E-Book, Deutsch, 195 Seiten
Reihe: Systemische Therapie
Lawick / Visser Kinder aus der Klemme
2. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8497-8094-4
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Interventionen für Familien in hochkonflikthaften Trennungen
E-Book, Deutsch, 195 Seiten
Reihe: Systemische Therapie
ISBN: 978-3-8497-8094-4
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach einer Trennung leiden Kinder besonders, wenn es Eltern nicht gelingt, einen konstruktiven Weg einzuschlagen. Trauer, Verletzungen und Enttäuschungen sind der Nährboden für nicht enden wollende Konflikte, in denen die Kinder zwischen die Fronten, in einen Loyalitätskonflikt und überhaupt aus dem Blick geraten. Sie stecken in der Klemme.
Justine van Lawick und Margreet Visser haben mit ihrem Programm "Kinder aus der Klemme" einen neuen Weg für diese Familien gefunden. Sie arbeiten im Multifamiliensetting mit zwei parallelen Gruppen: einer Elterngruppe und einer Kindergruppe. Statt auf die Fehler und Verletzungen des anderen Elternteils wird der Blick wieder auf die Kinder gerichtet. Und statt wie gewohnt zu zweit in alte Muster zu verfallen, werden die Eltern angeregt, neue Sichtweisen zu entwickeln – nicht zuletzt durch Rückmeldungen der anderen Eltern.
Auch die Kinder machen neue Erfahrungen: Sie sind nicht allein, anderen Kindern geht es ähnlich. Und sie sind nicht komplett ausgeschlossen oder auf sich allein gestellt, wenn die Eltern aufeinander treffen. Im geschützten Rahmen können sie ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck verleihen, werden gestärkt und merken: Die Eltern arbeiten wegen ihnen.
Annegret Eckhart-Ringel und Stephanie Schöne übertragen das ursprünglich aus den Niederlanden stammende Programm auf die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum und machen es damit sowohl für Jugendhilfe und Erziehungsberatung wie auch für den klinischen Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugänglich.
Zielgruppe
Sozialarbeiter
Sozialpädagogen
Mitarbeiter in der Jugendhilfe
Mediatoren
Familientherapeuten
Paartherapeuten
Gruppenpsychotherapeuten
Multifamilientherapeuten
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Arbeit/Sozialpädagogik Soziale Arbeit/Sozialpädagogik: Familie, Kinder, Jugendliche
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Familientherapie, Paartherapie, Gruppentherapie
Weitere Infos & Material
1 Einleitung
In den Niederlanden erleben jedes Jahr etwa 70.000 Kinder, wie die Beziehung ihrer Eltern zerbricht (Sprangers, Steenbrink u. de Graaf 2008; Latten 2004; Spruijt 2007; Steenhof u. Harmsen 2002). Die meisten Trennungen (ca. 70 %) verlaufen akzeptabel bis gut. Den Partnern gelingt es, eine Regelung zu treffen, die die Lebensqualität beider Eltern und ihrer Kinder kaum beeinträchtigt. In Deutschland wird etwa ein gutes Drittel (35 %) aller Eheschließungen im Laufe der folgenden 25 Jahre wieder geschieden (Zahlen aus dem Jahr 2014, Statistisches Bundesamt, Auszug aus dem Datenreport 2016, E. Krack-Roberg et al.). 2014 erlebten 134.800 minderjährige Kinder die Scheidung ihrer Eltern. Zusätzlich sind die Kinder zu berücksichtigen, die in Lebensgemeinschaften ohne Trauschein aufwachsen. Diese Familienform ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen (um 22 % im Jahr 2014, ebd.). Es ist davon auszugehen, dass die Trennungsrate in dieser Familienform etwa der der herkömmlichen Familienform entspricht. Neuere Untersuchungen zeigen zwar, dass Kindern die vielen Veränderungen und die Anpassungen, zu denen die neue Situation sie zwingt, oft zu schaffen machen, aber nach einiger Zeit und auf lange Sicht geht es den meisten Kindern wieder gut. Sie merken, dass sie ihren Eltern sehr wichtig sind und dass sie trotz der emotionalen und anderweitigen Probleme, die mit der Trennung verbunden sind, weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit ihrer Eltern stehen. Längerfristig besteht dann kein Unterschied mehr zwischen ihrer Situation und derjenigen der Kinder von Eltern, die sich nicht trennen (Buysse et al. 2011; Hughes 2005). Kinder scheinen insbesondere unter den Streitigkeiten von Eltern zu leiden, unabhängig davon, ob diese zusammen oder getrennt leben. Bei etwa 30 Prozent aller Trennungen entstehen finanzielle Probleme und/oder Differenzen über den Elternplan2. Bei 15 Prozent dieser Gruppe verläuft die Trennung sehr problematisch (Spruijt 2007). Aus einer kürzlich durchgeführten Untersuchung (van der Valk e. Spruijt 2013) geht hervor, dass bei der untersuchten Elterngruppe die Erstellung eines Elternplans den Streit noch verschärfte. In Deutschland müssen im Scheidungsverfahren nur die eigentliche Scheidung vollzogen und der Versorgungsausgleich geregelt werden. Klärungen bezüglich des Sorgerechts oder der Umgangsregeln werden selten im Rahmen des eigentlichen Scheidungsverfahrens geklärt. Kommt es zu Streitigkeiten zwischen den Eltern, werden in der Regel eigene Gerichtsverfahren angestrengt, die Anwälte und Gerichte über Jahre beschäftigen können. Dabei ist die Hälfte der Sorgerechtsverfahren durch hochstrittige, nicht verheiratete Eltern verursacht. Es gibt Untersuchungen, die nahelegen, dass insgesamt knapp 30 % der Trennungen strittig verlaufen (Fichtner et al. 2010). Möglichkeiten wie eine durch das Jugendamt organisierte Mediation oder Beratung oder sogar eine gerichtliche Mediation sind in diesen Fällen kaum hilfreich (bke-Stellungnahme 2005). An diese Gruppe wendet sich unser Programm. Eine Trennung/ Scheidung ist ein Prozess, der sich über Jahre dahinschleppt und der durch Destruktion, Rachsucht, Argwohn und Dämonisierung gekennzeichnet ist. Auch Eltern, die nie zusammengewohnt haben, sich aber das Sorgerecht für ihr Kind bzw. ihre Kinder teilen, verstricken sich manchmal in nicht enden wollende Kämpfe um Sorgerechts- und Umgangsregelungen. Angesichts solcher destruktiver Prozesse befinden sich die Kinder in einer ausweglosen Situation und erleiden psychischen Schaden (Spruijt e. Kormos 2010). In den Niederlanden leiden pro Jahr ungefähr 3.000 Kinder unter den enormen Trennungsstreitigkeiten der Eltern. Nach dem Bericht des Kinderombudsmannes (Baracs, Vreeburg-van der Laan e. Dullaert 2014) leiden momentan ca. 16.000 Kinder unter der hochkonflikthaften Trennung bzw. Scheidung ihrer Eltern. Auch in Deutschland sind sehr viele Kinder davon betroffen. Es kann davon ausgegangen werden, dass jährlich ca. 30.000 Fälle hochstrittiger/hochkonflikthafter Trennungen deutsche Gerichte beschäftigen. Manche der Betroffenen kämpfen noch im Erwachsenenalter mit den negativen Folgen. Dies sind erschreckende Fakten, wenn man bedenkt, dass zwischen den Konflikten der Eltern und den psychosozialen Konflikten von Kindern, wie sie in Ängsten, Depressionen und aggressivem Verhalten zum Ausdruck kommen, ein enger Zusammenhang besteht (Amato e. Cheadle 2005; Amato a. Keith 1991). Und je heftiger die Trennungskonflikte der Eltern sind, umso gravierender sind die psychosozialen Folgen für die Kinder (Amato 2001; Amato a. Keith 1991; van Lawick 2012). Charakteristisch für hochkonflikthafte Trennungen sind langwierige Auseinandersetzungen, Feindseligkeiten, Schuldzuweisungen, emotionale Instabilität und das Unvermögen der Partner, für ihren Anteil an den Streitigkeiten Verantwortung zu übernehmen (Anderson et al. 2010). Dies alles führt zu einem Austausch von Negativität, der eskalieren kann (Ridley, Wilhelm a. Surra 2001). Middelberg (2001) nennt dieses Muster den »Tanz des Konflikts«, der aus Schuldzuweisungen, Kritik, Mangel an Empathie, emotionaler Reaktivität und einem Teufelskreis aus Angriff und Gegenangriff besteht. Weil in hochkonflikthafte Trennungen oder Scheidungen verwickelte Eltern wenig oder oft kein Gefühl dafür zeigen, welche Auswirkungen ihre Auseinandersetzungen auf ihre Kinder haben, kann man diese Trennungen als eine Form von Kindesmisshandlung verstehen (Dalton, Carbon a. Olesen 2003; van Lawick 2012). Für solche hochkonflikthaften Trennungen, sogenannte »Kampfscheidungen«, sind einige Merkmale charakteristisch, die auch bei emotionaler Kindesmisshandlung (z. B. Erniedrigung, verbaler Gewalt, Einschüchterung, sozialer Isolierung, Drohung, Ablehnung) und bei emotionaler Vernachlässigung (z. B. unzureichender Beaufsichtigung, Unvermögen, emotionalen Schaden vom Kind abzuwenden, unzureichendem Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes) eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass Kinder in solchen Fällen oft Zeugen von Streit und Gewalt zwischen ihren Eltern (z. B. bei häuslicher Gewalt) oder selbst zu Opfern von Gewalt werden. Davies, Winter und Cicchetti (2006) weisen darauf hin, dass sich Gewalt zwischen Eltern sowohl direkt als auch indirekt auf die Kinder auswirken kann. Konflikte zwischen den Eltern können die Erziehung und die Eltern-Kind-Beziehung qualitativ beeinträchtigen (Buehler a. Gerard 2002). Der Zeit- und Geldaufwand insbesondere von Rechtsstreitigkeiten und die mit solchen Streitigkeiten verbundene psychische Belastung können außerdem dazu führen, dass die Eltern wenig Zeit für ihre Kinder haben. Insofern besteht selbst dann, wenn es den Eltern gelingt, ihre Konflikte nicht im Beisein ihrer Kinder auszutragen, die Gefahr einer indirekten nachteiligen Wirkung auf die Kinder infolge eingeschränkter Verfügbarkeit und aufgrund einer Verringerung finanzieller Spielräume. Man braucht sich also nicht zu wundern, dass so viele Kinder unter Stress leiden, wenn sie den Trennungsstreitigkeiten ihrer Eltern ausgesetzt sind. Die häufigsten Reaktionen von Kindern auf das Miterleben von Gewalt zwischen ihren Eltern sind Kummer, Angst, Wut und Ohnmachtsgefühle (Pels, Lünnemann e. Steketee 2011). Wenn der Streit zwischen Eltern (auch nach deren Trennung) anhält, entwickeln Kinder oft psychosoziale Probleme und Traumatisierungen. Zu den Symptomen, die infolgedessen auftreten können, zählen Konzentrationsprobleme, Hyperaktivität, somatische Beschwerden, Depression, Einsamkeitsgefühle, Angst, überangepasstes Verhalten, Schulprobleme, Suizidtendenzen und aggressives, oppositionelles Verhalten (Bream a. Buchanan 2003; Dalton, Carbon a. Olesen 2003; Jaffe, Crooks a. Poisson 2003; Kelly a. Emery 2003; Fichtner et al. 2010). Das vorliegende Buch gibt zunächst eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der beschriebenen Methode, dann folgt eine ausführliche Darstellung der praktischen Anwendung - ihrer Grundzüge und ihrer wichtigsten Aspekte -, womit eine Art Rahmen skizziert wird, der Raum lässt für die individuelle Ausrichtung der Arbeit auf den einzelnen Klienten unter Berücksichtigung der Eigenarten der behandelnden Therapeuten. Dieser »lebendige Rahmen« ist ein wichtiges Kennzeichen der Methode Kinder aus der Klemme, eines Prozesses, der Kollegen dazu anregen soll, ähnlich zu arbeiten. Es handelt sich nicht um ein Buch mit Rezepten, die genau vorgeben, was in welcher Sitzung wie viele Minuten lang geschehen soll, sondern ist eher vergleichbar mit den Anweisungen eines Kochs, der sagt: »Probieren Sie zwischendurch und stellen Sie fest, ob Gewürze fehlen oder ob eher ein Schuss Milch nötig ist.« Allerdings hat sich der von uns entwickelte Ablauf in der Praxis sehr bewährt. Die verschiedenen Aspekte bauen aufeinander auf und helfen den Eltern, zu deeskalieren und ihre Kinder wieder wirklich wahrzunehmen. Zunächst wird am Aufbau einer Arbeitsbeziehung und an der Verstärkung eines Gefühls der Sicherheit gearbeitet. Dies hilft den Eltern und ihren Kindern, Vertrauen in die Behandlung, zu den anderen Eltern in der Elterngruppe und zu sich selbst zu entwickeln, wodurch Raum entsteht, über...