E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Laumann / Coffey Gojnormativität
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95732-531-0
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-95732-531-0
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antisemitismus und jüdische Perspektiven stellen häufig eine Leerstelle in intersektionalen Debatten und Debatten über Intersektionalität dar. Das vorliegende Buch macht jüdische Positionen und Erfahrungen mit dem Konzept der Gojnormativität artikulier- und sichtbar. Es lotet das Verhältnis von Jüdischsein und Weißsein aus, geht der spezifischen Unsichtbarkeit von Juden_Jüdinnen nach und schaut sich Debatten über Antisemitismus und Gedenkpolitiken mit einem spezifischen Fokus an. »Gojnormativität« fordert ein anderes Sprechen über Antisemitismus ein sowie das konsequente und bedingungslose Einbeziehen von Juden_Jüdinnen in intersektionale Diskurse und Politiken. Gleichzeitig ist das Buch ein engagiertes Plädoyer für solidarische und intersektionale Bündnisse und Allianzen.
JUDITH COFFEY setzt sich mit Antisemitismus in linken und queer-feministischen aktivistischen Zusammenhängen auseinander. Weitere Themenschwerpunkte sind Heteronormativität, postkoloniale Theorien, Feminismus und Vampire. Judith Coffey ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, kommt aus Wien und lebt in Berlin. VIVIEN LAUMANN ist in der Rechtsextremismusprävention tätig und hat langjährige Erfahrung in der Bildungs- und Beratungsarbeit zur Schoa, zu Antisemitismus, Geschlechterverhältnissen sowie geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Sie ist Autorin und Mitherausgeberin von zahlreichen Veröffentlichungen in diesen Themenfeldern. Vivien Laumann lebt und arbeitet in Berlin.
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2. JUDE UND GOJ
Der Rahmen, in dem in Deutschland und Österreich über Juden_Jüdinnen oder Jüdischsein gesprochen wird, ist eng gesteckt. Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, bezeichnet die Wahrnehmung von Juden_Jüdinnen in Deutschland als vorstrukturiert durch das »mediale Dreieck« Antisemitismus, Schoa und Israel.1 Auch andere Akteur_innen kritisieren die Einengung der Thematisierung jüdischen Lebens in Deutschland und Österreich auf die Kontexte Schoa, Antisemitismus oder Israel/Palästina. So schreiben etwa Max Czollek und Sasha Marianna Salzmann im Vorwort des Katalogs zum »Desintegrations-Kongress«: »Um heute eine öffentliche Jüd*in / ein öffentlicher Jude* zu sein, genügt es, über Antisemitismus, die Shoahgeschichte der eigenen Familie und die Politik Israels zu sprechen.«2 In diesem engen Rahmen erscheinen Juden_Jüdinnen als tot, als Opfer (der Schoa bzw. allgemein von Antisemitismus) oder – je nach politischem Standpunkt – als Täter_innen oder Bedrohte (Israel), selten aber mit anderen Bezügen, in anderen Rollen oder zu anderen Themen. Aus jüdischen Perspektiven gibt es eine berechtigte und in den letzten Jahren zunehmend laut vernehmbare Kritik an der thematischen Engführung, weil diese das Bild über Juden_Jüdinnen und die damit verbundenen negativen und/oder paternalistischen Gefühle zu ihnen prägt. Allerdings stellten die Herausgeberinnen des Bandes »Nach der Shoa geboren« schon 1994 die gleichen Fragen: »Beschränkt sich die jüdische Identität auf die Erfahrung von Antisemitismus und der Verfolgung der Elterngeneration? Oder auf religiöses Engagement oder die Identifikation mit Israel?«3 Von einer neuen Entwicklung kann also eigentlich nicht die Rede sein. Umso schlimmer, dass sich seitdem wenig verändert hat. Andere – positive, heterogene und alltägliche – Aspekte jüdischen Lebens bleiben meist unbenannt, wodurch sich für Nicht-Juden_Jüdinnen ein recht eindimensionales Bild davon zeichnet, was es heißt, in Deutschland oder Österreich jüdisch zu sein oder jüdische Bezüge zu haben. Die Forderung, Jüdischsein auch unter anderen Gesichtspunkten zu verhandeln und ein vieldimensionales und vielstimmiges Bild von Jüdischsein zu zeichnen, teilen wir. Es gibt, wie bereits erwähnt, zunehmend Projekte und Stimmen aus jüdischen Communities, die genau das versuchen. Wir befinden uns hier in einem Dilemma. Denn wenn wir mit jüdischen Perspektiven zu Themen aus dem diskursiven Feld »Schoa – Antisemitismus – Israel« sprechen, schreiben wir unsere Festlegung auf diese Themen weiter. Gleichzeitig kann es nicht sein, dass wir dazu schweigen, solange die Verhältnisse so sind, wie sie eben sind. Was soll es bringen, wenn, wie Mirna Funk kritisch (und möglicherweise polemisch zugespitzt bzw. dem nicht-jüdischen Publikum den Spiegel vorhaltend) berichtet, jüdische Autor_innen ihre Literatur als »holocaustfrei« anpreisen,4 außer dass sich das nicht-jüdische deutsche Mehrheitspublikum freut, dass es endlich den Schlussstrich bekommt, den es seit Jahrzehnten fordert? Und das auch noch ganz und gar ohne schlechtes Gewissen, weil der Schlussstrich mit jüdischem Absolutionsstempel daherkommt. Funk bringt die politische Notwendigkeit des öffentlichen Sprechens aus jüdischer Perspektive auch zu den Themen Antisemitismus, Schoa und Israel auf den Punkt, wenn sie schreibt: Solange das Publikum zu mir sagt, dass es noch nie antisemitische Übergriffe erlebt habe, und ich es vorsichtig darauf hinweisen muss, dass dieser Umstand möglicherweise seinem fehlenden Jüdischsein geschuldet ist; solange das Publikum von ›Ihrer Regierung‹ spricht, wenn es die Regierung Israels meint, und ich es berichtigen muss, dass ich Deutsche und nicht Israelin bin; solange manisch an Israels Politik herumkritisiert werden muss, während man die politischen Entwicklungen in Deutschland aus dem Blick verliert; solange bei den Worten ›Jude‹, ›Holocaust‹ und ›Konzentrationslager‹ mit den Augen gerollt wird, als würde man einen Teenager bitten, den Müll rauszutragen, solange wird es Juden geben, die darauf aufmerksam machen, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen ist.5 Dazu kommt ein zweites Dilemma, das sich für uns vor allem in Bezug auf die Festschreibung von Juden_Jüdinnen auf die Schoa und die familiäre Verfolgungsgeschichte ergibt. Denn obgleich wir die oben skizzierte Kritik an der thematischen Engführung teilen, sind gerade die Schoa, die Erfahrung von Verfolgung, Verstecken, Flucht und Exil und die transgenerationale Weitergabe dieser Erfahrungen sowie die postnationalsozialistischen Kontinuitäten in der deutschen und österreichischen Gesellschaft für uns diejenigen Themen, um die unsere (identitären) Fragen immer wieder kreisen und die uns im Zusammenhang mit unseren jüdischen Bezügen beschäftigen. Traurig aber wahr, denn so ist der eigene Bezug zum Jüdischsein auch für Juden_Jüdinnen manchmal vor allem von Vernichtung und Verfolgung geprägt. Dies gilt vor allem für Biographien, in denen es in den Familien keine oder sehr wenig religiöse oder kulturelle (positive) Bezüge zum Jüdischsein gibt. Die Abspaltung, Verheimlichung und Verdrängung alles Jüdischen nach der Schoa und der daraus entstehende Bruch in der Weitergabe von Erfahrungen, Traditionen und (Familien-) Geschichten kann ebenso eine Folge der Verfolgung und Vernichtung sein. Studien haben gezeigt, was wir auch aus eigener Erfahrung wissen, dass das Trauma der Verfolgung von den Überlebenden an ihre Kinder und Enkelkinder weitergegeben wurde und wird.6 Diese »transgenerative Weitergabe« oder diese »Gefühlserbschaften« halten die Erinnerung in die Gegenwart hinein lebendig, auch wenn die Erzählungen vor allem aus Auslassungen und Nicht-Gesagtem bestehen.7 Für Juden_Jüdinnen ist darin ein außerordentlich hohes Identifikationspotenzial und gleichzeitig ein hoher Identifikationsdruck enthalten. Marina Chernivsky beschreibt das wie folgt: Durch die Identifikation und Angehörigkeit zum jüdischen Kollektiv beziehen die Nachkommen der Überlebenden die Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern und Großeltern auf sich und durchleben ihre Verfolgung stellvertretend, ohne auch nur ansatzweise dabei gewesen zu sein.8 All das macht das Erinnern unentrinnbar. Selbst wenn wir uns der Thematik aktiv verweigern, geistert sie doch immer irgendwo herum. Marianne Hirsch spricht deswegen sehr treffend von der Heimsuchung durch weitergegebene Erinnerungen als »Postmemory«.9 Über diese Themen müssen und wollen wir also sprechen. Für uns kann die Konsequenz aus der Problematisierung dieser thematischen Einengung nicht sein, nichts mehr dazu zu sagen. Jedoch ist dabei die entscheidende Frage, wer darüber wie, in welchem Setting und mit welcher Intention spricht. Das ist im Übrigen auch das Ziel der meisten Juden_Jüdinnen, wenn sie die Festlegung von Juden_Jüdinnen auf die Themen Antisemitismus, Schoa und Israel kritisieren. Max Czollek zum Beispiel weist zu Beginn seines Buches »Desintegriert Euch!« darauf hin, wie vorkonfiguriert der Diskurs ist: Sobald eine jüdische Person auf eine Frage nach einem dieser Themen antwortet, befindet sie sich schon mitten auf der Bühne des Gedächtnistheaters. […] Die […] Unterwerfung unter den Ruf des Gedächtnistheaters ist ein nahezu unvermeidlicher Prozess, will man jüdischerseits das Reden über Antisemitismus, Shoah und Israel nicht gänzlich einstellen. Deshalb handelt dieses Buch auch nicht vom Ausweg aus dem Gedächtnistheater, sondern vom Spielraum, den Juden und Jüdinnen erlangen können, wenn sie sich der grundlegenden Dynamik bewusst werden.10 Es geht also darum, für uns selbst eine Sprechposition unabhängig von Fetischisierung, Negierung oder Vereinnahmung zu erarbeiten und zu erkämpfen. Dabei stellt sich allerdings direkt die Frage, wer dieses »wir« ist. Wer ist jüdisch, wer darf, kann und will sich als Jude_Jüdin bezeichnen? Was ist Jüdischsein überhaupt? Was ist jüdisch?
Jüdisch ist, wer an einen jüdischen Gott glaubt? Jüdisch ist, wer sich jüdisch fühlt? Jüdisch ist, wer jüdische Vorfahren hat? Oder gilt nur die mütterliche Linie? Jüdisch ist, wer selbst oder wessen Vorfahren antisemitische Verfolgung erlebt haben? Um diese Fragen kommt niemand herum. Manche machen daraus eine Meta-Definition: Jüdisch ist, wer sich fragt, was (das eigene) Jüdischsein bedeutet. Eine andere Möglichkeit ist es, die Notwendigkeit der Kategorisierung selbst anzuzweifeln. Vor vielen Jahren war ich sehr beeindruckt von einem Absatz in der Reclam-Einführung »Das Judentum« von...