E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Leidinger / Rapp / Mosser-Schuöcker Freud – Adler – Frankl
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7017-4687-3
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Wiener Welt der Seelenforschung
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4687-3
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Leben und Wirken von Freud, Adler und Frankl, der Begründer weltbekannter psychotherapeutischer Schulen, im Spiegel der Zeit.
Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor Frankl – herausragende Größen des Wiener Geisteslebens, die innerhalb kurzer Zeit die Wissenschaft der Seelenforschung revolutioniert haben. Sie wurden zu den Gründungsvätern bis heute maßgeblicher Theorien und Behandlungsmethoden:der Psychoanalyse, der Individualpsychologie und der Logotherapie. Aus welchen sozialen Milieus stammten sie, welches familiäre Umfeld hat sie geprägt und wie sahen ihre beruflichen Netzwerke aus? Die Autor*innen erzählen auf spannende Weise eine hundertfünfzigjährige Kultur- und Wissenschaftsgeschichte und beleuchten dabei auch die komplizierten Beziehungen zwischen diesen drei Persönlichkeiten.
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Sigmund Freud – In den Tiefen der Psyche
Erweiterung des Blickfelds
Kritiker von Sigmund Freud fanden harte Worte über ihn: »Seine Beziehung zur Geschichte zeugt von einer totalen Verleugnung. Die Geschichte war ausschließlich seine Geschichte, also die Geschichte der eigenen Person, aber nie die Geschichte seiner Zeit, in der er – ob er wollte oder nicht – lebte und in der sein Werk entstand. Er weigerte sich, sein Denken in einen zeitgenössischen Kontext zu stellen, also anzuerkennen, dass Einflüsse aus seinem Umfeld, Begegnungen mit anderen und das, was er gelesen hatte, eine Rolle spielten, er wollte alle Spuren seiner intellektuellen Entwicklung verwischen.«1 Solche Charakterisierungen wirken grob vereinfachend. Ein Zerrbild entstand. Die Sachlage war komplizierter und von Veränderungen geprägt. Freud hob beispielsweise die Rolle des Arztes, Philosophen und väterlichen Freundes Josef Breuer hervor, als es darum ging, die Genese seiner Theorien und Behandlungspraktiken zu beschreiben.2 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs machte er sich jedoch zur alleinigen Schöpferfigur der Psychoanalyse. Die Einflüsse auf seine Arbeit blieben dennoch evident. Immer wieder legte er ausführliche Literaturberichte vor. Sein Wissenschaftsverständnis gebot es, die Forschungsentwicklung bis zu seinen eigenen Studien zu reflektieren und entsprechend wiederzugeben. Das Denkmal, das Freud aufgrund seiner Leistungen und Entdeckungen errichtet wurde, hatte also mehrere Gestalter: jene, die sich ihm weitgehend unterordneten oder in ihm gar den Religionsstifter und Übervater sehen wollten; ebenso jedoch die Gegner, die mit »gehässigen Wortklaubereien« und Abwertungsversuchen die Aufmerksamkeit auf ihn lenkten und so zu seiner Unsterblichkeit beitrugen.3 Auch wohlgesonnene Biografen betonen indes Freuds »Gewohnheit, seine geistige Isolation zu dramatisieren«, seine Neigung, das eigene »Heldentum in starken Farben« selbstbewusst hervorzuheben, sich mit »welthistorischen Giganten« zu identifizieren und »seine Kämpfe« fantasiereich zu stilisieren.4 Sigmund Freud, sein unmittelbares Umfeld und sein Werk bedürfen in jedem Fall einer Einordnung in historische Entwicklungen und Zusammenhänge. Und das verlangt angesichts der unbestreitbaren Bedeutung und Wirkung seines Schaffens nach einer beträchtlichen Horizonterweiterung in Zeit und Raum. Langzeitphänomene haben Beachtung zu finden. Manche beruhen auf scheinbar »ewig gleichen«, unhistorischen Eigenschatten des Homo sapiens. In einzelnen Epochen brachten diese Wesensmerkmale des »Allgemeinmenschlichen« jedoch signifikant unterschiedliche Erscheinungsformen hervor. Das Feld der historischen Anthropologie, das hier betreten wird, gruppiert sich konkret um das vermeintliche Gegensatzpaar »Leib und Seele«, welches letztlich keine getrennten Sphären benennt. Körper und Geist sind vielmehr ineinander verwoben. Sie verweisen aufeinander, tragen aber gerade in der abendländischen Tradition zu dualistischen Deutungsmustern bei. Diese berühren das Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt oder Vorstellungen von Ratio und gefühlsbetonter Psyche, von Vernunft und Unvernunft, Gesundheit und Krankheit, Verantwortung und Unzurechnungsfähigkeit, Norm und Abweichung. Tiefenpsychologie und Psychotherapie haben in einem derartigen Bezugsrahmen eine lange Vorgeschichte. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hatte diesbezüglich auf die Ursprünge der Sorge und der Angst hingewiesen. Beides, so Nietzsche, entstehe mit der Trennung des Menschen, der sich neben der Gegenwart auch der Vergangenheit und der Zukunft zuwendet, von der übrigen Tierwelt, die ohne ein Morgen und ein Gestern in Ruhe und Sicherheit keine Neurosen kennt.5 Eine allzu strenge Unterscheidung zwischen den irdischen Geschöpfen schafft freilich beträchtlichen Diskussionsstoff. Ungeachtet dessen stellt sich immerhin die Frage, ob die »Magie«, der »Geister- und Aberglaube« als Merkmale der menschlichen Prähistorie auf eine elementare Furchtsamkeit oder Verunsicherung zurückgehen oder mit der behaupteten Unfähigkeit, logisch zu denken, erklärt werden können.6 Ansätze psychotherapeutischer Behandlungsweisen, wie die Tätigkeit der Medizinmänner und der Erfahrungsschatz des Schamanismus, gerieten in das Zentrum der Betrachtungen – bis schließlich antike Gelehrte die Wurzeln einer wissenschaftlichen Heilkunst legten. Den Glauben an das Wirken des Überirdischen, von Dämonen und Göttern, der noch lange bestimmend bleiben sollte, konterkarierte von nun an die hippokratische Schule, wenn es etwa um das Verständnis von epileptischen Krämpfen ging. Ihr wegweisender, bis in die Gegenwart wirkender Befund nannte eine Erkrankung des Gehirns als Ursache. Mindestens bis in die Jugendjahre Freuds hielt man zudem an der fragwürdigen griechischen »Weisheit« fest, wonach es sich bei Hysterie um ein Unterleibsleiden der Frauen, genauer gesagt um eine Fehlfunktion der Gebärmutter, handelt.7 In jedem Fall hatte die Physis Vorrang gegenüber einer Seelenkunde, die man vor allem zur Weisheitslehre, zur Philosophie zählte. Der den Sophisten zugeordnete Antiphon von Athen figurierte unter diesen Bedingungen regelrecht als Antithese zu Hippokrates. Antiphon – gelegentlich als Begründer der Psychoanalyse bezeichnet – betonte mit Nachdruck, die Seele regiere den Körper. Seine Ratschläge als Analytiker, die er auf der Agora von Korinth erteilte, beinhalteten zudem logotherapeutische Elemente. Die Überzeugung, mit Worten kurieren zu können, hielt sich über die Zauberer und Hexer, Heiler und Priester des Mittelalters hinaus bis in das Zeitalter Freuds und in die Gegenwart.8 Mit der Geburt der Neuzeit entstand dann ein verändertes Menschenbild: In gewisser Weise kam es zur Erfindung des Individuums. Dessen Physiognomie und in der Folge auch dessen Geistes- und Gefühlsäußerungen wurden nun einer genaueren Beobachtung unterzogen. Im 17. und 18. Jahrhundert erreichte, wie Freuds zeitweiliger Mitstreiter Josef Breuer vermerkte, die Psychoanalyse ein Vorstadium im Wirken von Georg Ernst Stahl, der die Seele als treibende Kraft im Lebensprozess beschrieb, psychosomatische Beschwerden erkannte und – wie Freud und Breuer – »kathartische«, also reinigende, Heilmethoden anwandte.9 Allerdings gerieten Stahls Ausführungen und Praktiken fast vollständig in Vergessenheit, als mit dem konsequenten Einsatz des Mikroskops die Körperzellen, die Histologie und die pathologische Anatomie in den Fokus der ärztlichen Neugier rückten. Diese Tendenzen gingen – nicht zuletzt in Frankreich während der Aufklärung – mit humanistischen Plädoyers zur »Befreiung der Irren« von ihren Ketten einher, mit der Geburt der Psychiatrie und der Suche nach einer geeigneteren Behandlung der Seelen- und Geisteskranken.10 Der Magnetismus wurde zum Thema. Der österreichische Arzt Franz Anton Mesmer beschäftigte sich damit aus naturwissenschaftlich-physikalischer Perspektive, blieb aber ein Außenseiter. Auch in Frankreich, wo Mesmer sein Glück suchte, vermochte er die Fachwelt nicht für sich zu gewinnen, erlebte jedoch in Patientenkreisen durch seine Behandlungspraxis bemerkenswerten Zulauf: Der Einsatz der Hypnose oder des »Heilschlafes« fand Anklang. Über den Pariser Umweg erreichte er letztlich Breuer und Freud.11 Der veränderte Umgang mit Leiden, Unzulänglichkeiten und seelischen Beeinträchtigungen, die Kritik an der Praxis der Stigmatisierung oder der Kriminalisierung – wie bei Suizidfällen –, markierte eine Abkehr von repressiven Maßnahmen und Bestrafungen. Die Suche nach Krankheiten begann, die Hinwendung zur »Pathologisierung« erfolgte. Ein Transformationsprozess setzte ein, der das ganze 19. Jahrhundert hindurch verschiedene Expertenkreise beschäftigte. Juristen sahen sich mit den rechtlichen Konsequenzen einer Debatte über »Besessenheit«, Schuldhaftigkeit und Zurechnungsfähigkeit konfrontiert, ebenso wie Theologen, die die Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Menschen in der göttlichen Schöpfung zu bestimmen versuchten.12 Der »Wahnsinn« avancierte zum philosophischen Schlüsselthema und zur zentralen Herausforderung für die »Ordnung der Vernunft«. Mündigkeit und Rechte des Individuums mussten mit den Anliegen der Massengesellschaft in Einklang gebracht werden. Die zunehmende Einbindung des Einzelnen in das Gemeinwesen manifestierte sich in bürgerlichen Pflichten und Privilegien: in der allgemeinen Wehrpflicht, der intensivierten Sozialfürsorge, der Besteuerung und politischen Mitsprache im Zuge einer schrittweisen Demokratisierung. Die Neuerungen schufen zahlreiche Reibungsflächen und rückten Auseinandersetzungen über öffentliche Einrichtungen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses: Die...