Buch, Deutsch, Band 68, 249 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 218 mm, Gewicht: 412 g
Reihe: Campus Historische Studien
Plädoyer für eine historische Gewaltforschung
Buch, Deutsch, Band 68, 249 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 218 mm, Gewicht: 412 g
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-39720-7
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gewalt und Diskriminierung: Soziale Aspekte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Kindesmissbrauch, Sexueller Missbrauch, Häusliche Gewalt
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort 7
1. Von der Schwierigkeit eines Zugriffs - Methodologische Abklärungen 9
1.1 Zwischen den Disziplinen - Gewalt als Forschungsproblem 9
1.2 Gewalt - Definitionsfragen 15
1.3 "Notzucht" und "Mißbrauch" in Zürich - Ein Beispiel für Gewalt in Europa 20
1.4 Sexualisierte Gewalt - Forschungstendenzen 27
1.5 Gerichtsakten - Spezifische verschriftlichte Sprechhandlungen 31
2. Vergewaltigung und Missbrauch in Zürich - Empirische Befunde 37
2.1 "Notzucht" und "Mißbrauch" - Grauzonen in Medizin, Recht und Theologie 37
2.2 Zug um Zug - Auf dem Weg zum Gericht 45
2.3 Fälle - Vieles im Dunkeln 58
2.4 Frauen - Zwischen Ehrenhaftigkeit und Prostitution 69
2.5 Kinder - Kleine oder keine Erwachsene? 88
2.6 "Richtige" Männer - Männer in "Not" 100
2.7 Soziales Umfeld - Strafen, mitwissen, eingreifen 109
2.8 Prozesse im Gericht - Anklagen, verteidigen, aushandeln 121
2.9 Körper im Blick - Kaum Platz für Emotionen 141
2.10 Rechtes Richten - Sünde als öffentliches Ärgernis 169
3. Für eine Historisierung der Gewalt - Programmatische Schlussfolgerungen 193
3.1 Projekt Historisierung von Gewalt - Welches sind die Herausforderungen? 193
3.2 Verständnis von Gewalt - Was macht Gewalt zu Gewalt? 199
3.3 Konstellationen von Gewalt - Wer handelt wie? 205
3.4 Bedeutung von Gewalt - Worin liegt das Problem? 210
3.5 Ent-/Tabuisierung von Gewalt - Wie wird Gewalt zum Thema? 215
Quellen und Literatur 221
Tabellenanhang 235
Glossar 243
Sachregister 247
Tue ich jemandem Gewalt an, wenn ich etwa in einem vollen Bus durch kräftiges Schubsen die entsprechende Person zwinge, in den Gang zu rücken, damit ich auch noch einsteigen kann? Muss ich ihr erst körperlich weh tun, damit mein Drängen zu Gewalt wird? Wird, was ich als legitimes Drängen betrachte, möglicherweise als illegitime oder intolerable Grenzverletzung empfunden? Teilen die bedrängte Person und die Umstehenden dieselbe Vorstellung von Grenzüberschreitung?
Die enge Definition von Gewalt als illegitime körperliche Verletzung des Gegenübers, wie sie wenige historische Lexika anbieten, ist handlich und erfüllt gute arbeitspragmatische Dienste, ist aber nur vermeintlich eindeutig. Wer Gewalt als illegitime Überschreitung der physischen Grenzen anderer begreift, kann Gewalt leicht abgrenzen. Mit Krieg, Mord, Vergewaltigung, Folter, Körperstrafen und Schlägerei ist das Untersuchungsfeld grob umrissen. Doch Gewalt ist vielschichtiger. Es ist nicht so einfach zu bestimmen, wo Körper und körperliche Verletzung anfängt, wo Aggression in Gewalt umschlägt. Reicht ein blauer Fleck für "Gewalt" aus oder muss Blut fließen? Ist es keine Gewalt, wenn ich eine Person einsperre, um über sie verfügen zu können, ohne sie dafür körperlich anzutasten?
Kann eine illegitime physische Verletzung nicht auch toleriert werden? Gewalt geschieht nicht nur mit Händen und Waffen, sondern auch mit Worten und Gesten. Sie verletzt nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Sie ist nicht nur roh, sondern auch ritualisiert. Nicht umsonst definieren Überblicksdarstellungen der Psychologie, Pädagogik, Kriminologie oder Soziologie Gewalt als körperliche Grenzverletzung, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass Gewalt über physische Verletzung hinausgeht. Ich halte daher aus zwei Gründen einen weiter gefassten Gewaltbegriff für die Erforschung von Gewalt für notwendig.
Erstens erweist sich das Kriterium der körperlichen Grenze nicht als überzeugend. Das Problem, wo Gewalt anfängt beziehungsweise aufhört, stellt sich nicht erst heute, sondern sorgte auch im Zürich der Helvetik für Unsicherheiten. Mit der Helvetischen Verfassung von 1798 war zwar die Folter abgeschafft worden, doch belegen Nachfragen der regionalen Gerichte, dass damit noch längst nicht klargestellt war, was hieraus folgte. Aus der Erfahrung, dass die Amtleute der untergeordneten Behörden die Angeklagten mit Stockschlägen zu einem Geständnis zu bewegen versucht hatten, verfügte der Rat als Gesetzgeber schließlich, dass "nicht nur alle bekannten Gattungen der Folter, welche ehemals in eint und andern Orten üblich waren, sondern alle körperliche Peinigung, als Zwangmittel zu Erpreßung eines Geständnißes bei Nachsuchung der Verbrechen gänzlich untersagt" seien. Offenbar bedurften die Untersuchungsbehörden genauerer Bestimmungen, um zu erkennen, wo die Grenzen zu illegitimer körperlicher Verletzung verliefen.
Aus einem offeneren Gewaltbegriff folgt zweitens nicht, dass alles und jedes zu Gewalt deklariert wird. Wenn Gewalt als eine Normüberschreitung verstanden wird, die eine Gesellschaft für unerträglich hält, dann ist Gewalt eine Form sozialen Handelns, die konzeptionell eingegrenzt werden kann. In einer Gesellschaft, in der die körperliche Unversehrtheit eines Menschen keine soziale Norm ist, kann - wie in der Frühen Neuzeit - der Ehemann verpflichtet sein, die Ehefrau körperlich zu "maßregeln", ohne dass die Grenzen zwischen legitimer und nicht mehr tolerabler Gewalt klar wären. In Gesellschaften, in denen - wie dies in westlichen Industrieländern bis vor einigen Jahrzehnten der Fall war - dem Ehemann ein Anrecht auf notfalls mit Gewalt erzwungenen ehelichen Geschlechtsverkehr zugestanden wird, entspricht die invasive körperliche Handlung einer sinnvollen und gesellschaftsstabilisierenden, das heißt die Institution der Ehe begründenden Norm. Die Regeln, die das Zusammenleben der Mitglieder einer Gesellschaft prägen, bestimmen also, was in dieser Gesellschaft als Gewalt betrachtet wird oder auch nicht.
Gewalt kann als Grenzverletzung körperlicher, aber auch psychischer oder symbolischer Art sein und will durch tiefe Verletzung unterwerfen und zerstören. Die Gewaltausübenden können dabei auf ihre Opfer oder Dritte zielen, aber auch allein die Lust an der Gewalt im Auge haben. Gewalt ist jedoch nicht mit Kränkung und jeglicher Verletzung zu verwechseln. Eine Person, die bewusst oder unbewusst eine andere kränkt oder verletzt, geht über deren Willen und Bedürfnisse hinweg. Sie weist die andere Person ab, beleidigt sie, beschämt sie vielleicht auch, was sie durchaus zu ihrem Vorteil nutzen kann. Eine Person hingegen, die Gewalt ausübt, zielt mit den schweren Verletzungen, die sie zufügt, darauf, sich eine andere Person zu unterwerfen. Was eine "leichtere" und was eine "schwerere" Verletzung ist, lässt sich also nicht phänomenologisch daran erkennen, ob etwa Blut geflossen ist und Knochen gebrochen worden oder gar keine physischen Übergriffe erfolgt sind, sondern daran, was bei den Opfern bewirkt werden soll beziehungsweise bewirkt wird. Solange die Unterscheidung zwischen einer Handlung, die irgendwie verletzt und einer Handlung, die durch Grenzverletzung auf die gesellschaftlich nicht tolerierte Niederwerfung der verletzten Person zielt, aufrecht erhalten bleibt, solange kann der Gewaltbegriff auch andere als körperliche Aspekte einschließen, ohne den Untersuchungsgegenstand aufzulösen. Ein weiter, aber nicht konturloser Gewaltbegriff, der über die vermeintlichen Grenzen des Körpers hinausgeht, ist die bessere konzeptionelle Lösung, um dem Phänomen Gewalt gerecht zu werden.
Der offenere Gewaltbegriff hat einen zusätzlichen Vorteil. Er ermöglicht eine Akzentverlagerung in der Betrachtungsperspektive. Wenn Gewalt auf die Niederwerfung der Opfer zielt, dann steht nicht mehr so sehr die Frage im Zentrum, was Gewalt ist. Vielmehr lautet nun die Frage, welche Wirkungen Gewalt hat beziehungsweise haben soll. Dies führt zur Grundsatzfrage, was Gewalt in einer Gesellschaft zu Gewalt macht. Gewalt ist nicht mehr eine feste, ontologische Größe, sondern eine relative Kategorie, indem bestimmte Verhaltensformen für eine Gesellschaft dadurch zu Gewalt werden, dass diese Verhaltensformen von den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft als nicht tolerable Grenzverletzung eingeschätzt und erlebt werden. Schlicht ausgedrückt: Gewalt ist, was eine Gesellschaft als Gewalt anerkennt - eine trivial klingende Feststellung, die so trivial nicht ist, wenn man bedenkt, wie eindimensional die Forschung Gewalt als illegitime physische Grenzverletzung betrachtet.
Die einführend diskutierten Probleme der Erkenntnisinteressen verschiedener Disziplinen sowie des Gewaltbegriffs haben Konsequenzen für die vorliegende Darstellung. Ich plädiere dafür, Gewalt zu historisieren und dafür mit einem relativ weiten, aber dennoch begrenzten Gewaltbegriff zu arbeiten, der folgende Kennzeichen aufweist:
Gewalt ist grundsätzlich ambivalent. Die Rede von der Ambivalenz der Gewalt meint, dass eine Person eine andere massiv verletzt und damit grundlegende gesellschaftliche Normen überschreitet. Die Reaktionen auf Gewalt bestehen in der Regel darin, die verletzte Ordnung wiederherzustellen und diese dadurch zu bestätigen. Gewalt wirkt damit destabilisierend und stabilisierend zugleich. Wie noch zu zeigen bleibt, laufen die Trennlinien zwischen Gewalt und Nichtgewalt nicht so sehr zwischen illegitimer violentia und legitimer potestas, sondern eher zwischen gesellschaftlich tolerierter und nicht tolerierter grenzverletzender Handlung.
Gewalt ist eine teils ritualisierte Form sozialen Handelns mit physischen, verbalen und symbolischen Mitteln innerhalb strukturell geprägter (zumeist asymmetrischer) Situationen. Soziales Handeln erfolgt, wie es der Ausdruck verdeutlicht, zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft und gründet darauf, dass es bestimmten Regeln folgt, die für die Mitglieder dieser Gesellschaft mit bestimmten Bedeutungen versehen sind. Gewalt wird von Menschen und nicht von Strukturen ausgeübt und erlitten. Gewalt ist nicht ein Aufeinandertreffen mehrerer Körper im Sinne biologistisch-essentialistisch gedachter Gebilde, sondern ein Interagieren mindestens zweier Personen, von denen eine oder beide die Interaktion als Gewalt erleben und beschreiben.
Gewalt ist nicht eine fest definierte Größe, sondern ist ein Ausüben und Erfahren von Gewalt, das heißt ein soziales Handeln, das auf die Niederwerfung oder Zerstörung des Opfers zielt beziehungsweise diese erreicht. Um das Phänomen Gewalt zu erschließen, ist daher nicht die Frage, was Gewalt ist, zentral, sondern die Frage, was Gewalt in einer Gesellschaft zu Gewalt macht.
Gewaltfähigkeit und Gewaltbereitschaft mögen zwar anthropologisch gegeben sein, doch ist Gewalt deswegen keine universale Konstante. Vielmehr wandelt sich Gewalt als soziales Handeln mit der Gesellschaft, in der sie ausgeübt wird. Gewalt ist insofern ein historisch zu differenzierendes Phänomen.