E-Book, Deutsch, 1145 Seiten
Luserke-Jaqui Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7720-0215-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schriften zur Kulturgeschichte der Literatur
E-Book, Deutsch, 1145 Seiten
ISBN: 978-3-7720-0215-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In diesem grundlegenden Werk geht es um die Darstellung und Interpretation einer Kulturgeschichte der Literatur im Spannungsfeld von buchstäblichem Verstehen und symbolischer Deutung. Ausgangspunkt einer kritischen Diskussion philosophischer und literaturtheoretischer Positionen ist eine Reflexion über das Bild Offenes Buch von Paul Klee. Darauf aufbauend wird eine Poetik der Bedeutungsoffenheit entwickelt, die Philologie als eine Kulturgeschichte der Literatur versteht. An den Leitbegriffen von Poiesis (Philologie als Überlieferungsgeschichte), Katharsis (Philologie als Wirkungsgeschichte) und Aisthesis (Philologie als Deutungsgeschichte) wird das Modell PoiKAi generiert, mit dem sich eine Kulturgeschichte der Literatur schreiben lässt. Umfangreiche Register (Begriffe, Quellentitel, Namen) erschließen das Buch zusätzlich als Enzyklopädie.
Prof. Dr. Matthias Luserke-Jaqui lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt.
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„Literatur persönlich genommen“. Statt eines Vorworts
Im Jahr 1776 schreibt ein Anonymus in der Straßburger Zeitschrift Der Bürgerfreund: „Sie haben Recht: die Bücher wachsen in unsern bösen Zeiten fast geschwinder als Erdschwämme, vervielfältigen sich mehr als Polypen; und die Kabinete der Gelehrten sind in mehr als einem Betrachte den Weberstühlen der geschäftigsten Manufacturen ähnlich. – – – Die ungeheure Menge der wirklich vorhandenen Bücher ist also der natürlichste Einwurf, gegen den sich ein neu auftretender Schriftsteller gefaßt machen muß. Jeder Buchladen, vor dem er vorüber geht; jede Bibliothek, die er besucht, und beraubet, scheinen ihm mit leiser Stimme eben das zuzurufen, was Sie uns in ganz vernehmlicher Sprache sagen: Man hätte seine Bemühung sparen, und immerhin seine Weisheit für sich behalten können. Auch sind die meisten Vorreden nichts als glückliche, oder unglückliche Versuche, diese so furchtbare Anklage von sich abzulehnen, und an der Schwelle des Tempels dem entgegen strebenden Haufen von Schreibern, und von Lesern zu beweisen, daß man wohl auch noch verdiene, eingelassen zu werden.“ Kulturgeschichtlich gesehen handelt es sich hierbei um eine alte zivilisatorische Klage, die schon in der Bibel dokumentiert ist im Buch Kohelet mit den Worten: „des vielen Büchermachens ist kein Ende“ (Pred 12, 12). Und auch Schiller klagt im Brief an Goethe vom 19. März 1795 über „die Menge elenden Zeugs, die ich nachlesen muß“. Das kann ich zwar verstehen, aber das nicht-elende Zeug, das ich lesen durfte, las ich gerne, schon gar nicht fühlte ich mich an einen Kommentar in der Lessing-Ausgabe erinnert, wo geseufzt wird: „Lohnende Erkenntnisse daraus zu gewinnen, ist dem Kommentator allerdings nicht gelungen“. In zahlreichen Publikationen habe ich in der Vergangenheit die Themen und Probleme einer KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR oder aber auch deren grundsätzliche Fragen in vielen Einzelbeispielen dargestellt. Diese Arbeiten sind nun zu einem großen Ganzen zusammengewachsen, das auf der Ebene von Buchstäblichkeit und symbolischer Deutung die Grundlagen einer KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR auslotet. Den Grundgedanken zu einem solchen Projekt habe ich erstmals 1996 anlässlich des Bochumer Germanistentags zum Thema Wege zur Kultur einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt. Aus der weiteren thematischen Beschäftigung ging unter anderem mein Buch Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur (2002) hervor. Darin wird am Paradigma des Kindsmords eine kulturgeschichtliche Arbeitsweise in der Literaturwissenschaft diskutiert, durch welche die fachwissenschaftlichen Debatten der Medizingeschichte, Kriminologie, Soziologie, Rechtsgeschichte, Anthropologie und Theologie, die im literarischen Diskurs der Zeit fokussiert sind, zusammengeführt werden. Insofern verstehen sich die hier versammelten Schriften als eine Ergänzung zu meinen Büchern Medea und Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren (2003) die noch weiteres, umfängliches und hier nicht mit aufgenommenes Material zum Thema einer KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR enthalten, gelegentliche Überschneidungen ließen sich nicht immer vermeiden. Das vorliegende Buch führt meine Studien, Aufsätze und Vorträge zu einer KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR zusammen. Die Texte wurden teils stark überarbeitet, gelegentlich wörtlich übernommen, oder sie sind neu als bislang unveröffentlichte Texte hinzugekommen. Die Schreibweise wurde den heutigen Standards angepasst. John Cage hat anlässlich der Herausgabe seines Textes Silence (1961) geschrieben: „Natürlich sind nicht alle diese Texte formal ungewöhnlich. Einige wurden für den Druck geschrieben, d.h. um eher betrachtet als gehört zu werden. Andere wurden als konventionelle informative Vorträge konzipiert und gehalten (ohne deshalb die Hörer zu schockieren, soweit ich das feststellen konnte). Diese Sammlung enthält nicht alles, was ich geschrieben habe; sie spiegelt wider, was ich war und weiterhin bin, meine wesentlichen Anliegen“. Friedrich Schlegel notierte unter der Überschrift Zur Philologie I: „Der empirische Mensch erwartet vom Philologen, daß er über jede vorkommende Notiz und Frage […] vollständige Auskunft zu geben wisse“. Damit gerate ich in ein Dilemma, denn natürlich wünsche ich mir einen nicht-empirischen Menschen, der nicht diesem gewaltigen Anspruch unterliegt, bin zugleich aber auf den empirischen Menschen als Leser*in und Diskutant*in angewiesen. Deshalb will ich bei aller Einsicht in die menschliche Unzulänglichkeit meinen Anspruch mit Lacan so formulieren: „ich bringe Sie halt auf den Weg des Textes, damit Sie dort mit mir Steine klopfen“. Und möglicherweise hat auch Hederichs Votum Geltung: „Mehrere solche Deutungen kann sich ein jeder selbst machen“. Die drängende Bitte eines Heinrich von Kleist „Kulturgeschichte, […] aber sogleich“, konnte ich nicht erfüllen. Denn diese Schriften zur KULTURGESCHICHTE DER LITERATUR sind im Laufe eines langen Zeitraums entstanden. Sie bilanzieren eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema, die als Leitmotiv meiner Arbeit gelten kann. Ich hätte mir anfangs nie träumen lassen, dass es so lange Zeit braucht, bis das Buch abgeschlossen ist, und mehrmals musste ich mich prüfen, ob ein Wort von Karl Marx an Laura und Paul Lafargue vom 11. April 1868 auch auf diese Studien zutrifft: „Ich bin eine Maschine, dazu verdammt, [Bücher] zu verschlingen und sie dann in veränderter Form auf den Dunghaufen der Geschichte zu werfen“. Ich habe mich bemüht, einen solchen Eindruck zu vermeiden, denn mein Bild von Geschichte ist doch wesentlich positiver. Wenn Marge Simpson ihrem etwas begriffsstutzigen Gatten Homer aus der amerikanischen Zeichentrickserie Die Simpsons empfiehlt: „Du musst zwischen den Zeilen lesen“, so ist seine Antwort: „Aber da sind nur weiße Zwischenräume“, geradezu repräsentativ für die kulturelle Verlustgeschichte von Text und Textdeutung. Und damit stellt sich die grundsätzliche Frage, leiden wir alle inzwischen an dieser Art Homerisierung der Deutung? Als ich bei Goethe die folgenden Worte las, bildete ich mir ein, sehr genau zu verstehen, was der Dichter ausdrücken wollte: „Da ich nicht viel geben kann, habe ich immer gewünscht das Wenige gut zu geben, meine schon bekannten Werke des Beyfalls, den sie erhalten, würdiger zu machen, an diejenigen, welche geendigt im Manuscripte daliegen, bey mehrerer Freyheit und Muse den letzten Fleiß zu wenden, und in glücklicher Stimmung die unvollendeten zu vollenden. Allein dieß scheinen in meiner Lage fromme Wünsche zu bleiben; ein Jahr nach dem andern ist hingegangen, und selbst jetzt hat mich nur eine unangenehme Nothwendigkeit zu dem Entschluß bestimmen können, den ich dem Publiko bekannt gemacht wünschte.“ Die drei Hauptteile Poiesis, Katharsis und Aisthesis sind in sich chronologisch geordnet, nicht nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern hinsichtlich ihres Themas. Das erklärt, weshalb sich auch innerhalb der einzelnen Teile durchaus Härten und Überschneidungen finden. Und das bedeutet auch, dass das Buch keine Geschlossenheit in sich suggeriert, sondern durchaus auch nach thematischen oder textlichen Schwerpunkten gelesen werden kann. Der römische Dichter Martial schreibt zu Beginn des zehnten Buches seiner Epigramme: „nota leges quaedam, sed lima rasa recenti“ (V. 3), „manches Bekannte wirst du lesen, aber es ist mit frischer Feile geglättet“, ohne aber seine Herkunft oder Entstehungszeit verbergen zu wollen. In jedem Fall teile ich die Erfahrung von Moses Mendelssohn, die er Lessing in einem Brief am 11. August 1757 mitteilt: „Ich werde aber die Stellen […] aufsuchen, die ich eigentlich meine, und alsdenn werde ich mich...