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E-Book, Deutsch, 385 Seiten

Lerp Imperiale Grenzräume

Bevölkerungspolitiken in Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens 1884-1914
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-593-43042-3
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark

Bevölkerungspolitiken in Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens 1884-1914

E-Book, Deutsch, 385 Seiten

ISBN: 978-3-593-43042-3
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark



Deutschland gehört zu den wenigen Kolonialmächten des 19. Jahrhunderts, die sowohl eine Expansionspolitik in Afrika und Asien als auch in angrenzenden Territorien des Kaiserreichs verfolgten. Mit der Kolonie Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens nimmt Dörte Lerp erstmals zwei dieser imperialen Grenzräume vergleichend in den Blick. Sie zeigt auf, dass es durchaus Parallelen zwischen den Bevölkerungspolitiken in beiden Regionen gab. Zudem verweist Lerp auf die Besonderheiten der jeweiligen Regionen, insbesondere auf den unterschiedlich ausgeprägten Rassismus. Dadurch trägt das Buch maßgeblich zur Integration von Kolonialgeschichte

und innereuropäischer Geschichte bei.

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Inhalt
1. Einleitung7
2. Expansion20
2.1 Preußen imperial20
2.2 Zwischen Nation und Empire34
3. Grenzziehungen49
3.1 Massenausweisungen49
3.2 Migrationskontrolle67
3.3 Sondergesetze92
3.4 Imperiale Arbeitsmärkte116
4. Siedlungskolonialismus143
4.1 Äußere und innere Kolonisation143
4.2 Ansiedlungspolitiken156
4.3 Kulturträgerinnen und Kulturträger183
4.4 Landnahme210
5. Die geteilte Stadt227
5.1 Stadt und Hygiene227
5.2 Hebungspolitiken in Posen248
5.3 Segregation in Windhoek267
6. Entgrenzung292
6.1 Expansion in Osteuropa292
6.2 Arbeit und Migration im Krieg313
7. Fazit332
Quellen und Literatur343
Quellen343
Literatur354
Anhang383
Abkürzungen383
Dank384


1. Einleitung
"Rather than poising an antagonism between Germany's continental and overseas expansionism, we should see them as two complementary, interrelated, and often ambivalent developments in the history of German expansionism".
Wer um 1900 vom "deutschen Reich" sprach, konnte damit auf sehr unterschiedliche Dinge verweisen: auf den 1871 gegründeten Nationalstaat, der sich in mit dieser Namensgebung in die Tradition des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu stellen suchte, auf eine Ansammlung von Kolonien in Afrika und im Pazifik, die unter deutscher Herrschaft standen oder gar auf jene "Phantasmagorie eines diffusen kontinentalen Großreichs" in Mittel- und Osteuropa, die im Verlauf der nächsten Jahrzehnte die deutsche Politik entscheidend prägen sollte. Angesichts dieser vielschichtigen Semantik ist es geradezu erstaunlich, dass sich die Geschichtsschreibung lange Zeit darauf konzentriert hat, die deutsche Geschichte des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Geschichte eines Nationalstaats und eben nicht als die eines Reiches oder Empires zu schreiben. Warum wurden Nationalisierung und Staatsbildung, überseeische Kolonisation und der "deutsche Drang nach Osten" nicht in einen gemeinsamen imperialen Zusammenhang gestellt, wenn doch der Sprachgebrauch der Zeit eine solche Verbindung nahelegt?
Eine Erklärung mag sein, dass das deutsche Kaiserreich auf den ersten Blick wenig Ähnlichkeit mit überseeischen Großreichen wie Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden oder kontinentalen Imperien wie der Habsburger Monarchie, dem Osmanischen Reich und dem zaristischen Russland aufwies. Zwar verfügte es ab den 1880er Jahren über Kolonien in Afrika und dem Pazifik, doch existierte dieses Kolonialreich nur gut dreißig Jahre, weshalb die deutsche Kolonialgeschichte für viele Historikerinnen und Historiker bis heute eine eher unbedeutende historische Episode darstellt. Die Geschichte der kontinentalen Expansion Preußens und Deutschlands - von den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert, über die Annexionen Schleswig-Holsteins und Elsass-Lothringens im Zuge der Einigungskriege 1866 und 1870/71 bis hin zur Eroberung weiter Teile Osteuropas im Ersten Weltkrieg - umfasst zwar einen deutlich längeren Zeitraum, doch macht auch sie im Vergleich zu den imperialen Traditionslinien der Nachbarländer Österreich-Ungarn und Russland einen eher fragmentarischen Eindruck. Die territoriale Expansion innerhalb Europas steht zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zu nationalgeschichtlichen Narrativen, doch ist sie so eng mit der der Geschichte preußisch-deutscher Staatsbildung verwoben, dass sie sich scheinbar relativ problemlos in diese integrieren lässt. So erscheinen die östlichen Provinzen Preußens, Elsass-Lothringen und Schleswig-Holstein in den einschlägigen Werken zur deutschen Geschichte nicht als imperiale Expansionsräume, sondern allenfalls als "Krisenherde des Kaiserreichs". Angesichts dieser Einschätzung ist nur folgerichtig, dass die Historiographie auch die seit den 1890er Jahren lauter werdenden Forderungen nach "Lebensraum im Osten" oder einem von Deutschland dominierten "Mitteleuropa" in erster Linie als Auswüchse eines übersteigerten Nationalismus interpretiert.
Diese Fokussierung auf die deutsche Nationalgeschichte wird inzwischen seit einigen Jahrzehnten von einer Reihe unterschiedlicher Forschungsrichtungen in Frage gestellt. Zu nennen sind hier vor allem die primär auf innereuropäische Verbindungen konzentrierte Vergleichs-, Verflechtungs- beziehungsweise Transfergeschichte oder auch Histoire croisée, die von den Postcolonial Studies inspirierte Kolonialgeschichte und die neue Globalgeschichte. Sie alle vereint eine fundamentale Kritik am Zentrismus der Nationalgeschichte, die "[d]ie Ränder, Grenzen und Grenzräume, die Peripherie des Gegenstandes - die Nation - mit ihren nationalen beziehungsweise ethnischen Minderheiten, mit ihren oft komplexen lokalen Machtverhältnissen und hybriden Kulturen […] unberührt und unbeschrieben [lässt]". Eben jene Grenzräume und Peripherien, Minderheiten und hybriden Kulturen sind daher in den letzten Jahren vermehrt Gegenstand historischer Untersuchungen geworden. Dabei sind auch die deutschen Kolonien und Grenzregionen Deutschlands zu Polen und Frankreich stärker in den Blick geraten. Analysen, die die kontinentale und überseeische Expansion des Deutschen Kaiserreichs systematisch miteinander in Beziehung setzen, stellen jedoch immer noch eine Ausnahme dar. Obwohl schon vor einigen Jahren programmatische Aufsätze erschienen sind, die eine solche "Neuorientierung" einfordern, sind bisher erst wenige Untersuchungen publiziert worden, die diesen Ansatz verfolgen.
Der Mangel an Publikationen zur kontinentalen und kolonialen Expansion des Kaiserreichs ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Fokus der Kolonialgeschichtsschreibung bislang primär auf außereuropäischen Regionen lag. Erst in letzter Zeit sind auch koloniale und quasi-koloniale Herrschaftsverhältnisse innerhalb Europas in den Blickpunkt der Geschichtswissenschaft geraten. Die Geschichte der Grenzregionen des Kaiserreichs, insbesondere die der östlichen Teile Preußens, wurde dagegen meist im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte interpretiert. Die dementsprechenden Studien richteten sich entweder auf die polnische Bevölkerung als "ethnische", religiöse und politische Minderheit innerhalb des deutschen Nationalstaats oder auf den Antagonismus zwischen deutscher und polnischer Nationalbewegung. Auch hier hat in den letzten Jahren ein Wandel eingesetzt und Forscherinnen und Forscher stellen sich nun der Frage, inwieweit auch die preußisch-deutsche Herrschaft über Teile Polens und ab 1915 weitere Gebiete Osteuropas koloniale Züge trug. Doch auch diese Arbeiten wagen den direkten Vergleich mit der "offiziellen" Kolonialpolitik des Kaiserreichs in Afrika und Übersee nicht. Meine Arbeit schließt an diese jüngsten Ansätze an, geht jedoch insofern über sie hinaus, als dass sie die überseeische und kontinentale Expansion des Kaiserreichs direkt miteinander in Beziehung setzt. Sie ist somit Teil einer imperialen, transnationalen Geschichte des Kaiserreichs, mit der ich zur Integration von Kolonialgeschichte und innereuropäischer Geschichte beitragen möchte.
Die Arbeit nimmt die semantische Vielfalt des Reichsbegriffs zum Ausgangspunkt, um nach den möglicherweise versteckten oder begrabenen Verbindungslinien zwischen kontinentaler und überseeischer Expansion zu fragen. Sie folgt damit der eingangs zitierten Aufforderung Pascal Grosses, diese beiden Phänomene als "komplementäre, miteinander verbundene und oftmals ambivalente Entwicklungen" wahrzunehmen. Im Fokus stehen dabei zwei Regionen, an denen sich das Verhältnis von kontinentaler und überseeischer Expansion besonders gut aufzeigen lässt: die östlichen Provinzen Preußens (Posen, Westpreußen, Ostpreußen und Schlesien) und die Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Die deutsche Herrschaft über diese beiden "Grenzräume des Kaiserreichs" und die in ihnen lebenden Bevölkerungen wies gewisse parallele Strukturen auf, was eine gemeinsame Analyse besonders lohnenswert macht. Dabei richtet sich mein Fokus besonders auf jene Politiken, die darauf abzielten mit Hilfe neuer oder umgestalteter Raumordnungen auf die Bevölkerungen der beiden Regionen - ihre Zusammensetzung, Interaktion und Mobilität - einzuwirken. Dieses Buch verfolgt demnach die Frage, ob es Verbindungslinien zwischen den Raum- und Bevölkerungspolitiken des Kaiserreichs in den östlichen Provinzen und in Deutsch-Südwestafrika gab und falls ja, wie diese aussahen. Parallele Entwicklungen sollen hierbei ebenso betrachtet werden wie Wechselwirkungen und Transfers.
Jürgen Osterhammel warnt davor, "alles, was sich selbst als ›Reich‹ oder ›Imperium‹ bezeichnet, über einen Kamm zu scheren". Auf der anderen Seite räumt er jedoch ein, dass die gemeinsame Betrachtung unterschiedlicher Grenzregionen oder Frontiers, "große Ähnlichkeiten zwischen Fällen zutage gefördert [hat], die zumeist ohne Verbindung miteinander gesehen werden". Dies gilt auch für den Vergleich kontinentaler mit überseeischen Empires. Wie aber lassen sich das "deutsche Reich" und die hier untersuchten Grenzräume in diese Empireforschung einordnen? Ab 1884 erfüllte das Kaiserreich durchaus die meisten der strukturellen Kriterien, die Osterhammel zur Bestimmung und Abgrenzung von Empires anführt. Die Grenzen des Kolonialreichs hatten Frontiercharakter und die Bevölkerungsstruktur war äußerst heterogen. Die Herrschaft über die sogenannten "Schutzgebiete" basierte auf einem ungleichen Rechtssystem, das zwischen "Eingeborenen" und Deutschen unterschied, und war nicht von unten legitimiert. Die Deutschen, die in den Kolonien lebten, verstanden sich als kulturell überlegene, differente Herrschaftselite und fühlten sich zur "Zivilisation" der Kolonisierten berufen.
Doch gilt dies auch für den kontinentalen Teil des Reiches und für die Zeit vor 1871? Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard scheinen dies zu verneinen, wenn sie von Deutschland im Gegensatz zum Habsburgerreich und Russland als einem sich "imperialisierenden Nationalstaat" sprechen. Ihnen zufolge lassen sich die imperialen Tendenzen des Kaiserreichs erst nach der Eroberung der Kolonialgebiete festmachen. Philipp Ther schlägt dagegen vor, von einem "preußisch-deutschen Empire" auszugehen, da sich dieser Begriff auch auf die Zeit vor der Reichsgründung und der kolonialen Expansion anwenden ließe. Er argumentiert überzeugend, dass Preußen seit der ersten Teilung Polens ein kontinentales Empire war und dass die Herrschaft über die östlichen Gebiete seit den 1860ern, vor allem aber nach der Reichgründung, zunehmend koloniale Züge annahm. Aus dieser Perspektive erscheint Polen dann gar "als angrenzende Kolonie". Dem könnte man jedoch entgegen halten, dass die preußische Politik lange Zeit auf eine Integration der polnischen Gebiete und der polnischsprachigen Bevölkerung in den Staatsverband und somit nicht auf ein koloniales Herrschaftsverhältnis abzielte.
Eine klare Definition des "deutschen Reiches" als Empire ist demnach durchaus nicht unproblematisch. Im Folgenden soll es daher nicht darum gehen, den Beweis zu erbringen, dass Preußen beziehungsweise Deutschland gemessen an einer Reihe struktureller Kriterien tatsächlich ein Empire war. Vielmehr möchte ich in Anlehnung an Laura Ann Stoler und Carole McGranahan das Reich als "imperiale Formation" begreifen, als einen Komplex ökonomischer, politischer, ideologischer und kultureller Herrschaftspraxen. Der Ansatz ist insofern vielversprechend, als dass Stoler und McGranahan davon ausgehen, dass sich imperiale Herrschaftspraxen auch jenseits der geopolitischen Gebilde finden lassen, die im Allgemeinen als Empires bezeichnet werden. Das Empire zeigt sich demnach dort, wo sich Herrschaftspraxen in flexiblen Grenzziehungen, heterogenen Bevölkerungsstrukturen, mangelnder Legitimation von unten, ungleichen Rechtsverhältnissen und kulturmissionarischen Projekten niederschlagen. Diese Herrschaftspraxen sind nicht an bestimmte Orte wie Kolonien gebunden, sondern werden von einer Lokalität zur anderen oder von einer Bevölkerungsgruppe auf eine andere übertragen. Die Untersuchung des "deutschen Reiches" als imperialer Formation ermöglicht es mir, die Herausbildung von ähnlichen Herrschaftspraxen an unterschiedlichen Orten nachzuzeichnen. So lässt sich verfolgen, inwieweit diese Ähnlichkeiten auf direkten Transfers und Adaptionen zwischen den Grenzräumen oder aber auf interimperialen beziehungsweise globalen Einflüssen beruhten. Mitunter kann es auch möglich sein, dass ähnliche lokale Bedingungen innerhalb der imperialen Formation unabhängig voneinander vergleichbare Herrschaftspraxen hervorbrachten.
Die östlichen Provinzen Preußens und Deutsch-Südwestafrika eignen sich in besonderem Maße als Ausgangspunkte, um den imperialen Charakter des Kaiserreichs und die Verbindungslinien zwischen kontinentaler und überseeischer Expansion zu ergründen. Bei beiden Regionen handelte es sich um Räume, deren Relation zum Reich durch ihren besonderen Status zur Disposition stand. Faktoren wie die geographische Ausdehnung des Reiches, die politische Reichweite des Staates sowie die Grenzen zwischen bestimmten Bevölkerungen galten hier als verhandelbar und damit auch gestaltbar. Die als peripher wahrgenommene Lage beider Regionen leistete imperialen Phantasien und Großraumplänen Vorschub. Gleichzeitig zeigten sich hier jedoch die Grenzen, die dem Staat in der politischen Praxis gesetzt waren. Die polizeiliche und administrative Durchdringung der Gebiete erwies sich als problematisch und die angestrebte vollständige Kontrolle über Territorium und Bevölkerung blieb lückenhaft. Da in beiden Regionen große Bevölkerungsgruppen lebten, die sich selbst als nicht-deutsch definierten oder denen die Zugehörigkeit zur deutschen Nation verweigert wurde, musste in den östlichen Provinzen und Deutsch-Südwestafrika zudem die Frage nach dem Verhältnis von Nation, Staat und Empire immer wieder neu verhandelt werden.
Bei beiden Regionen handelte es sich um "Grenzräume" des Kaiserreichs, in denen und durch deren Gestaltung Grenzen zwischen Dingen und Lokalitäten, insbesondere jedoch zwischen Menschen gezogen wurden. Abstrahierend lässt sich diese Grenzziehung als Prozess beschreiben, in dem Unterscheidungen getroffen und diese durch verschiedene Handlungen und Instrumentarien verstetigt werden. Grenzen können zwischen einzelnen Menschen, zwischen kleinen Gruppen oder großen Einheiten anhand verschiedener Kriterien (zum Beispiel Nationalität, Sprache, Rasse, Ethnizität, aber auch Geschlecht, Gesundheitszustand, etc.) gezogen werden. Sie können sich im Raum und in den Köpfen von Menschen manifestieren (mental maps) und so zum Ausgangspunkt für Herrschaftspraxen werden. Sie können das Fremde vom Eigenen als tendenziell Gleichwertiges trennen, als Minderwertiges absondern oder als Gefahr ausgrenzen. Was durch wen, nach welchen Kriterien und mit welchen Mitteln voneinander abgegrenzt wird, ist in jedem Fall ort- und zeitspezifisch.
Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit fällt in den Beginn jener Ära zwischen den 1860er und 1960er Jahren, die Charles Maier als "Zeitalter der Territorialität" charakterisiert hat. Maier bezeichnet "das Auftreten, den Aufstieg und die darauffolgende Krise dessen, was am besten als Territorialität bezeichnet wird", als eine der fundamentalsten soziopolitischen Entwicklungen der Moderne. Territorialität meint in diesem Kontext nicht allein die Unterwerfung von Subjekten unter die Staatsgewalt, sondern die Kontrolle von Dingen und Menschen durch die Kontrolle von umgrenzten politischen Gebieten. Dabei ist die Größe des zu kontrollierenden Gebiets - sei es ein einzelnes Gebäude, eine Region, ein Staat oder eine internationale Arena - unerheblich. Auch im Kaiserreich spielte dieses "Ordnen von Räumen" zur Kontrolle von Menschen eine zentrale Rolle. Dabei ging die Herausbildung von Territorialität mit politischen Bestrebungen zur Expansion des Reiches, Versuchen der Verschiebung aber auch der Fixierung von Grenzen und der Fokussierung auf die Bevölkerung als Ressource einher. "Raum" und "Bevölkerung" avancierten so zu Schlüsselbegriffen des politischen und wissenschaftlichen Denkens. Aufgrund ihres "diffusen Inhalts dafür prädestiniert […] eine Vielzahl verschiedener Vorstellungen und Forschungsvorhaben zu bündeln", konnten sie einen gemeinsamen Bezugspunkt für unterschiedlichste politische Konzepte bieten. Dabei standen wissenschaftliche, politische und öffentliche Debatten in einem engen Wechselverhältnis, sodass es vielfach keine oder nur verschwommene Grenzen zwischen Wissensproduktion und politischer Praxis gab. Die hier untersuchten Herrschaftspraxen - Migrationskontrollen, Ansiedlungspolitiken und urbane Segregation - dienten alle auf die eine oder andere Art der Herstellung von Territorialität. Ich bezeichne sie daher als territoriale Bevölkerungspolitiken.
Ausgehend von der Frage nach dem Zusammenhang zwischen kontinentaler und überseeischer Kolonisation untersucht diese Arbeit, mit welchen territorialen Bevölkerungspolitiken wann und wie versucht wurde auf das Verhältnis von Raum und Bevölkerung innerhalb der Grenzräume einzuwirken. Darüber hinaus geht es mir darum aufzuzeigen, welche konkreten Vorstellungen von der Beziehung zwischen Raum und Bevölkerung den politischen Maßnahmen zugrundelagen, wie diese Vorstellungen entstanden und wie sie sich über den untersuchten Zeitraum hinweg veränderten. Dabei richtet sich mein Interesse insbesondere darauf, wie sich das Verhältnis zwischen Wissensproduktion und politischer Praxis gestaltete und inwieweit sich die in den beiden Regionen eingesetzten territorialen Bevölkerungspolitiken unabhängig voneinander entwickelten oder nicht. Worin ähnelten und unterschieden sich die Bevölkerungspolitiken in den beiden Grenzräumen? Gab es einen direkten Transfer von Wissen und Praktiken zwischen den östlichen Provinzen Preußens und Deutsch-Südwestafrika? Oder lassen sich die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den politischen Maßnahmen eher auf das Wechselspiel von lokalen Gegebenheiten und transimperialen Raum- und Bevölkerungsdiskursen zurückführen? Nicht zuletzt stellt sich auch die Frage, ob und wenn ja, welchen Einfluss die jeweiligen Politiken auf diejenigen Konzepte von Expansion und Lebensraum entfalteten, die aus heutiger Sicht einen Radikalisierungsschub im raum- und bevölkerungspolitischen Denken am Anfang des 20. Jahrhunderts markieren.
Theoretisch lässt sich die Arbeit damit an der Schnittstelle von Vergleichs- und Transfergeschichte einordnen. Dabei folge ich den Anregungen von Michael Werner und Zimmermann, weder von vorgefertigten Vergleichskategorien oder -einheiten auszugehen, noch von fixierten Ausgangspunkten oder Richtungen historischer Transfers. Stattdessen bilden die konkreten Objekte meiner Untersuchung, die territorialen Bevölkerungspolitiken, den Ausgangspunkt der Analyse und mit ihnen die "Ebene der Handelnden", die "Konflikte[…], in denen sie standen", und die "Strategien, die sie zu ihrer Lösung entwickelten". Inspiriert durch die Postkolonial Studies versucht diese Arbeit zudem ein differenziertes Bild von den vielschichtigen Beziehungen zwischen Peripherien und Metropolen zu zeichnen, um so die Trennung einer Geschichte des "Westens" und des "Rests" zu überwinden. Ein Blick auf die Grenzräume des Kaiserreichs scheint methodisch in besonderem Maße dazu geeignet das "deutsche Reich" zu "provinzialisieren".
Drei Untersuchungsfelder stehen bei meiner Analyse imperialer Herrschaftspraxen im Mittelpunkt, an denen sich auch die Struktur dieser Arbeit festmacht: Migration und Arbeit, Ansiedlung und Raumaneignung sowie urbane Segregation. Um jedoch weiterreichende Aussagen über das Verhältnis von kontinentaler zu überseeischer Expansion treffen zu können, ist es notwendig, diese konkreten Forschungsfelder in einen größeren historischen Kontext einzubetten. Gestützt auf Sekundärliteratur analysiere ich die territorialen Bevölkerungspolitiken daher vor dem Hintergrund des imperialen Ausgreifens Preußens seit den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert. Dabei gehe ich auch auf frühe Kolonialphantasien in Bezug auf Afrika und den europäischen Osten ein. Für die Herausbildung und Gestaltung der Grenzräume des Kaiserreichs ist diese Vorgeschichte, die im zweiten Kapitel skizziert wird, von zentraler Bedeutung.
Im Rahmen des ersten Untersuchungsschwerpunkts analysiere ich die territorialen Bevölkerungspolitiken vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Migration und Arbeit. Das 19. Jahrhundert war sowohl durch zahlreiche Binnenwanderungen als auch durch weitreichende Migrationsbewegungen von globalem Ausmaß gekennzeichnet. Sowohl Afrika als auch Europa waren in dieses Netz eingebunden. Die Suche nach Arbeit oder besseren Arbeitsbedingungen gehörte zu den zentralen Motiven der aus-, ein- oder hin und her wandernden Menschen. Aus staatlicher Sicht stellte Migration einen mitunter unkalkulierbaren ökonomischen und politischen Faktor dar, den keine Regierung ignorieren konnte. In den Grenzräumen des Kaiserreichs trat dies besonders deutlich zutage, da hier die Abhängigkeit von mobilen und zugleich als nicht-deutsch definierten Arbeitskräften sehr hoch war. Unter dem Stichwort "Grenzziehungen" analysiere ich im dritten Kapitel, mit welchen politischen Mitteln die deutschen Behörden in den östlichen Provinzen Preußens und in Deutsch-Südwestafrika versuchten, die Migration von Menschen zu regulieren. Untersucht werden die Massenausweisung und Deportationen, Migrationsbeschränkungen sowie die Einführung von Passmarken und -karten zur Kontrolle und Kategorisierung von Arbeitskräften. Dabei geht es vor allem darum, die hinter diesen territorialen Bevölkerungspolitiken steckenden Exklusionsmechanismen offenzulegen. Die Untersuchung stützt sich auf Akten des Gouvernements in Deutsch-Südwestafrika und der Lokalbehörden zu den sogenannten "Eingeborenenangelegenheiten" sowie auf die Unterlagen der preußischen Ministerien zur Einrichtung der "Deutschen Arbeiterzentrale". Um die Hintergründe nachzuzeichnen, vor denen diese Maßnahmen beschlossen wurden, greift sie zudem auf Publikationen und die Protokolle parlamentarischer Debatten zur "Landarbeiterfrage" zurück.
Die Frage der Aneignung von Räumen durch Siedlungskolonisation bildet den zweiten Untersuchungsschwerpunkt und Fokus des vierten Kapitels. Wie Migration war auch Siedlungskolonialismus im 19. Jahrhundert ein globales Phänomen, das sich der staatlichen Kontrolle mitunter entzog. Ein Großteil der deutschen Auswanderinnen und Auswanderer migrierte dauerhaft nach Nord- und Südamerika. Diese Auswanderung wurde im Verlauf des Jahrhunderts zunehmend als "nationaler Verlust" wahrgenommen, was wiederum als Argument zur Expansion des Reiches vorgebracht wurde. Gleichzeitig setzte sich zunehmend die Vorstellung durch, mit der gezielten Förderung von Ansiedlung die annektierten Gebiete im Osten des Reiches beziehungsweise in Afrika "germanisieren" zu können. Ich konzentriere mich hier auf staatlich finanzierte Siedlungspolitiken in den beiden Grenzräumen. Hierunter fallen das preußische Ansiedlungsgesetz von 1886, die Einrichtung der Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen sowie der Versuch eine solche Kommission auch in Deutsch-Südwestafrika zu installieren. Daneben beleuchte ich die Diskussionen um den kulturmissionarischen Auftrag der Siedlerinnen und Siedler als Teil der "Germanisierungspolitiken". Zudem analysiere ich das Wechselverhältnis von Siedlungspolitik und Raumaneignung am Beispiel der Gesetzgebung zur Landenteignung und Niederlassungsbeschränkung. Dabei stütze ich mich auf Archivalien zu den "Besiedlungssachen" in Deutsch-Südwestafrika und den Verhandlungen der preußischen Ministerien über die Ansiedlungskommission sowie zeitgenössische Publikationen zur "inneren" und "äußeren Kolonisation". Ergänzend werden auch Selbstzeugnisse von Siedlerinnen und Siedlern hinzugezogen.
Das dritte Forschungsfeld wird durch einen engeren räumlichen Fokus bestimmt. Hier untersuche ich, inwieweit sich die territorialen Bevölkerungspolitiken im Stadtraum von Posen und Windhoek niederschlugen. Städten kommt bei der Aushandlung von Raumvorstellungen eine zentrale Rolle zu, denn nirgendwo sonst treffen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen so direkt und unmittelbar aufeinander. Dieses Aufeinandertreffen führte in nahezu allen Städten des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer urbanen Segregation, die jedoch auf sehr unterschiedlichen ökonomischen, sozialen, religiösen oder auch rassischen Unterteilungen der Einwohnerschaft basieren konnte. Am Beispiel von Posen und Windhoek überprüft das fünfte Kapitel, inwieweit die urbane Segregation durch gezielte Politiken hergestellt wurde und ob sie auf rassischen beziehungsweise ethnischen Kriterien basierten. Es geht also darum zu ergründen, ob die für imperiale Formationen typischen Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ihren Niederschlag in der räumlichen Ordnung der beiden Städte fanden. Dieser Teil der Untersuchung basiert auf Quellen zur Entfestigung und Erweiterung der Stadt Posen und zur Einrichtung der sogenannten "Eingeborenenwerft" in Windhoek sowie auf zeitgenössischen Stadtbeschreibungen und Verwaltungsberichten.
Abschließend kann und soll nicht darauf verzichtet werden einen Blick auf die Zeit nach 1914 zu werfen. Schlugen sich die in den Grenzräumen entwickelten Vorstellungen von Raum und Bevölkerung auch nach Beginn des Ersten Weltkriegs nieder? Wie Gabriel Vejas Liulevicius aufzeigt, wies die deutsche Militärherrschaft im Baltikum eindeutig koloniale Züge auf. Ebenso lassen sich die Pläne zur Schaffung eines von Deutschland dominierten "Mitteleuropas" oder zur Einrichtung des "polnischen Grenzstreifens" als imperiale oder koloniale Projekte charakterisieren. Im sechsten Kapitel soll geklärt werden, inwieweit bei der Besatzungsherrschaft im Osten, der Kriegszieldiskussion und dem Umgang mit ausländischen Zivilarbeitern an die territorialen Bevölkerungspolitiken der Vorkriegszeit angeknüpft wurde. Es geht darum, Verbindungslinien zwischen Vorstellungen und Praktiken vor und nach 1914 aufzuzeigen, gleichzeitig aber auch die Brüche mit der Vorkriegszeit und die Radikalisierung des raum- und bevölkerungspolitischen Denkens während des Krieges deutlich zu machen. Die Arbeit schafft damit die Grundlage für eine differenziertere Betrachtung deutscher Expansionspläne und -politiken im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert. Sie leistet somit auch einen Beitrag zur vieldiskutierten Frage nach den Kontinuitätslinien von "Windhuk nach Auschwitz" oder von "Windhuk nach Warschau".


Dörte Lerp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Geschichte Europas und des europäischen Kolonialismus an der
Universität zu Köln.



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