Lundberg | Sternstunde | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Lundberg Sternstunde


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-455-81384-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-455-81384-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



New York 1932: Die Kleinwüchsigen Glauer und Ka treten in einer Freakshow auf. »Hereinspaziert, schaut und staunt«, so lockt Glauer in Coney Island Zuschauer an. Neugierige Blicke und schlimmere Erniedrigungen sind er und Ka gewohnt. Aber ein normales Leben muss doch möglich sein? Sie nehmen den Dampfer nach Deutschland, Ziel ist das glitzernde Berlin mit seinen Varietés. Dort treffen sie auf Verner, den kleinsten Mann der Welt, und das einsame Blumenmädchen Nelly. Doch die Zeiten sind unsicher geworden, und als sie eingeladen werden, im Stockholmer Vergnügungspark mit dem idyllischen Namen »Gröna Lund«, grünes Wäldchen, aufzutreten, nehmen sie dankbar an.

Mitreißend und kraftvoll erzählt Lotta Lundberg über eine wundersame Reise und die Sehnsucht nach Liebe und Respekt in unbehaglichen Zeiten, die allzu vertraut scheinen.

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Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
G. S. gewidmet [...]
I
II
III
Nachwort der Autorin
Endnoten
Über Lotta Lundberg
Impressum


Luna Park, Coney Island
1932 »Hereinspaziert, Ladies and Gentlemen! Bestaunen Sie die kleinsten Babys der Welt! Schon über eine Million Besucher haben unsere Brutkästen gesehen. Verpassen Sie nicht die Frühgeburten in unserer Show, die schon um die halbe Welt gereist ist, von einem Vergnügungspark zum anderen, Ladies and Gentlemen. Laufend neue Kinder! Ob in Chicago, Paris oder Berlin. Unsere Brutkästen sind hygienisch. Behaglich. Das ist die Erfindung unserer Zeit. Das ist die Sensation!«   Glauer stand auf dem Podest neben der rosafarbenen Schaubude und wiederholte ständig dieselbe Litanei: »Die kleinsten Babys der Welt, nur hereinspaziert, bestaunen Sie die kleinsten Babys der Welt!« Zu Beginn der Schicht hatte er seinen Lockruf noch variiert. Die Stimme gehoben und gesenkt. Doch das ermüdete ihn bald. Er wurde heiser. Und sah zur Uhr. Schon die vierte Vorstellung heute. All the world loves a baby stand auf den Werbetafeln des Brutkastenhauses, aber Glauer war da skeptisch. Was zählte, war das Geschäft. Es galt, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Mit den Frühgeburten in diesen Aquarien würde man nicht bis in alle Ewigkeit Geld machen können. Ihre Missbildungen würden sich mit der Zeit geben – anders als seine. Ein ununterbrochener Besucherstrom bewegte sich die Treppe hinauf, vor allem Frauen. Es war unfassbar – von allen Attraktionen, die es jemals im Vergnügungspark gegeben hatte, die errichtet, wieder abgerissen, einem Feuer zum Opfer gefallen oder finanziell gescheitert waren, seitdem Glauer hier seinen Dienst verrichtete, waren die Säuglinge die mit Abstand kostspieligste und beliebteste Attraktion. Dabei waren die Frühchen in den Glaskästen nicht einmal niedlich oder hübsch anzusehen. Wie frisch geschlüpfte Vogeljunge ohne Flaum, ohne Fleisch, ohne schützenden Babyspeck lagen sie mit geschlossenen Augen da und schrien. Und das sollte sehenswert sein? Aber die Frauen säuselten und gurrten trotzdem. Er konnte es bis hierhin hören, durch die geöffnete Tür sehen – wie sie dort drinnen gegen die Glasscheiben klopften und mit den Lebewesen dahinter schäkerten. Das wollte ihm partout nicht in den Kopf. Da zog er doch das richtige Terrarium am anderen Ende des Parks vor. Wenn schon etwas anglotzen, dann lieber ein scheues Reptil als eine Frühgeburt. Wieder sah er zur Uhr. Die Dämmerung brach herein, schon bald würden im Luna Park die Lichter angehen. Trotz der Weltwirtschaftskrise ließ man jeden Abend Hunderttausende bunte Lampions erstrahlen – rote, gelbe, grüne, blaue; hell erleuchtet baumelten sie hoch oben zwischen den Bäumen des Vergnügungsparks wie ein herabgesenktes Sternenzelt. Gottes Zirkuszelt, dachte Glauer. Ein unendlich schwarzer Himmel über ihm, und dann diese nahezu greifbaren Fixpunkte – farbenfrohe Lichterketten an Stromkabeln. So weit entfernt, dass man sie nicht erreichen konnte, und doch so nahe, dass man sich unentwegt fragte, wie es wohl sein mochte, sie zu berühren. Und die Lampions erhellten die ganze Welt. Venedig mit seinen Kanälen, erleuchteten Gondeln und romantischen Brücken, japanische Gärten, ein Schimpansen-Theater, holländische Windmühlen und ein irisches Dorf. Da sausten mehrmals in der Stunde Robben und Eskimos eine eisige Rutschbahn herunter. Da tanzten echte Asiaten, bunte Elefanten und große Kamele die Straßen von Delhi hinunter, am Türkischen Bad und am Tin-Elephant-Hotel vorbei, wo verbotenes Hochprozentiges und billige Huren serviert wurden. Da saß ein Mädchen, stumm und verängstigt, in Tücher gehüllt und stellte seine riesigen Feuermale zur Schau, da platschte ein waschechter Mohr in einen Kübel mit kaltem Wasser, wann immer Besucher mit ihrem Pfeil den roten Kreis in der Mitte der Dartscheibe trafen, da jodelten erwachsene Männer in kurzen Hosen, die mit Bommeln verziert waren, während die Löwen brüllten und die Ballons im Wind hüpften. Da gab es dieselben Attraktionen wie auf den Märkten Europas: bärtige Damen, den dicksten Mann der Welt, Entfesselungskünstler, Trapezartisten, Wahrsagerinnen, Leierkastenspieler und Bestien; missgebildete und bedauernswerte Figuren also, die ihren Lebensunterhalt jenseits von Glamour und Zuckerwatte verdienten. Eine dieser Attraktionen war Liliputanien, die Miniaturstadt, in der Glauers Volk auftrat und der Glauer vorstand. Seine Tätigkeit als Rekommandeur und Pförtner von Dr. Couneys Inkubatorenhaus war nur ein Nebenverdienst, der Job brachte ihm etwas Taschengeld ein und war zweifellos der einfachere von beiden. Hier musste er allabendlich einfach nur dastehen und konnte seinen Blick über alles hinwegschweifen lassen, während er in Tagträumen versank und sich eine andere Welt ausmalte. Hier hatte er die Muße, sich in die Vergangenheit zurückzusehnen. Hier hielt er seine Gedanken fest, voller Sehnsucht, eines Tages jemanden zu finden, dem er sie offenbaren könnte.   Glauer beugte sich über seine Schatulle und zählte die Tageseinnahmen. Bald war Schließzeit. Zeit, zu seinem Wohnwagen zurückzugehen. Er freute sich schon darauf, die Schuhe auszuziehen, die Füße hochzulegen und die Augen einen Moment zu schließen. Vielleicht würde er seine Schreibutensilien hervorholen und sich einen Drink genehmigen. Durch die geöffnete Tür konnte er hören, dass die Vorstellung fast zu Ende war. Dr. Couney hob zum Finale an. »Leider können wir nicht hören, wie gut sich ihre Lungen entwickelt haben.« Der Arzt deutete auf einen Brutkasten, in dem ein blaues Gesichtchen zwischen den Tüchern hervorlugte und sich ein kleiner Mund zu einem Schrei verzog, der nicht durch den Glasbehälter drang. »Wegen des hohen Infektionsrisikos heben wir die Deckel nur an, um die Kinder zu füttern. Babys ohne Saugreflexe werden mit diesem Löffelchen durch die Nase ernährt.« Er nahm einen spitz zulaufenden Stahllöffel aus der weißen Kitteltasche. »Die anderen werden von eigens für diese Aufgabe eingestellten Säuglingsschwestern gefüttert.« Er zeigte auf die beiden jungen Frauen, die neben der Tür standen. Ihre stahlblauen Kleider zierten weiße Schürzen, und Glauer sah, dass sie unter ihren Häubchen, wo die Haare zu strengen Rollen hochgesteckt waren, verlegen erröteten und zu Boden sahen. »Bald werde ich das öffentliche Gesundheitswesen von meiner Erfindung überzeugt haben«, schloss Couney, und an dieser Stelle brach seine Stimme für einen flüchtigen Moment, und er hustete, »und dafür … dafür ist es wahrlich an der Zeit. Bis es jedoch so weit ist, finanziert der Luna Park diese ganze Einrichtung!« Er machte eine ausholende Geste und verneigte sich tief.   Glauer wartete ab, bis der Applaus versiegt war und sich die Besucher zerstreut hatten, bevor er das Gebäude betrat, um aufzuräumen. An den Wänden aufgereiht stand Dr. Couneys Erfindung: ein Dutzend von Öllampen erwärmte Wassertanks, auf denen die Glaskäfige standen. Darin die Kinder. Augenkontakt zu ihnen aufzunehmen, war nicht möglich, das wusste Glauer. Ohne die kleinen Informationsschilder mit Angaben zu Alter, Entwicklung des Geburtsgewichts und Zustand der Frühgeburt hätte man nicht wissen können, dass dort drinnen tatsächlich ein Menschenleben lag. Weiter hinten waren die älteren Frühchen, die schon länger in der Ausstellung gezeigt worden waren; diese Kinder erwiderten mit ein bisschen Glück den Blick, den man ihnen zuwarf. Als Glauer gerade angefangen hatte, im Vergnügungspark zu arbeiten, war er eines Abends auf einen Stuhl geklettert und hatte zu einem der Kleinen hineingesehen. Da hatte er bemerkt, dass ihn das Kind wie ein aufgeschrecktes Reh vor der Flucht angeguckt hatte. Sofort war er vom Stuhl gesprungen und zu seinem Wohnwagen gerannt. Später hatte er gedacht, dass das Kind dort drinnen nach einem Halt gesucht hatte, war aber schnell zu der Einsicht gelangt, dass dieses Menschlein niemals einer Person vor der Scheibe sein Vertrauen schenken würde. Diesen Fehler machten solche Kinder nicht – diese Erfahrung machten sie als Allererstes, dachte Glauer. So klein sie auch sind, leben sie doch schon lange genug, um zu wissen, dass es zwecklos war, würde die Frau vor der Glasscheibe doch ohnehin wieder fortgehen. Danach hatte er sich nie wieder auf einen Stuhl gestellt, um zu den Babys hineinzuschauen. Stattdessen beeilte er sich nach der letzten Vorstellung damit, zwischen den Wassertanks Zigarettenkippen und Bonbonpapier aufzulesen, die Überreste von gebrannten Mandeln und Apfelbutzen in den Papierkorb zu werfen, auszukehren und das Licht zu löschen. Hier wollte er nicht länger bleiben.   Als Glauer abschloss, strich noch eine Frau auf der Treppe herum. Er erkannte sie wieder. Erkannte auch andere Besucherinnen wieder. Sie waren Stammgäste – kinderlos, wie er annahm. Frauen mit Kinderwagen oder Schwangere hatte er in der Brutkastenausstellung noch nie gesehen. Die Frau sah ihn scheu an und streckte eine Hand nach ihm aus. Glauer war es gewohnt, dass Menschen ihn – bei weitem nicht nur Kinder – anfassen, anstupsen und kneifen wollten, um festzustellen, ob er wirklich echt war, aber diese Hand zitterte so, dass er ahnte, dass die Frau etwas anderes wollte. »Bitte sehr«, sagte die Dame und reichte ihm eine Geldnote, bevor sie sich rasch umdrehte und die Stufen herunterhastete. Sie humpelte leicht, und er konnte sehen, dass sie ihr Kopftuch enger zog. Er sah auf den Dollarschein herab. Das war viel Geld. Sehr viel Geld für wenig Arbeit. Aber darüber würde er sich nicht den Kopf zerbrechen. Sorgen hatte er schließlich genug. Und mit den Jahren hatte...


Lundberg, Lotta
Lotta Lundberg, geboren 1961 in Uppsala, lebt seit 2004 in Berlin. Sie schreibt für das Feuilleton verschiedener schwedischer Tageszeitungen. Für ihren Roman Zur Stunde null (2015) wurde sie mit dem renommierten Literaturpreis des schwedischen Rundfunks ausgezeichnet. Sternstunde wurde von der schwedischen Presse hochgelobt.

Hoyer, Nina
Nina Hoyer, geboren 1974, ist Skandinavistin und übersetzt Werke aus dem Schwedischen, Dänischen und Norwegischen, u.a. von Lotta Lundberg, Mats Strandberg und Anneli Jordahl.

Lotta Lundberg, geboren 1961 in Uppsala, lebt seit 2004 in Berlin. Sie schreibt für das Feuilleton verschiedener schwedischer Tageszeitungen. Für ihren Roman Zur Stunde null (2015) wurde sie mit dem renommierten Literaturpreis des schwedischen Rundfunks ausgezeichnet. Sternstunde wurde von der schwedischen Presse hochgelobt.



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