E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Loick Anarchismus zur Einführung
3. unveränderte Auflage 2022
ISBN: 978-3-96060-123-4
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-96060-123-4
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2.1 Individualistischer, libertärer und liberaler Anarchismus
2.1.1 William Godwin Obwohl er den Begriff selbst nicht positiv verwendet, kann der britische Romancier und Journalist William Godwin (1756–1836) als einer der Begründer des philosophischen Anarchismus angesehen werden. Godwin, der aus der Familie eines calvinistischen Pfarrers stammte, war Ende des 18. Jahrhunderts einer der wichtigsten Denker_innen der radikalen Regierungskritiker_innen in England. Sein ganz im Geist des Rationalismus und der Aufklärung geschriebenes Hauptwerk Enquiry Concerning Political Justice (1793), das erst 2004 unter dem Titel Politische Gerechtigkeit in deutscher Übersetzung erschienen ist, enthält bereits viele Motive, die später für anarchistische Theorien kennzeichnend werden. Godwins Werk wurde im Nachklang der Französischen Revolution breit rezipiert und hatte einen bemerkenswerten Einfluss auf die internationale Diskussion um die Gestalt fortschrittlicher politischer Institutionen, wobei es in der anarchistischen Bewegung für lange Zeit keine große Beachtung fand. 1797 heiratete Godwin, der ein Verfechter der vollständigen Gleichstellung der Frau und ein Kritiker der Ehe war, die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft. Aus der Ehe ging Mary Godwin hervor, später Mary Shelley, die als Autorin des Frankenstein weltberühmt wurde. Über Wollstonecraft, die kurz nach der Geburt ihrer Tochter im Kindbettfieber starb, schrieb Godwin eine detaillierte und offenherzige Biografie, die ihm die Verachtung der konservativen Presse einbrachte, so dass sein journalistischer Ruf nachhaltig beschädigt wurde. Godwin, der sich im Laufe seines Lebens politisch mäßigte, lebte fortan ein eher abgeschiedenes Leben und starb achtzigjährig. Politische Gerechtigkeit ist ein ebenso faszinierendes wie umfangreiches Buch, in dem es keinesfalls nur um politische Gerechtigkeit, sondern auch um eine ganze Reihe anderer Themen geht, die das menschliche Zusammenleben betreffen, vom Einfluss des Klimas über die Auswirkung des Luxus bis zu Reflexionen über den Selbstmord und die Praxis des Duells. Godwins Grundprämisse ist die Annahme menschlicher Perfektibilität: Wie zuvor Rousseau, so geht auch Godwin davon aus, dass die Menschen ihr Wesen und damit auch die Gesellschaft bis hin zur »sittlichen Vervollkommnung« verbessern können. Diese Verbesserung soll schließlich zu einem harmonischen Zusammenleben führen, in dem kein Staat und kein Zwang mehr notwendig sind. »Gerechtigkeit« ist für Godwin also nicht nur ein abstrakter moralischer Maßstab etwa der Gleichheit, sondern hat ethische Implikationen. Für Godwin, der hier ganz in der englischen Tradition des Utilitarismus steht, geht es bei der Gerechtigkeit vor allem um Entfaltungsmöglichkeiten, gutes Leben und Glück. Alle anderen politischen und moralischen Grundsätze wie Freiheit und Gleichheit sind aus dem obersten Ziel des »Glücks der menschlichen Rasse« (Godwin 2004, 21) nur abgeleitet. Godwins Werk präsentiert dabei so etwas wie einen Gegenentwurf zu Rousseaus Gesellschaftsvertrag: Wollte Rousseau ein ideales Gemeinwesen durch die Vereinigung aller Einzelwillen in einem Gemeinwillen erreichen, wird für Godwin das größte Glück aller nicht durch die Einrichtung einer Regierung, sondern durch die ungestörte Entwicklung des Individuums erreicht. Staat, Regierung und Recht erscheinen so nicht als Ermöglichungsbedingungen, sondern als Einschränkungen der freien Entwicklung der Einzelnen. Godwin ist daher als ein Vertreter des individualistischen Flügels des Anarchismus einzuordnen, auch wenn er nicht so radikal ungesellig ist wie später Max Stirner oder die amerikanischen libertarians. Sein Individualismus ist vor allem aus dem Prinzip der Autonomie der Vernunft begründet: Nur solche Grundsätze können Wahrheit beanspruchen, die vom freien Urteil der Einzelnen ratifiziert werden. Gegen den Anarchismus wird oft eingewendet, er gehe von einem »naiven« Menschenbild aus. Godwin würde dem entgegnen, dass sich die negativen Auswirkungen einer auf sozialer Herrschaft basierenden Gesellschaftsordnung auf die Sitten der Menschen empirisch belegen lassen. Bei seiner Analyse der historisch tatsächlich existierenden Staaten, das heißt der Staaten des Altertums bis zu den europäischen Monarchien des 18. Jahrhunderts, kommt er zu dem Schluss, dass Regierungen der moralischen Verbesserung und ethischen Vervollkommnung der Menschen nicht zu-, sondern abträglich sind. Staaten verursachen regelmäßig blutige und opferreiche Kriege, verführen zu Despotismus und Herrschsucht, stacheln Nationalismus und Patriotismus an, ermöglichen Bevorzugung und Ungleichheiten. Staatsordnungen, so schließt Godwin, korrumpieren sowohl die Beherrschten als auch die Herrschenden. Sind es nicht also gerade die Verteidiger_innen staatlicher Herrschaft, die trotz dieser erdrückenden Beweislast weiterhin am Staat als Heilsbringer festhalten wollen, die sich damit der Naivität schuldig machen? Neben den empirisch belegbaren Negativeffekten staatlicher Herrschaft lässt sich deren Legitimität für Godwin auch nicht theoretisch rechtfertigen: Weder Stärke noch Gottesgnadentum noch der von Rousseau angenommene fiktive Gesellschaftsvertrag sind in der Lage, eine Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat zu begründen. Aus der Analyse der korrumpierenden Effekte von Herrschaft kann der Umkehrschluss gezogen werden, dass bessere soziale Bedingungen auch besseres individuelles Verhalten erwartbar machen. Der Mensch samt seinen moralischen Einstellungen und Verhaltensweisen ist Ergebnis seiner Sozialisation. Durch geeignete Erziehung und Bildung, politisch gerechte und freiheitlich verfasste Institutionen stehen dem Menschen gigantische Entfaltungspotenziale offen, die ihm bislang durch die ungünstige Gesellschaftseinrichtung blockiert waren. An die Stelle der staatlichen Zwangsgewalt tritt in Godwins politischer Utopie konsequent das private Urteil der Einzelnen, das nicht legitimerweise von anderen eingeschränkt werden darf. Godwins Ziel ist es, »dass jedermann klug genug wäre, um sich ohne das Eingreifen zwangsweiser Beschränkung selbst zu beherrschen; und da die Regierung sogar in ihrem besten Zustand ein Übel ist, besteht das vor allem anzustrebende Ziel darin, dass wir so wenig davon haben sollten, wie es der allgemeine Frieden der menschlichen Gesellschaft gestattet« (Godwin 2004, 180). Institutionell plädiert Godwin für einen föderativen Zusammenschluss dezentralisierter Assoziationen, dessen verbleibende gemeinschaftliche Funktion vor allem in der »intellektuellen und moralischen Vervollkommnung der Individuen« (Godwin 2004, 354) sowie in allgemeinen Verwaltungsaufgaben liegt. Eine eigenständige Exekutivgewalt lehnt er ab, Zwangsanwendung ist auf die unmittelbare und temporäre Verteidigung der Gesellschaft oder eines ihrer Mitglieder gegen Angriffe beschränkt. Godwin, noch ganz im Bann der traditionellen pejorativen Verwendungsweise dieses Begriffs stehend, schreckt davor zurück, einer solchen »einfachen Gesellschaftsform ohne Regierung« (Godwin 2004, 715) den Namen »Anarchie« zu geben. Godwin wendet sich nicht nur gegen politische, sondern auch gegen ökonomische Herrschaft. Insofern ist er, noch vor Frühsozialist_innen wie Charles Fourier und Robert Owen (der von Godwin beeinflusst war), ein Kritiker des Kapitalismus. Wie mit Blick auf den Staat, so stützt Godwin auch seine Argumente gegen den Kapitalismus vor allem auf die Diagnose von dessen glücksfeindlichen Effekten. Die kapitalistische Gesellschaft produziert Armut, die einen Großteil der Bevölkerung der elementaren Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und ihrer Persönlichkeitsentfaltung beraubt, während sie bei den Reichen zu Luxusstreben, Protzerei und Machtanmaßung führt – was diese ebenfalls unglücklich macht. Eigentum ist daher nur in dem Maße erlaubt, wie es zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und zu einem guten Leben notwendig ist. Darüber hinausgehende Akkumulation von Reichtum lässt sich nicht vernünftig rechtfertigen. Godwin fordert noch nicht die kommunistische Vergesellschaftung der Produktionsmittel, für die später Bakunin und Kropotkin eintreten, aber er vertritt eine konsequente Gleichverteilung der gesellschaftlich produzierten Güter an alle. Dabei geht er davon aus, dass bei einer Gleichverteilung der Arbeit, dem Wegfall unnötiger Arbeit und mit zunehmendem technischem Fortschritt der individuell zu leistende Beitrag radikal minimiert werden kann; »täglich eine halbe Stunde, von jedem Mitglied des Gemeinwesens gewissenhaft mit körperlicher Arbeit verbracht«, rechnet Godwin aus, würde »die Gesamtheit ausreichend mit dem Lebensnotwendigen versehen« (Godwin 2004, 747). Godwin ist kein Vertreter einer gewaltsamen Revolution, sondern vertritt eine Frühform der anarchistischen Idee der präfigurativen Politik: Anstatt die bestehenden Institutionen zu übernehmen oder zu überwältigen, kann man sie einfach ignorieren und damit beginnen, auf gewaltlose Weise eigene Gegeninstitutionen aufzubauen. Der Staat ist kein Ding, das man einfach kaputtmachen kann, sondern eine...