Leisen / Gold / Rosebrock | Sprachbildung und sprachsensibler Fachunterricht in den Naturwissenschaften | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 186 Seiten

Leisen / Gold / Rosebrock Sprachbildung und sprachsensibler Fachunterricht in den Naturwissenschaften


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-040714-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 186 Seiten

ISBN: 978-3-17-040714-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sprachbildung bedeutet das Lernen der Bildungssprache. Diese umfasst nicht nur die Fachsprache, sondern alle nonverbalen, bildlichen, verbal-sprachlichen, symbolischen und formalen Darstellungen naturwissenschaftlicher Sachverhalte. Das Verstehen in den Naturwissenschaften ist bei vielen Lernenden durch Sprachhürden gefährdet. Sprachsensibler Unterricht stärkt die sprachlichen Kompetenzen und schafft so gute Lernbedingungen für das fachliche Verstehen. Das Buch zeigt Merkmale und Hürden der Sprache in den MINT-Fächern und den Umgang damit. Es erläutert praxisnah die Planung und Gestaltung eines sprachsensiblen Unterrichts unter Einbezug von analogen und digitalen Methoden-Werkzeugen im Sinne des Scaffoldings sowie das analoge und digitale Lesen und Schreiben von Sachtexten im naturwissenschaftlichen Unterricht.
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2          Sprache und Sprachhürden in den Naturwissenschaften
      2.1       Fachsprache und Bildungssprache
Nach Nitz, Nerdel und Prechtl »ist eine eindeutige (linguistische) Definition [der Fachsprache, J.L.] bisher nicht gelungen – zu vielseitig und -schichtig sind mögliche Betrachtungsansätze« (Nitz, Nerdel & Prechtl, 2012, S. 121). Der Diskurs über Begriffe gehört zur Linguistik im Speziellen wie zur Wissenschaft im Allgemeinen. Ausgehandelte Festlegungen beenden den Diskurs vorübergehend und laden gleichzeitig zur Fortführung ein. So definiert DIN 2342 (Begriffe der Terminologielehre) die Fachsprache als »Bereich der Sprache, der auf eindeutige und widerspruchsfreie Kommunikation in einem Fachgebiet gerichtet ist und dessen Funktionieren durch eine festgelegte Terminologie entscheidend unterstützt wird« (DIN 2342: 1992-01) Gemäß dieser normativen Definition besteht die Aufgabe einer Fachsprache in der Ermöglichung einer möglichst präzisen und ökonomischen Verständigung über bestimmte Gegenstands- und Sachbereiche unter Personen im Fachgebiet (Fluck, 1996). Fachsprache in dem Sinne ist die Sprache von und für Expertinnen und Experten. In der deskriptiven Beschreibung ist die Fachsprache gekennzeichnet durch strukturelle und funktionale Eigenschaften (Fluck, 1996; Rincke, 2010; Roelcke, 2005). Die strukturellen Eigenschaften betreffen die Normierung in Lexik, Morphosyntax und Textstrukturen. Diese liegen nicht außerhalb der Strukturen, die auch im Alltag verwendet werden. Sie kommen dort lediglich mit geringer Frequenz vor. Die funktionalen Eigenschaften der Fachsprache betreffen die Deutlichkeit, Verständlichkeit und Ökonomie, die sich in folgenden Merkmalen zeigen: •  Differenzierung und Präzisierung von Sachverhalten, •  Verdichtung von Information, •  Entpersonalisierung (durch unpersönliche, allgemein- gültige, objektive Formulierungen), •  Dekontextualisierung (Unabhängigkeit des Textverständnisses von der Kommunikationssituation), •  Sachlichkeit und Distanzierung, •  argumentative Klarheit
(vgl. Sieve & Hilker 2020, S. 4) Im Gegensatz zu Erzähltexten haben Sach- und Fachtexte einen deskriptiven und analytischen Charakter und dienen in erster Linie der Informationsvermittlung. Fachtexte sind nicht vorrangig ästhetisch oder stilistisch strukturiert, sondern genügen fachlichen und fachsprachlichen Anforderungen. Fachtermini gelten als wesentlicher Bestandteil einer Fachsprache. Fachbegriffe, die auch im Alltag vorkommen (z. B. Spannung, Kraft, Energie, Verbrennung), dort aber eine andere Bedeutung haben, schaffen besondere didaktische Probleme. Daneben gibt es auch solche Fachbegriffe, die den Schülerinnen und Schülern noch unbekannt sind und wie eine Vokabel oder ein Fremdwort gelernt werden müssen (z. B. Induktion, Redoxreaktion, Mitose, Push- und Pull-Faktoren). Fachsprache nutzt spezifische sprachliche Möglichkeiten, um möglichst dichte und eindeutige Aussagen zu treffen. Die deutsche Sprache erlaubt beispielsweise Komposita, die dann oftmals als Wortungetüme wahrgenommen werden (z. B. Gleichspannungsquelle, Magnetfeldänderungen, Wärmeleitfähigkeitskoeffizient, Desoxyribonukleinsäure). Auf der Textebene kommen gehäuft verkürzte Nebensatzkonstruktionen vor und es werden komplexe Attribute anstelle von Attributsätzen verwendet, ebenso erweiterte Nominalphrasen und die unvermeidliche Verwendung von Passiv und Passiversatzformen. Es handelt sich dabei um die sprachlichen Merkmale der konzeptionellen Schriftlichkeit ( Tab. 1.2). Morphologische Besonderheiten der Fachsprache:
•  substantivierte Infinitive/in Substantive umgewandelte Verben (z. B. »das Hobeln«, »das Fräsen«, »das Schleifen«); •  Substantive/Hauptworte auf -er (z. B. Fahrer, Dreher, Zeiger, Zähler, Schwimmer, Rechner); •  Adjektive auf -bar, -los, -reich, -arm, -frei, -fest usw. (z. B. brennbar, nahtlos, vitaminreich, sauerstoffarm, rostfrei, säurefest usw.); •  Adjektive mit dem Präfix/vorangestellten »nicht« (z. B. »nicht leitend«, »nicht rostend«); •  mehrgliedrige Komposita/zusammengesetzte Begriffe/Substantive (z. B. »Zylinderkopfmutter«); •  Zusammensetzungen mit Ziffern, Buchstaben und Sonderzeichen (z. B. »T-Träger«, »60-Watt-Lampe«, »U-Rohr«); •  sog. Mehrwortkomplexe (z. B. »elektronische Datenverarbeitung«, »Flachkopfschraube mit Schlitz«); •  Wortbildungen mit und aus Eigennamen (z. B »galvanisieren«, »röntgen«, »Bunsenbrenner«, »Ottomotor«); •  fachspezifische Abkürzungen (z. B. »DGL« für Differenzialgleichung). Syntaktische Besonderheiten der Fachsprache:
•  sog. Funktionsverbgefüge (z. B. »in Angriff nehmen«, »Anwendung finden«, »in Betrieb nehmen«); •  Nominalisierungen (z. B. »die Instandsetzung der Maschine«, »der Überführungsvorgang«); •  erweiterte Nominalphrasen und Satzglieder anstelle von Gliedsätzen (z. B. »nach der theoretischen Vorklärung«, »beim Abkühlen des Materials«); •  komplexe Attribute anstelle von Attributsätzen (z. B. »das auf der Achse festsitzende Stirnrad«, »der vorfristig beendete genehmigungspflichtige Vorgang«); •  bestimmte, bevorzugt genutzte Nebensatztypen (z. B. Konditionalsätze, Finalsätze und Relativsätze); •  bestimmte, bevorzugt genutzte Verbkonstruktionen (z. B. 3. Person Singular/Plural, Indikativ Präsens, bestimmte Passiv-Formen wie z. B. Vorgangs- und Zustandspassiv, Imperative); •  unpersönliche Ausdrucksweise (z. B. »Man nimmt dazu …«; »Strahlungen lassen sich schwer nachweisen.«, »Mit dem Festzurren erübrigt sich die Kontrolle.«). Der Fachsprache wird Exaktheit zugesprochen mit der Behauptung die Begriffe seien klar und eindeutig. Beim Blick in die Geschichte der naturwissenschaftlichen Begriffe kommt daran jedoch Zweifel auf. Im Rahmen der Kolumnenreihe »Altlasten der Physik« (Hermann & Job, 2003, 2012, 2020) schreibt Hermann in einem Beitrag zur Exaktheit der Fachsprache: »Die Fachsprache ist weniger exakt, als man gemeinhin glaubt. Die Bedeutung von Fachausdrücken verändert und entwickelt sich genauso wie die Bedeutung von Ausdrücken der Umgangssprache« (Hermann, Job, Schwarze 2020, S. 19). Dazu bringt Hermann viele überzeugende Beispiele für Begriffe, die traditionell von Generation zu Generation gelernt und benutzt werden, wobei sich im Laufe der Zeit die Bedeutung verschoben hat. Die Begriffe bleiben, aber die Semantik hat sich verändert. Die semantischen Veränderungen werden am Energiebegriff kurz verdeutlicht: Die aristotelische Vorstellung von der energeia als »Akt und Potenz« reicht über die Scholastik bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts und wird durch Untersuchungen u. a. von Huygens als »unzerstörbare Größe der Bewegung« im Sinne des heutigen Begriffs Impuls gedeutet. Untersuchungen von Leibniz um 1686 verwiesen auf mv2 Größe als das wahre Maß für die Größe der Bewegung, die er »lebendige Kraft« im Sinne des heutigen Begriffs kinetische Energie nannte. Vorangetrieben durch die Entwicklung der Dampfmaschine entwickelten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts neue Vorstellungen von der Energie, basierend auf der Feststellung, dass Wärmeenergie bei vielen Prozessen die Ursache für eine Bewegung ist. 1841 veröffentlichte Robert Mayer die Idee der Energieerhaltung. (Etwa zeitgleich wurde die Idee auch von anderen Naturforschern formuliert.). Clausius formulierte den 2. Hauptsatz und unterschied somit die Begriffe Entropie und Energie. Schließlich formulierte Einstein die Äquivalenz von Masse und Energie in der berühmt gewordenen Formel E=mc2. Die hier sehr grob gezeichnete Entwicklungslinie zeigt die gravierenden konzeptionellen und semantischen Verschiebungen, die mit dem Energiebegriff einhergehen. Nach den bisherigen Ausführungen ist die Fachsprache durch die morphologischen und syntaktischen...


Prof. Josef Leisen, OStD a.D., ist ehemaliger Leiter des Studienseminars für das Lehramt an Gymnasien in Koblenz und Professor für Didaktik der Physik an der Universität Mainz. Zu seinen Arbeitsgebieten zählen u.a. Sprache und Sprachbildung im Unterricht, Lese- und Schreibdidaktik von Sachtexten, kompetenzorientierter Unterricht und Konzepte des Lehrens und Lernens. Er hält regelmäßig Vorträge und Fortbildungen sowie Online-Seminare.



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