E-Book, Deutsch, 124 Seiten
Löbmann / Bieker / Engel Wissenschaftstheorie für die Soziale Arbeit
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-041911-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Orientierung
E-Book, Deutsch, 124 Seiten
ISBN: 978-3-17-041911-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1 Einführung
T Überblick In der Einführung wird erklärt, was unter »Wissenschaftstheorie« zu verstehen ist. Dazu wird zunächst der Begriff »Wissen« definiert, um anschließend auf die Merkmale von »Wissenschaft« einzugehen. Außerdem wird aufgezeigt, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen für die Soziale Arbeit hat. Das Kapitel beginnt mit einem Fallbeispiel, anhand dessen im weiteren Verlauf einige wichtige Aspekte von »Wissen« und »Wissenschaft« verdeutlicht werden sollen. 1.1 Wissen
Folgende Definition des Wissens wird Platon (428/427?–?348/347 v.?Chr.) zugeschrieben: »Wissen ist wahre gerechtfertigte Meinung«. Folgendes Praxisbeispiel mag dies illustrieren. Fallbeispiel Mika studiert im 5. Semester Soziale Arbeit und macht ihr Halbjahrespraktikum an einer Realschule in der Schulsozialarbeit. Ihr Anleiter, Herr Demir, bittet sie, ein gutes Training zur Medienkompetenz von Jugendlichen ausfindig zu machen. Sofort muss Mika daran denken, dass ihr Bruder Josch ihr mal von einem Workshop zur Medienkompetenz an seiner Schule erzählt hat, der ziemlich gut gewesen sei. Sie finden noch ein paar alte Arbeitsblätter und bekommen heraus, dass das Programm von damals PROTECT hieß. Aber dann denkt sich Mika: »Ich kann ja jetzt nicht einfach so zu Herrn Demir gehen und sagen, dass mein Bruder an PROTECT teilgenommen und es gut gefunden hat. Das ist mir irgendwie zu unwissenschaftlich.« Also recherchiert sie im Internet und stößt auf die Grüne Liste Prävention des Landespräventionsrats Niedersachsen (http://gruene-liste-praevention.de). Hier werden die verschiedensten Präventionsprogramme für Kinder und Jugendliche hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Kriterien bewertet. Mika schaut sich die Ergebnisse zum Programm PROTECT (Professioneller Umgang mit technischen Medien) (Lindenberg 2018) an. PROTECT ist tatsächlich eines von den grünen, d.?h. den gut evaluierten Programmen. Am nächsten Morgen stellt sie Herrn Demir das Programm vor. Als er nachfragt, kann sie begründen, warum das ein wirksames Programm sein dürfte. Daraufhin schlägt ihr Herr Demir vor, diesen Workshop mit ihm zusammen an der Schule anzubieten. Wenn Mika die Meinung ihres Bruders, PROTECT sei ein gutes Präventionsprogramm, einfach nur wiedergeben würde, dann ist es fraglich, ob hier von Wissen gesprochen werden kann. Denn diese Aussage ist zunächst mal nur eine Meinung im Sinne von einem Glauben oder einer Annahme. Mika muss eine Rechtfertigung in Form verlässlicher Belege dafür finden. Eine Evaluationsstudie, wie sie sie auf der Webseite der Grünen Liste Prävention gefunden hat, ist ein solcher, verlässlicher Beleg. Wissen ist also nicht nur die bloße Wiedergabe von Aussagen anderer und beruht erst recht nicht nur auf einem Bauchgefühl. Wenn es sich wirklich um Wissen handelt, dann sind gute Argumente dafür verfügbar, dass etwas wahr ist. Dies führt zu weiteren philosophischen Fragen, nämlich was Wahrheit überhaupt ist und worin eine gute Rechtfertigung bzw. Begründung besteht, auf die aber im vorliegenden Rahmen nicht näher eingegangen werden kann (zum Überblick: Gloy 2004). 1.2 Wissenschaft
Um sich dem Begriff der Wissenschaft zu nähern, sei zunächst die Frage aufgeworfen, wozu wir eigentlich Wissenschaft betreiben. Wir können ein konkretes Problem lösen: Zum Beispiel führen wir mit einer schüchternen Klientin Rollenspiele durch, damit sie anschließend selbstsicherer in Bewerbungsgesprächen auftreten kann. Das reicht uns in der Praxis erst einmal aus, aber Wissenschaft ist das noch nicht. Würden wir hingegen in einer Studie untersuchen, ob Klient*innen, die soziale Kontakte in Rollenspielen geübt haben, anschließend sozial kompetenter auftreten als Personen, die dies nicht getan haben, dann wäre das ein wissenschaftliches Vorgehen. Wir können auch etwas grundlegend verbessern: Zum Beispiel entwickeln wir unsere Gesprächsführungskompetenz weiter und bauen anschließend eine bessere Beziehung zu unseren Klient*innen auf. Dabei interessiert uns letztlich nur, dass die Beziehung hinterher besser ist als vorher. Aber auch das ist noch keine Wissenschaft. Würden wir hingegen eine Theorie entwickeln, welche Elemente unserer Gesprächsführung welche Reaktionen bei den Klient*innen hervorrufen und wieso diese Reaktionen wiederum Vertrauen und Offenheit fördern, dann wäre das ein wissenschaftliches Vorgehen. Was ist also Wissenschaft? Wissenschaft ist, wenn Menschen das, was sie untersuchen, im Prinzip verstehen wollen. Sie wollen wissen, wie die Dinge zusammenhängen, wie sich etwas erklären und verstehen lässt. Diese Haltung der Unruhe, der nie versiegenden Neugier, kennzeichnet Wissenschaft. Im Alltag nehmen wir Erklärungen, die für verschiedene Phänomene gelten, aufgrund von Erfahrungen und unserem ›gesunden Menschenverstand‹ meist vorbehaltslos hin. Unsere Erfahrungen unterliegen jedoch allen möglichen Verzerrungen. Bspw. merken wir uns auffällige Ereignisse – es regnet und ich habe keinen Schirm dabei – besser als unauffällige Ereignisse – es regnet und ich habe einen Schirm dabei. Wir überschätzen dann die Häufigkeit solcher Ereignisse in unserer Erinnerung (sog. »Verfügbarkeitsheuristik«, Tversky & Kahneman 1973). Systematisch herausfinden zu wollen, ob etwas tatsächlich der Fall ist oder nur fälschlicherweise geglaubt wird, ist dagegen die Idee der Wissenschaft. Wissenschaft sieht sich somit dem Ideal der Wahrheit verpflichtet (Tetens 2013, 17) – einer Wahrheit, die unabhängig von der jeweiligen Person des*der Wissenschaftler*in Geltung hat. Eine bestimmte Wissenschaftsdisziplin wird dabei durch ihren Gegenstand, ihre Methode, die Reflexion der Methode und ihre Sprache charakterisiert. Für die Soziale Arbeit könnte dieser Gegenstand bspw. »Soziale Probleme« sein. Um davon auszugehen, dass etwas wahr ist, muss es gut begründet sein. Daher gehen Wissenschaftler*innen nach wissenschaftlichen Methoden vor: Die einzelnen Verfahrensschritte laufen nach bestimmten Regeln ab und werden dokumentiert. Selten reicht dabei die Alltagssprache für den Unterscheidungsreichtum und die Genauigkeit, die die Wissenschaft einfordert, aus. Denn Forschungsfrage, -methode und -ergebnis sind sprachlich so genau, verständlich und eindeutig darzustellen, dass sie für andere Wissenschaftler*innen nachvollziehbar werden. Daher enthält die Sprache einer bestimmten Wissenschaft viele Ausdrücke und Wendungen, die aus der Alltagssprache nicht bekannt sind. Indem Methoden und Ergebnisse in der entsprechenden Fachsprache dargelegt werden, werden sie für andere Wissenschaftler*innen nachvollziehbar und überprüfbar. Diese Intersubjektivität ist wichtig, weil Wissenschaft arbeitsteilig und kooperativ ist: Ein Mensch allein kann nicht alle Fragen eines bestimmten Fachgebiets klären. Es gibt vielmehr eine wissenschaftliche Gemeinschaft – ein soziales Gefüge von Wissenschaftler*innen, die die gleichen Fragen beantworten wollen. Zum Beispiel hat Mika die Grüne Liste Prävention entdeckt. Hierbei handelt es sich um ein Forum für Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen, die sich für Präventionsprogramme für Kinder und Jugendliche interessieren. Diese Personen möchten nachvollziehen können, ob die Wirksamkeit der einzelnen Programme gut überprüft wurde. Schließlich besitzt das wissenschaftliche Verfahren ein Charakteristikum, das keine andere Methode des Erkenntniserwerbs aufweist: die Selbstkorrektur. Es wird z.?B. hinterfragt, in welchem Kontext, mit welchem Interesse und mit welchen Methoden bestimmte Erkenntnisse gewonnen worden sind. Die Reflexion der Methode und die damit verbundene Öffnung für Fragen und Kritik an der eigenen Forschung sind ein wesentliches Kriterium wissenschaftlichen Arbeitens. Doch nicht nur der sog. Peer-Review ist wichtig, sondern auch der kritische Blick auf die eigene geleistete Arbeit. Dazu gehört die stetige Bereitschaft, die gewonnenen Erkenntnisse neu zu hinterfragen und falls nötig zu revidieren. Zweifel an zuvor getroffenen Aussagen ist somit durchaus typisch für das wissenschaftliche Vorgehen. Der Soziologe Niklas Luhmann hat dies folgendermaßen ausgedrückt: »In der Interpretation von Wahrnehmungen des Alltags entstehen normalerweise keine Zweifel. Eine Rose, die man sieht, ist eine Rose, oder jedenfalls doch eine Blume. Ganz anders die Interpretation der Ergebnisse von Experimenten oder sonstigen wissenschaftlichen Daten. Durch Wissenschaft wird nicht Sicherheit, sondern gerade Unsicherheit gesteigert, in gerade noch tolerierbaren Grenzen« (Luhmann 1990, 325?f., Herv. i.?O.). Alle Erkenntnisbemühungen, die die oben beschriebenen Merkmale aufweisen, dürfen Wissenschaft genannt werden, unabhängig von ihren spezifischen Themengebieten oder Methoden. Gleichwohl bestehen natürlich große Unterschiede zwischen bspw. der Quantenphysik und der...