich schämte. Sie erzählt wieder in der gewohnten Ordnung, ohne Umschweife. »Ich habe ihn zur Rede gestellt, aber er hat nur gelacht. Welche Fantasie so ein Kind habe. Wie ich so etwas glauben könne. Ich wusste es. Wenn er den Mut gehabt hätte, es zuzugeben.« Würde er dann noch leben? Ich zweifle daran, aber ich kann mich irren. Zwar liege ich selten falsch, aber es passiert. Ich vermute, an diesem Tag war sein Schicksal beschlossen. Seines. Aber das des Mädchens? Selbst nach fast dreißig Jahren Polizeidienst kann ich das nicht verstehen. Warum musste das Mädchen sterben? Noch ist es nicht so weit, ihr diese Frage zu stellen. Noch ist sie zu wütend auf ihn, noch möchte sie einfach nur über ihn sprechen, möchte den Mord mir gegenüber darstellen, aber nicht verteidigen, dazu sieht sie keinen Anlass. Sie gleicht vielmehr einer Schauspielerin, die ihre beste Rolle nicht ohne Publikum spielen kann und die wogende Masse braucht, unsichtbar im Scheinwerferlicht, aber trotzdem gegenwärtig, gebannt auf die Bühne starrend. Ich bin jetzt das Publikum und muss meinerseits meine Rolle gut spielen, sonst wird der Vorhang bei ihr fallen, ohne dass ich das Ende mitbekomme. Also ermuntere ich sie weiterzuerzählen, und sie geht darauf ein. Ich vermute, wir sind erst im ersten Akt, noch lange vor der ersehnten Pause. Wieder fühle ich dieses Ziehen im Nacken, die beginnenden Kopfschmerzen. Ich möchte meine Schläfen massieren, an etwas Schönes denken, das mich entspannt, aber ihre eisigen Augen nehmen mich gefangen. Ich lege den Stift beiseite, weil meine Hand zu zittern beginnt. Sie bemerkt es, und für einen Augenblick überlege ich, was sie von mir hält. Ich glaube, dass sie sich fragt, ob ich jemals Schuld auf mich geladen habe und wie sie mich einordnen soll. Sie denkt in Kategorien wie sauber gegen schmutzig, rein gegen unrein, für den Himmel bestimmt oder das Fegefeuer. Die Hölle ist schon für ihren Mann reserviert. Ich nehme den Faden wieder auf. »Wie lange waren Sie mit ihm verheiratet?« »Dreizehn Jahre, vier Monate und drei Tage, nein, ich muss nachdenken …« Sie sieht mir auf den Mund. Soll ich es ihr...