E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Liechti Dann komm ich halt, sag aber nichts
4. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8497-8412-6
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Motivierung Jugendlicher in Therapie und Beratung
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Reihe: Kinder- und Jugendlichentherapie
ISBN: 978-3-8497-8412-6
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Steigende Anforderungen in Schule und Alltag überfordern Kinder und Jugendliche immer mehr. Die Zahl der psychischen Störungen unter Heranwachsenden wächst im gleichen Tempo wie das Angebot an Therapien für diese Altersgruppe. Was den meisten Konzepten jedoch fehlt, ist der Blick für die Motivation der Jugendlichen, aktiv an der Beratung teilzunehmen. Wie es gelingt, die Therapiemotivation zu fördern, ist die zentrale Fragestellung dieses Buches.
Der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Jürg Liechti verknüpft hier verschiedene theoretische Konzepte zur Therapiemotivation mit Methoden der systemischen Therapie zu einer systemischen Motivierungspraxis. Sie zielt unter anderem darauf ab, durch das Einbinden von Bezugspersonen aus dem Familienkreis die Bereitschaft der Jugendlichen zur Therapie zu stärken. Der Beratende selbst lernt seinen Anteil am Motivationsprozess kennen und die Signale der Jugendlichen zu empfangen und zu entschlüsseln.
Zahlreiche Sitzungsprotokolle und Fallgeschichten erleichtern die Lektüre und geben Anregungen für die ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Praxis.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Sozialpädagogik
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Beratungspsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Arbeit/Sozialpädagogik Soziale Arbeit/Sozialpädagogik: Familie, Kinder, Jugendliche
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Kinder- & Jugendpsychiatrie
Weitere Infos & Material
2.Ein stilles Leiden
»Insofern ist es eine Zeit, in der sich Menschen schwertun mit Bindungen. Freiheit ist leichter zu verteidigen, wenn sie eingebettet ist in eine Welt von normalen menschlichen Bindungen, und man könnte argumentieren, dass eine der schwierigsten Aufgaben, die wir heute haben, darin liegt, dafür zu sorgen, dass solche Bindungen nicht mutwillig zerstört werden und dass wohl neue entstehen …« Sir Ralf Dahrendorf (Interview in Radio DRS 2, 2006) Extreme verbinden – Der Ersttermin
Für Evas Mutter, Frau S. (vgl. Kap. 1), ergab sich wegen einer kurzfristigen Terminabsage am gleichen Nachmittag ein Gesprächstermin, den sie ohne zu zögern wahrnahm, obwohl sie dafür einen eigenen Arzttermin umlegen musste. Es erschien eine geschmackvoll gekleidete Frau, die, ursprünglich aus Polen stammend, perfekt Deutsch sprach. Dass sie unter großem Druck stand, zeigte sich in ihren angestrengten Versuchen, das Weinen zu unterdrücken. MUTTER: Die Schnitte müssen tief sein, weil immer viel, zum Teil vertrocknetes, zum Teil frisches Blut am Pyjama klebt. Auch habe ich im Papierkorb in Evas Zimmer mit Merfen2 getränkte Wattebausche gefunden. Das ist doch gefährlich, da kann sich doch eine Infektion ergeben, und das muss doch wenigstens von einem Arzt kontrolliert werden. THERAPEUT: Das ist einleuchtend. MUTTER: Aber Eva weigert sich vehement, zu einer Beratungsstelle zu gehen. Sie sagt immer, sie brauche keine Hilfe, man solle sie in Ruhe lassen. THERAPEUT: Und das sehen Sie anders? MUTTER: Auch mein Mann sagt, ich mische mich zu sehr ein. In letzter Zeit habe ich mir Mühe gegeben, nichts mehr zu sagen. Aber das hat eigentlich auch nichts gebracht. THERAPEUT: Nichts gebracht? Wie meinen Sie das? MUTTER: Die blutigen Pyjamahosen sind nicht seltener geworden. THERAPEUT: Aha. MUTTER: Und ich mache mir Vorwürfe, was ich als Mutter alles falsch gemacht habe. Ich bin relativ früh von zu Hause weg, aus Polen, mein Vater war ein hoher Berufsmilitär, jetzt ist er pensioniert und etwas milder geworden … THERAPEUT (unterbricht höflich): Sie meinen, die blutigen Pyjamahosen sind nicht seltener geworden, obwohl Sie sich zurückgehalten haben? MUTTER: Ja, genau. THERAPEUT: Sie haben angenommen, es gebe einen Zusammenhang zwischen Ihren Fragen an die Tochter und den blutigen Pyjamahosen? MUTTER: Ja, das heißt, mein Mann hat immer gesagt, Eva mache das absichtlich, um sich von mir abzugrenzen, damit ich sie endlich würde erwachsen werden lassen. THERAPEUT: Und das hat sich jetzt als Irrtum herausgestellt? Verstehe ich das richtig? MUTTER: Auch eine meiner Freundinnen hat gesagt, ich solle mich vielleicht zurückhalten. So habe ich es auch gemacht. Ich habe mich sehr zurückgehalten. Aber die blutigen Pyjamahosen sind nicht seltener geworden. Im Gegenteil. THERAPEUT: Das heißt also, Ihr Mann und Ihre Freundin haben sich in dieser Vermutung geirrt? MUTTER: Irgendwie ja, auf jeden Fall habe ich es heute Mittag nicht mehr ausgehalten, einfach nichts zu sagen. THERAPEUT: Sie meinen unser Telefonat? MUTTER: Das war später, zuerst habe ich Eva gesagt, nachdem sie von der Schule kam, es müsse doch endlich etwas geschehen, so gehe es einfach nicht mehr weiter. THERAPEUT: Und dann hat sich dasselbe wiederholt wie immer, so wie Sie es kennen? MUTTER: Eva hat mich angeschrieen … [weint] ich darf den Ausdruck gar nicht wiederholen, bei mir zu Hause wäre ein solches Wort unmöglich gewesen. Sie hat die Türe zugeknallt und ist verschwunden. Später habe ich versucht, mit ihr zu reden. Sie hat aber die Zimmertür abgeschlossen. Dann habe ich herumtelefoniert, aber niemanden erreicht. Erst dann kam das Telefonat mit Ihnen. THERAPEUT: Aha [lange Pause] … Nehmen wir einmal an, Eva würde jetzt hier mit uns zusammen sitzen. Ich würde sie fragen, wer hat eigentlich das größere Problem, die Mutter oder Eva? MUTTER: Sie würde natürlich sagen, die Mutter. Das sagt sie mir immer: Du hast Probleme, nicht ich! Auch Papa sage das, hat sie mir auch schon an den Kopf geworfen. THERAPEUT: Gibt’s da Ihrer Meinung nach was Wahres dran? MUTTER: Klar habe ich Probleme, ich bin ja auch bei einer Psychiaterin in Behandlung und nehme Medikamente. Seit mein Mann ausgezogen ist, ist es nicht einfacher geworden. Aber ich wäre schon viel ruhiger, wenn Eva sich wenigstens von einer Fachperson helfen ließe. THERAPEUT: Und Eva will nicht? MUTTER: Sie will nicht, und das verschafft mir schlaflose Nächte. Ich träume auch davon, wie sie sich schneidet. Ich halt’ das nicht mehr aus, obwohl sie sich ja nie beklagt. THERAPEUT: Gesetzt den Fall, Eva hätte gute Gründe, keine Hilfe anzunehmen, zumindest zum heutigen Zeitpunkt und schon gar nicht von Fachpersonen, gesetzt den Fall, sie säße jetzt gerade hier und würde diese guten Gründe vorbringen, und es wären irgendwie einleuchtende Gründe, würden Sie ihr vertrauen, dass sie damit ihre eigene Wahrheit sagt? MUTTER: Das würde mir schwerfallen in Anbetracht der blutigen Pyjamahosen. THERAPEUT: Heißt das, Eva hätte nicht die geringste Chance, Sie von ihrer eigenen Sicht der Probleme zu überzeugen? MUTTER: Nein, so meine ich es natürlich nicht. Ich kann mir vernünftige Gründe einfach nicht vorstellen. Ohnehin will sie ja gar nicht herkommen. THERAPEUT: Gesetzt den Fall, Eva würde zu einer Sitzung eingeladen, nicht als Patientin, die sich Schnittwunden zufügt, sondern als junge Frau, die ihre eigene Wahrheit, ihre eigene, vielleicht verrückte, aber aufs Innigste empfundene Wahrheit vorträgt, und sie hätte das Vertrauen, dass man ihr zuhört, wirklich aufmerksam zuhört – denken Sie, dass dadurch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Eva zu einer Sitzung erscheint, größer oder kleiner würde? MUTTER (überlegt): Ich denke, dass es wahrscheinlicher wäre. THERAPEUT: Sie glauben, dass es Eva wichtig genug wäre, ihre Mutter über die eigene, innere Sichtweise aufzuklären, der Mutter irgendwie nachvollziehbar zu machen, weshalb sie sich schneidet? Sie denken, das wäre für Eva wichtig genug, um herzukommen? MUTTER: Das wäre einmal etwas anderes, aber irgendwie auch eine verkehrte Welt. THERAPEUT: Könnte es sein, dass der Grund des aggressiven Verhaltens darin liegt, dass Eva Ihnen gegenüber Schuldgefühle hat? MUTTER: Ja, das hat sie mir auch schon einmal gesagt. Wir haben ja auch gute Stunden, dann schlüpft sie sogar in mein Bett. THERAPEUT: Könnten Sie sich vorstellen, Eva an eine Sitzung einzuladen, diesmal nicht als Patientin, die sich schneidet, sondern als Tochter, die beitragen kann, die schwierige Situation besser zu verstehen? MUTTER: Was müsste ich denn anders machen? THERAPEUT: Eigentlich nicht viel; denn das Allerwichtigste tun Sie ja bereits. Sie stehen das alles durch, trotz aller Belastungen. Sie halten Ihrer Tochter die Treue. Sie hegen ein tiefes Vertrauen in sie. Sie geben nicht auf. Sie suchen Hilfe. Sie bauen Brücken. Das ist alles zusammen weit mehr als die halbe Miete. Dass ein junger Mensch Probleme hat, wenn er sich mehrmals absichtlich und gefährlich schneidet, ist kein Zweifel. Zum Glück hat Eva eine Mutter, die sich dabei nichts vormachen lässt. Vielleicht ist für Eva aber das, was für uns das Problem bedeutet, nämlich das Schneiden, eine Art Lösung eines seelischen Problems. Zum Beispiel ein vielleicht noch unreifes, immerhin aber funktionierendes Ventil für Pubertätsspannungen. Konkret heißt das, Eva würde unter diesen Bedingungen nie freiwillig herkommen, um zu hören, dass sie das Ventil ersatzlos aufgeben soll. Warum sollte sie auch, wo sie gerade eine Methode gefunden hat, um sich einigermaßen in seelischer Balance zu halten. Sie wird möglicherweise aber dafür zu gewinnen sein herzukommen, wenn sie das Vertrauen hat, dass wir uns für das Ventil ausgesprochen interessieren, statt es zu kritisieren. So wie ein Erfinder seine Erfindung vorträgt. Vielleicht kann so auch ihr Interesse für andere, weniger destruktive Ventile geweckt werden. Doch den Zeitpunkt, wo es soweit ist, alte Ventile durch neue zu ersetzen, wird sie selbst bestimmen wollen. Vorerst zählt einzig, dass wir mit ihr ins Gespräch kommen. Offene Gespräche führen zu neuen Möglichkeiten, es sind Brücken, die Extreme verbinden. Das ist unsere Erfahrung. Kooperation im therapeutischen Arbeitskontext
Leopold Szondi bezeichnete eine besondere Reifestufe des Ichs, das die Gegensätze zwischen Trieb- und Affektnatur, der...