Lehr Schlafende Sonne
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25766-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 640 Seiten
ISBN: 978-3-446-25766-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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4. ANFLUG DES LEHRERS
Rudolf wird auf jeden Fall zu deiner Vernissage erscheinen, beruhige dich. Dass er einen Tag später erst in Berlin eintrifft, ändert nichts daran. Einer muss den Überblick behalten. All die schlafenden Körper. Vorgestern um diese Zeit stand er am linken hinteren Flugzeugfenster und starrte in die zäh nachgebende wattige Finsternis. Weshalb kommt er einen Tag später? Um dich zu erledigen. Um dich zu retten. Nein, wegen dieser anderen Frau natürlich. Die Verwirrung, die er damit hervorgerufen hat, muss ihm gefallen. Angenommen, er liegt jetzt im Bett wie wir. Träumt. Aber was? Und neben wem? Wenn ich mir das nicht vorstellen kann, dann will ich es nicht. Als Wissenschaftler ist er dagegen gewesen, sofort in die Köpfe hineinsehen zu wollen (also es so zu machen, wie er selbst begonnen hat, die Interviews, Chinatown 1977, du erinnerst dich). Morgengrauen und Dämmerung. Hunderte von Träumern im kunstlichttrüben Halbtunnel der Airbus-Kabine, drei Reihen eng zusammengepferchter, in schmerzhaften Stellungen verkrümmter Passagiere, eingesponnen von Bordelektronik, überzischt von Luftdüsen, beschwert von lauwarmen Speisen und fadem Alkohol. Der letzte Bordfilm hatte sich in graue Pixel aufgelöst, die letzte Mahlzeit war längst eingenommen. Vorgestern Nacht und gestern früh. Reinstes Imperfekt strömt aus den Düsen (was das kostet, sie kennen keine Rücksicht auf den Steuerzahler in dieser irren Kunstszene). Es ging nur noch um das ehrliche, zerschlagene, monotone Sich-Voranbohren durch den schwarzen Stollen der Luft, das Ende einer Nachtschicht in einer Art Hightech-Bergwerk. Manche seelenlosen Umgebungen, schrieb er dir, seien perfekte Metaphern des Lebens. Bloßes Weitermachen auf dem Grund einer völligen Erschöpfung. War es das? Wenn man von Asien nach Europa fliege, erklärte er in derselben Mail, habe man die Wahl zwischen einem unerträglich in die Länge gezogenen, wie in die Mittsommernacht hineinbrennenden Tag und einer schier endlosen Dunkelheit. Er bevorzuge Letzteres, die schlafende Sonne (dein Begriff, Milena), obgleich ihm dann früh am Morgen der Blick auf den Himalaya entgehe, einen weiß aufgepeitschten Ozean von Bergen, dessen unfassbare Ausdehnung an die Radikalität eines anderen Planeten erinnere. Niemand schickte eigenartigere E-Mails als er. Hätte er sein nagelneues Mobildings (Smartplug) für eine Echtzeit-Echthirn-Brainbook-Mitteilung genutzt, so hätte er dir im gestrigen Morgengrauen einige Frühmorgen-Tagalptraumfetzen senden können (einhundertsiebenundsechzig Freunde finden das gut) über die bioelektrische Schnittstelle hinter seinem linken Ohr. Verzerrt hättest du auf der Folie eines grauen Bordfensters die Gesichter der Diskurs-Titanen gesehen, die ihn bedrohen wie steinerne Riesenmasken, die stumm die verwitterten Münder bewegen, seine Leibgegner Stenski und Riffle, denen er unweigerlich alle Jahre wieder auf den Podien dieser Welt begegnen muss. Noch fünf Tage, dann werden sie aufeinanderstoßen. Riffle, der unverwüstlich dynamische Thinktank mit den roboter-muttersauähnlich blinkenden Zapfreihen für Harvard-Doktoranden wird seine Statistiken aus dem Zauberhut hervorflirren lassen und wieder einmal darlegen, weshalb es unweigerlich besser wird, obwohl es überall schlecht aussieht, nur nicht auf seinem Bestseller-Bankkonto, wohingegen Stenski, dergroßetänzer2 (wie Rudolf ihn manchmal schreibt, ein fantasievoller Bursche, von dem es heißt, er arbeite neuerdings an einem Opernlibretto über den toten Gott und sich) natürlich das Kaninchen hervorzerren und zerreißen wird, um zu beweisen, dass es aus Plüsch war, jedoch ausgestopft mit dem verrotteten Gedärm einer scheinheiligen Humanität. Er hätte dieses schauderhafte Zusammentreffen absagen müssen, auch wenn es schon vor Monaten vereinbart worden war. Nichtige Show-Kämpfe! Die Müdigkeit, die Frustration, die Nachwirkungen der einsamen Wochen, die hinter ihm lagen, kamen noch zu seiner abgrundtiefen allgemeinen Debatten-Unlust dazu, um die ihm unmittelbar bevorstehende Gefühlsverwirrung zu erklären. Kurz nach der Schilderung seiner Gegner-Phantome hätte er dir in einer seiner spontanen Mails mitteilen können, dass ihn der Anblick einer Frau, die im Himmel auf ihn zutrat, wie ein Stich getroffen habe, absolut und großartig, unumkehrbar wie eine Klinge, die man nicht mehr aus dem Herzen zu ziehen brauchte, weil das Ende schon eingetreten wäre, mit der schmerzlosen Noblesse eines Fechtmeisterstoßes. Seine Reaktion hatte eine objektive Grundlage. Man muss bedenken, dass er entgegen der Wahrscheinlichkeit die Frau weder in den Duty-Free-Shops bemerkt hatte noch bei den Sicherheitskontrollen in einer der glänzenden, öltankähnlichen Stahlsäulen des Flughafens Tokio Haneda, weder auf den grauen Ledersesseln der Lounge noch in der Warteschlange vor der letzten Prüfung der Bordkarten. Sie erschien ihm, in zehntausend Metern Höhe, ohne Vorwarnung, als hätte sie von außen her mühelos die Kabine durchschreiten können, und ihr Anblick gab ihm – darin bestand das gewichtigere Moment des Schocks – nichts weniger als das furchterregende, erlösende Versprechen der Heimkehr. Somit seien zwei Kriterien des Todes erfüllt gewesen, wenigstens des Todes in Gestalt einer Frau. Jene norddeutsch, nein, mittlerweile etwas wärmer, also nordeuropäisch (Linie Hamburg-Malmö-Stockholm) wirkende Blondine, das erotische Desaster seiner Göttinger Zeit. Damals, mit Ende zwanzig, einschüchternd attraktiv, auf eine unglaubwürdige, seltsam aristokratisch sportliche Weise, wie eine langgliedrige Fünfzehnjährige, die durch Zauberei (Klonung, gentechnisches Hochgeschwindigkeitskopierverfahren mit Streckfaktor) oder die jahrhundertealte Blutschande ihrer Familie von blaublütigen Tennisspielern so infantinnenhaft auf die Körpermaße einer Erwachsenen gebracht worden war. Jetzt wärmer, fülliger, er war versucht menschlicher zu denken, nachdem sich der virtuelle Degen in seiner Brust aufgelöst hatte, um eine kaum erträgliche Gefühlsvermengung von Glück und Wundschmerz zu hinterlassen. Cara. Sie hatte ihn aus dem Augenwinkel am linken Backbordfenster lehnen sehen und unwahrscheinliche Minuten lang für einen fremden, rätselhaft starr stehenden, vielleicht gesundheitlich beeinträchtigten Mitreisenden gehalten, den sie schließlich ganz mechanisch und professionell ansprechen wollte, auf ihrem Weg zur Toilette. Jetzt hätten sie sich beinahe umarmt, und um der daraufhin einsetzenden beiderseitigen Verlegenheit zu entkommen, begannen sie, kaum dass sie sich begrüßt hatten, geschäftsmäßig über den Jetlag zu philosophieren, insbesondere über die Vor- und Nachteile von Schlafmitteln bei der Bewältigung der Ortszeitdifferenzen. (Ich will ihn mir als übernächtigten Charmeur gar nicht vorstellen. Arbeite daran. Sieh aus Caras Augen.) Ganz wie früher redete er nicht laut, nicht angestrengt, akzentuiert sicherlich, aber keinesfalls eifrig. Selbst um fünf Uhr morgens und an einem der garantierten Tiefpunkte seines Lebens erwartete er mit natürlicher Bestimmtheit, dass man ihm das Ohr lieh, auch wenn er gedämpft und wie zu sich selbst sprach und man gegen das Dröhnen von Turbinen anhören musste, die draußen im Morgengrauen wühlten. Alte Dozentenkrankheit. Er kleidete sich weiterhin leger, mit Geschmack, war um den Anschein von Lässigkeit bemüht, allerdings ohne das Verspannte und Angeschlagene verbergen zu können, zumindest nicht vor ihrem geübten Blick. Kaum noch Haare auf dem Kopf. Wie früher hatte er sich einen Zehn- oder Vierzehntagebart stehen lassen, dunkelbraun und inzwischen grau gemasert, schütter in der Umgebung der Lippen, am Kinn dagegen von dichterem Wuchs. Das rief noch immer einen jugendlichen Effekt hervor, wirkte noch, tatsächlich, genau wie der Blick aus den grünbraunen Augen, in denen sie Farne, Moos und Goldpünktchen vorfand, als liefe sie auf einem Waldweg ihrer Kindheit, einladend, offen, halb staunend, halb fordernd, woher nahm er das nur. Würge ihn mit einer der blauen Krawatten, die er zu offiziellen Anlässen trägt (in Marthas Auftrag, denn wenn es um euch beide geht, müsste er eigentlich dich attackieren). Schon standen sie zehn Minuten beieinander und plauderten gegen ihre Fassungslosigkeit und Erschöpfung an. Weil eine der Stewardessen einen größeren Gegenstand (Koffer? Kindersitz? Ausgestopfter Bärenkopf?) an ihnen vorbeizutragen hatte, mussten sie sich aneinanderschmiegen, wollten es, die scheinbar erzwungene Nähe gab ihnen die Gelegenheit einer blitzartigen, gierig extrapolierenden Erfahrung des anderen Körpers. Rasierte weibliche Achselhöhle und irgendein Chanel, mein Gott, dachte Rudolf. Caras Nase erfasste: Schweiß, Citrus-Eau-de-Cologne, Spuren von Maschinenöl und Eisen, die wohl eher zum Flugzeug gehörten, darunter das erwartete Virile und Animalische, dessen natürliche Abstoßung sie erschreckend leicht überwand. Ich musste sofort wissen, ob ich ihn noch riechen kann, dachte sie, ich habe tatsächlich diesen Geruch gespeichert. Um der Stewardess noch mehr Raum zu geben, ließen sie sich in der zuvor von ihr allein belegten Sitzreihe nieder, so rasch und eingespielt, dass Cara ihren Gesprächspartner für einen Augenblick mit Peter verwechselte, dem jüngeren Kollegen, der ihr in Tokio das Verhältnis aufgekündigt hatte. Sie war jetzt noch dankbarer für ihren hastig gebuchten früheren Rückflug, und es erleichterte sie auch, dass Rudolf immer weiterredete (um Kopf und Kragen, er hatte unvermittelt diesen Eindruck). Mit einer seltsam unscharfen Wiedererinnerung betrachtete sie seine Hände. Mittellange Finger, gepflegte Nägel, durchaus praxistauglich. Wäre er kein Gelehrter (kein Windhund, ewiger Gastdozent, fahrender Hofnarr, wie Martha sich ausdrückte) gewesen, hätte sie beim Beruferaten auf etwas getippt, das eine...