E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Wissen & Leben
Lempp Generation 2.0 und die Kinder von morgen
1., Auflage 2012
ISBN: 978-3-608-16836-5
Verlag: Schattauer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
aus der Sicht eines Kinder- und Jugendpsychiaters
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Wissen & Leben
ISBN: 978-3-608-16836-5
Verlag: Schattauer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Ein Titel aus der Reihe
Wissen & Leben
Herausgegeben von Wulf Bertram
Kindheit und Jugend im Wandel der Zeit
Kindheit und Jugend sind prägende Abschnitte, in denen die Grundlagen für unser weiteres Leben geschaffen werden. Doch sind wir nicht nur die Kinder unserer Eltern, sondern auch die Kinder unserer Zeit.
Von den Kriegskindern zur „Generation Facebook“ hat sich vieles geändert: Die Familien sind kleiner geworden, die klassische Rollenverteilung hat sich verschoben und technische Erfindungen haben unseren Alltag revolutioniert. Werte und Erziehung mussten sich wandeln, um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten.
Reinhart Lempp, ein Pionier der Kinder- und Jugendpsychiatrie, resümiert die umwälzenden technischen und soziologischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und leitet Prognosen und Desiderate für die Erziehung unserer Kinder und Enkel ab. Dabei gibt er viele persönliche Einblicke in seine eigene Kindheit und seine reiche Erfahrung als sechsfacher Vater und dreizehnfacher Großvater.
Eine Bestandsaufnahme und ein Ausblick ohne den oft anzutreffenden modischen Kulturpessimismus, sondern mit viel Verständnis und Zuversicht – augenzwinkernd sekundiert durch einige treffende Karikaturen von Loriot, mit dem Reinhart Lempp eine lebenslange enge Freundschaft verband.
Zielgruppe
interessierte Laien, Eltern und solche, die es werden wollen
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
* Die Familie als Institution und das Verhältnis zwischen Frau und Mann
* Die Veränderungen im Alltag
* Die elektronische Revolution
* Veränderungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
* Ein subjektiver Ausblick in die Zukunft
Veränderungen im Alltag, die das Leben der Kinder berühren
Noch bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts war es üblich, dass an jedem Werktag eine Mittagspause eingehalten wurde, nicht nur in der Schule und in allen Ämtern und Behörden, auch die meisten Einzelhandelsgeschäfte hatten über Mittag ein bis zwei Stunden geschlossen. Es war die Zeit, in der die Familie sich zu Hause zum gemeinsamen Mittagessen traf. Da damals noch die meisten Mütter nicht außer Haus berufstätig waren, ergab sich daraus kein Problem. Der Samstag war noch bis zum Ende der 60er Jahre ein halber Werktag. Erst allmählich änderte sich der Tagesrhythmus. Es wurde immer mehr mit einer kurzen Mittagspause durchgearbeitet, vor allem auch wegen der größeren Entfernungen zu Arbeitsplatz und Schule. Das Mittagessen übernahmen Kantinen und später auch Schulspeisungen oder auch Fastfood auf der Straße. Früher, in meiner Jugend, war es dagegen ganz ungehörig, auf der Straße zu essen oder zu trinken, wogegen es heute fast zur Norm gehört, dass man eine Wasserflasche oder einen gedeckelten Plastikbecher mit Kaffee mit sich führt und immer wieder einen Schluck davon zu sich nimmt. Feste Essenszeiten sind passé, es wird nach Bedarf und Gelegenheit irgendetwas gegessen. Nur ein Drittel der Bevölkerung isst noch daheim. Dabei ist auch das Essen zu Hause durch Fertiggerichte und Mikrowellengerät sehr viel einfacher geworden. Gleichzeitig entwickelt sich daneben aber auch ein übersteigerter Kult um das gute Essen, und Köche kämpfen um die Anerkennung als Sternekoch in weltweiter Konkurrenz. Jeder Fernsehkanal bietet regelmäßig Kochkünste an. Die Veränderung der Werte
Auch die Werte, also das, was für richtig, notwendig und gut gehalten wird, haben sich im letzten Jahrhundert geändert. Immer noch sind allerdings Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Fleiß und das, was man Anstand nennt, anerkannt gute Charaktereigenschaften. Daneben haben sich aber viele einst selbstverständliche Werte und Charaktereigenschaften weitgehend verloren. So ist es nicht mehr üblich und selbstverständlich, dass man nach Empfang einer wichtigen Information oder auch nur eines Grußes oder Glückwunsches sich auch dafür bedankt. Wer noch auf so etwas bestehen will, läuft Gefahr wegen naiven Gutmenschentums nicht mehr ernst genommen zu werden. In meiner Kindheit war es – zumindest in Süddeutschland – unmöglich und unanständig, mit seinem Reichtum anzugeben, ja – wie ich bereits ausgeführt habe – überhaupt über sein Einkommen zu reden. Das galt natürlich besonders für diejenigen, deren Einkommen gesichert und ausreichend war. Ich denke Handwerker und Händler haben untereinander wohl darüber gesprochen, aber mit diesen hatten wir keinen so engen Kontakt, dass man darüber hätte reden können. Jenseits der Armut, in hinreichend gesicherten Verhältnissen war das Geld oder der Besitz kein mögliches Gesprächsthema, zumindest in bürgerlichen Kreisen. Bescheidenheit war ein absoluter Wert und Angabe höchst verächtlich. Es gab damals auch Werbung, aber die war viel zurückhaltender als heute. Auch war es Ärzten und Rechtsanwälten bis vor kurzem noch verboten, für ihre Praxen zu werben. Dieses Verbot hat die EU leider aufgehoben. Jetzt können oder müssen sich die Ärzte und Anwälte selbst rühmen und Reklame machen. Fragen Sie Ihren Vater ruhig, wie viel er verdient im Monat und was er auf dem Konto hat. Das Geld, der finanzielle Erfolg eines Unternehmens, aber auch der Gewinn oder das Ergebnis einer Spekulation oder Wette wird inzwischen zum Maßstab jeder Leistung erhoben, ja, Leistung wird nur noch am Geldwert gemessen, jedenfalls fast überall, abgesehen vom Leistungssport, solange der Sportler kein Profi ist. Das fängt heute schon in den Schulen an. Dort ist es noch nicht das Geld, das die Schulleistung belohnt, sondern die Note, aber von der hängt schon ab, ob das Kind später einmal viel oder wenig Geld verdienen wird. Unter Leistung versteht man heute nur noch möglichst viel Produktion oder Dienstleistung in möglichst kurzer Zeit. An dieser Stelle soll erst einmal geklärt werden, was als Leistung zu bezeichnen ist. Ich stehe dafür, dass eine Handlung nur dann als Leistung bezeichnet und anerkannt werden kann, wenn sie auch anderen nützt. Wenn wir die sportliche oder körperliche Leistung eines Einzelnen dazu rechnen wollen, die ja auch niemandem außer dem Leistenden etwas nützt, könnte man als Leistung anerkennen, wenn sie jemand anderem nützt oder ihn interessiert oder erfreut. So ist etwa eine erfolgreiche Finanzspekulation ebenso wenig eine Leistung wie ein Lottogewinn. Auch sollte die Anerkennung oder Belohnung in einem angemessenen Verhältnis zum Leistungsaufwand stehen. Diese Einschränkung des Leistungsbegriffs erscheint mir notwendig, wenn die Leistung zur immer zentraleren Forderung an alle, insbesondere aber auch schon an Kinder und Jugendliche gerichtet, und zum Wertmaßstab wird. Vieles was unter den Erwachsenen dabei als besonders große Leistung anerkannt und honoriert wird, hat oft keinerlei Vorbildcharakter. In meiner Kindheit und Jugend waren Gehorsam und Disziplin hohe Werte, vor allem in der Nazizeit. Das waren zwar in meiner Familie keine Begriffe, die jemals ausgesprochen wurden. Es war selbstverständlich, dass man die Eltern nicht ärgerte und ihnen „folgte“ – wie das auf Schwäbisch hieß –, also „folgsam“ war, aber ohne Zwang und Auseinandersetzungen. Draußen aber galt die Disziplin und der Gehorsam wie im Militär und wurde auch schon im Jungvolk geübt: „Führer, befiehl, wir folgen!“ Das hatte zur Folge, dass jeder, der einem Befehl oder einer Anordnung gehorchte, von jeder Verantwortung für das, was er in Ausführung des Befehls tat, entbunden war. Eine Erziehung zur Verantwortlichkeit jedes Einzelnen gab es nicht. Nur so war der Holocaust möglich. So ist es gut, dass es diese Erziehungswerte so pauschal nicht mehr gibt, auch wenn gelegentlich einzelne Pädagogen sie gerne wieder einführen möchten. Für unsichere Autoritäten sind sie ganz hilfreich gewesen. Familie und Vaterland waren auch schon vor der Nazizeit in bürgerlichen Kreisen sehr anerkannte Werte. Im Esslinger Gymnasium stand im Flur ein kleines Monument mit der Aufschrift „dulce et decorum est pro patria mori“. Das war selbstverständlich und stammte noch aus dem Ersten Weltkrieg. Für viele ist die Familie nur eine Möglichkeit neben manchen anderen, und nicht nur etwas von vornherein Positives. Immer häufiger ist das Land des Vaters ein anderes als das der Mutter. Beide stammen oft nicht einmal vom gleichen Erdteil. So gibt es keine Vaterländer mehr, wohl aber eine ganz individuelle Heimat. Die ist nach meiner Erfahrung dort, wo man seine Pubertät erlebt hat. Es ist gut, dass auch das Vaterland in seinem Wert relativiert wurde. Das führt zum nächsten Kapitel, zur Globalisierung. Die Globalisierung
Wenn man diesen Begriff zunächst räumlich versteht und ans Reisen denkt, dann hat sich im vergangenen Jahrhundert auch vieles total verändert. Zwar war meine Mutter nach der Jahrhundertwende zur Ausbildung als Lehrerin einige Zeit in Frankreich und in England gewesen, aber das war damals etwas ganz Besonderes. Meine Schulausflüge gingen immer in die nähere Umgebung, manchmal fuhren wir auch eine Strecke mit dem Zug, aber nie in unbekanntes Gebiet. Das Höchste an Bildungsreisen im Gymnasium waren Fahrten nach Weimar, dem geistigen Zentrum Deutschlands seit Goethe und Schiller. Diese fielen aber mit Beginn des Zweiten Weltkriegs aus. Die Ausflüge meiner Familie gingen regelmäßig auf die Schwäbische Alb. Einmal durfte ich als Vorschulkind meine Mutter zur Erholung ins Tessin begleiten. Die Sommerferien führten uns meist in Dörfer des Allgäu, zweimal jedoch sogar an die Nordsee nach Cuxhaven, wo entfernte Verwandte lebten. Das waren große und nachhaltig wirkende Erlebnisse mit Schiffsfahrten bis nach Helgoland. Es gab natürlich auch damals Reisende nach Übersee. So erinnere ich mich, wie wir am Amerika-Kai in Cuxhaven herzzerreißende Abschiedsszenen miterlebten. Das waren damals offenbar oft Abschiede für lange Zeit oder sogar für immer. Im Krieg kam ich nach Frankreich und 1944 nach Belgien und Holland, aber eben nicht als Tourist und ohne echten Kontakt mit der Bevölkerung. Nach dem Krieg kam es zu einer Radfahrt mit meiner jungen Frau zu Verwandten nach Genf, wozu umständlich ein Visum beantragt werden musste – und erst in Basel konnte ich Schweizer Franken eintauschen. Erst im Beruf in der Position als Oberarzt kam ich in den 60er Jahren und dann immer häufiger auch zu fachlich bestimmten Auslandsreisen in ganz Europa und in fernere Länder, nach Israel, Japan, Russland und Nord- und Südamerika. Es kamen später dann auch Besuche von dort. Wie anders ist dies heute geworden! Im Gymnasium werden Schulreisen ins Ausland veranstaltet und Schüleraustausch mit vielen Ländern gepflegt, deren Sprache in der Schule unterrichtet wird. Auslandsreisen in den...