E-Book, Deutsch, 164 Seiten
Reihe: zur Einführung
Liessmann Sören Kierkegaard zur Einführung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-073-2
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 164 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-073-2
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung: Kierkegaards Aktualität
Dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, einem Denker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht nur ungebrochene, sondern gerade im ausgehenden 20. Jahrhundert eine besondere Aktualität zu konzedieren scheint auf den ersten Blick vielleicht verwunderlich. Zu sehr ist Kierkegaard schon Bestandteil klassischer Philosophiegeschichten, zu sehr ist sein Platz als Vorläufer des Existentialismus und als radikaler Kritiker eines amtskirchlich degenerierten Christentums durch Rezeption und Forschung festgelegt, als daß man seinem Werk noch unmittelbare Wirksamkeit zutrauen könnte. Wollte man Kierkegaard aber ernst nehmen, ginge es genau darum: um eine Mitteilung, die sich einfach an den Leser wendet, nicht gebrochen durch Rezeptionsgeschichte, Forschung und Interpretation. Wie kaum ein Philosoph vor oder nach ihm hat Kierkegaard versucht, sich an den Einzelnen zu wenden, in einer Direktheit, die nur die Indirektheit der eigenen Methode gelten lassen konnte und auf die Vermittlungen von Forschung, Wissenschaft oder Deutung wohl gerne verzichtet hätte. Natürlich ist dieser Wille Kierkegaards nicht mehr vollziehbar. Die Geschichte, die auch noch die singulärsten Anstrengungen zu Momenten in komplexen Entwicklungen reduziert, hat auch mit Kierkegaard keine Ausnahme gemacht. Auch er spricht nicht mehr unmittelbar zu uns. Aber seine Ranküne gegen jede Form der Vermittlung sollte bei jedem Versuch einer Lektüre seiner Werke mitreflektiert werden, die Form ihrer Aneignung mitbestimmen. Um sich den Schemata zu entziehen, in die die Sekundärliteraturen Kierkegaard gepreßt haben, muß der Däne erst gar nicht gegen den Strich gelesen werden – es genügt, ihn wieder einmal zu lesen, ihn in all seiner Zwiespältigkeit wirken zu lassen. Darüber hinaus aber haben die Zeitläufte selbst einiges dazu beigetragen, daß man mit Kierkegaard nicht die geistigen Konstellationen einer vergangenen Epoche, sondern die aufbrechenden Konflikte unserer Gegenwart wenn nicht lösen, so doch in vielem erst adäquat thematisieren kann. Kierkegaard, man darf es nicht vergessen, ist Zeitgenosse von Karl Marx und mit diesem und als sein Antipode Erbe und Kritiker der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Im Jahre 1843, als Marx in seiner genialischen Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie die Kritik der Religion für beendet erklärt und die Transformation der theoretischen Kritik in jene revolutionäre Praxis fordert, durch die sich die Philosophie verwirklichen sollte, in jenem Jahre erscheint Kierkegaards nicht minder genialische Erstlingsschrift Entweder/Oder. Ging es bei Marx um die Kritik der reinen Kritik und ihre Umwandlung in eine kollektive revolutionäre Praxis, so bei Kierkegaard um die Kritik einer theoretisch-ästhetischen Lebensform durch die Ansprüche einer durch die Ethik bestimmten Praxis, wodurch aber für Kierkegaard die Frage nach dem religiösen Glauben als entscheidende Kategorie noch gar nicht berührt war. Aber anders als bei Marx, der im Proletariat jenen naiven Volksboden sehen wollte, der, schlägt nur der Blitz des Gedankens in ihn ein, sich erheben und die Menschheit schlechthin revolutionieren und erlösen sollte, bleibt bei Kierkegaard die Frage einer Entscheidung untrennbar an das Individuum gebunden. Während Marx aus seiner Kritik Hegels das Proletariat als materielles Substrat gewann, das die Philosophie in sich aufnehmen sollte und auf dem nun die Last der Weltgeschichte ruhte, die es als einzig revolutionäre Klasse nach den Gesetzen der Geschichte zu tragen gehabt hätte, gewann Kierkegaard aus seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hegel die Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Individualität und Kontingenz – wie immer Geschichte ansonsten auch gedacht werden mochte. Gegen Hegel und gegen Marx dachte Kierkegaard nicht das System und nicht das Ganze, sondern den Einzelnen in seiner Existenz. Mit dem welthistorischen Scheitern der Marxschen Hegel-Kritik durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus, mit der Abdankung des Weltproletariats als revolutionärer Klasse, mit dem pointierten Ende der Geschichte im Marx-Hegelschen Sinne bleibt nicht nur die bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung die bis auf weiteres einzige sinnvolle und praktikable Perspektive, sondern muß auch die Frage nach dem Individuum als dem Träger dieser Perspektive neu gestellt werden. Kierkegaard, der sich wie kaum ein anderer die Analyse der Existenzmöglichkeiten des Einzelnen zum Gegenstand gemacht hat, kommt unter diesen Bedingungen tatsächlich eine ungeahnte Aktualität zu. Wenn das Leben des Einzelnen als Einzelner eines der Fundamente einer modernen Zivilisation ist, dann müßte Kierkegaards Analyse desselben – mit welchen Zielsetzungen er selbst diese Analyse auch immer verbunden haben mag – auf erregendes und erregtes Interesse stoßen. Daß Kierkegaards Intention, wie er sie selbst sehen wollte, in der Klärung der Frage lag, was wahres Christsein bedeutet, ändert nichts an diesem Befund – denn die Möglichkeit von Christsein war für ihn untrennbar an die Kategorie des Einzelnen gebunden und dessen Analyse für ihn überhaupt erst aus der ersten Frage notwendig geworden. Das Verfahren, das Kierkegaard allerdings bei der Beantwortung dieser Frage seinem Leser gegenüber anwandte, läßt noch eine andere Facette seiner Aktualität aufleuchten. Kierkegaard wäre nämlich gerne ein Mäeutiker gewesen, der seinen Leser in das wahre Christentum hineinbetrügt und hineintäuscht. Immer wieder, nicht nur in seiner Dissertation, ist deshalb eine »ständige Rücksicht auf Sokrates« zu spüren, auf jenen »heidnischen« Philosophen also, der für Kierkegaard wohl die äußerste Grenze markierte, an die menschliche Vernunft für sich gelangen kann. Indem Kierkegaard diese Vernunft bis zu jenem Abgrund hin analysiert, über den für ihn nur der Sprung in den Glauben retten kann, analysiert er, radikal wie wenige, die Grundbefindlichkeiten und Grundprobleme des modernen Subjekts. Die ironische Distanz, die Kierkegaard, nicht zuletzt durch das raffinierte Spiel mit den Pseudonymen, unter denen er seine wichtigsten Schriften publizierte, zwischen sich und den Leser legt, unterstreicht nicht nur seine Modernität, sondern erlaubt es, seinen Reflexionen auch dann mit Genuß zu folgen, wenn man weder deren Prämissen noch deren Konsequenzen teilen will. Gerade weil dieses ironische Moment oft unterschlagen oder nur unter dem Gesichtspunkt einer mäeutischen Ethik gesehen wurde, wurden auch jene Dimensionen an Kierkegaard übersehen, die so gar nicht ins tradierte Bild des christlichen Denkers passen wollten: Ästhetik und Erotik. Auch diese Einführung kann nur andeuten, daß Kierkegaard nicht nur als Ästhetiker ernster zu nehmen ist, als man bislang gewohnt war, sondern als einer der großen Erotiker des modernen philosophischen Denkens überhaupt erst zu entdecken wäre. Nicht nur der Erotiker Kierkegaard muß angedeutet bleiben, auch der Verfasser Erbaulicher Reden, auch der publizistische Kämpfer gegen die dänische Kirche, letzten Endes auch der christliche Schriftsteller. Wenngleich es unstatthaft ist, Kierkegaards Werk nach äußeren und schematischen Gesichtspunkten zu trennen, mußten für eine Einführung angesichts eines derartig umfangreichen Œuvres Akzente gesetzt und Schwerpunkte gefunden werden. Da eine umfassende Darstellung des gesamten Kierkegaard den Umfang und die Intention des Bandes bei weitem gesprengt hätte oder in einer oberflächlichen Zusammenschau hätte versanden müssen, fiel der Entschluß nicht schwer, sich auf jene Schriften und Perioden der Kierkegaardschen Schriftstellerei zu konzentrieren, die nicht nur den Zugang zu diesem Denker leicht eröffnen, sondern auch jene Problemkonstellationen entfalten, auf denen einerseits die christliche Schriftstellerei Kierkegaards selbst aufbauen konnte, andererseits sich aber auch die philosophische Rezeption Kierkegaards entzündete. Es sind also die pseudonymen Schriften von Entweder/Oder bis zur Krankheit zum Tode, die im Zentrum dieser Einführung stehen. Diese Einführung hat weder den Anspruch, einen Überblick über die Formen, in denen Kierkegaard rezipiert wurde, oder über die verschiedenen Deutungsmodelle, die die Kierkegaard-Forschung im Laufe der Zeit produziert hat, zu geben, noch will sie diesen eine weitere Interpretation hinzufügen – wenngleich nicht verschwiegen werden soll, daß wir mit einem Zugang sympathisieren, der es erlaubt, Kierkegaards religiöse Kategorien als Chiffren für die Grundbefindlichkeiten des modernen Menschen zu lesen. Es soll in dieser Einführung aber auch nicht versucht werden, Kierkegaard zu systematisieren. Das widerspräche der innersten Intention seines Denkens genauso wie den Formen, die er diesem Denken gegeben hat. Aufregend an Kierkegaard ist die Bewegung des Denkens selbst, nicht dessen nachträgliche Subsumtionen unter philosophiehistorisch verbürgten Begriffen oder vermeintlichen Resultaten. Deshalb wurde versucht, eng an den Texten zu bleiben und diese nicht in allgemeinere Fragestellungen zu integrieren oder von diesen her zu beleuchten. Erst diese Nähe zu den Texten, so die These, erlaubt...