Mai | Leonardos Geheimnis | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 432 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 215 mm

Mai Leonardos Geheimnis

Die Biographie eines Universalgenies
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-374-05786-3
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Biographie eines Universalgenies

E-Book, Deutsch, 432 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 215 mm

ISBN: 978-3-374-05786-3
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Leonardo da Vinci gilt als das Urbild des Universalgenies der Renaissance, als der große Magier, der erste Naturwissenschaftler, der geniale Künstler. Er war eine Ausnahmeerscheinung in einer Zeit voller Ausnahmeerscheinungen. Und Leonardos Leben bleibt wie das Lächeln der Mona Lisa geheimnisvoll. Es entzieht sich, wenn man sich ihm nähern will. Also muss man neue Wege wählen, um ihm nachzuspüren. Der Renaissance-Experte Klaus-Rüdiger Mai folgt dem Universalgenie auf bisher unbekannten Wegen. Er entdeckt einen Menschen, der wie wenige andere für seine Zeit steht und doch seiner Zeit weit voraus war.

Im Florenz der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufgewachsen, beeinflusst Leonardo da Vinci der ungeheure geistige, philosophische, künstlerische und technische Aufschwung, den die Stadt erlebt. Obwohl mit den Mitgliedern der Platonischen Akademie verbandelt, schlägt Leonardo einen anderen, neuen Weg des Denkens und Forschens ein. Er will der Natur ihre Geheimnisse entlocken. Er überwindet den Neuplatonismus der Renaissance und wird, wenn man so will, zum ersten modernen Naturforscher Europas.

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KAPITEL 1:
VINCI UND FLORENZ (1452–1482) 1. Der Erbe in Reserve
Als Leonardo da Vinci am 2. Mai 1519, drei Wochen, nachdem er seinen 67. Geburtstag gefeiert und sein Testament aufgesetzt hatte, im Schloss Clos Lucé in Amboise starb, hatte die Legende vom großen Renaissancemagier längst ihren Siegeszug durch die Geschichte angetreten. Mochte Leonardos sterbliche Hülle zerfallen – sein Geist und sein Geheimnis, das ihn nach wie vor umweht, haben die Welt bis auf den heutigen Tag nicht mehr verlassen. Franz I., König von Frankreich, der Leonardo dieses Refugium der letzten Jahre aus wahrer Bewunderung für den göttlichen Künstler und zum Beweis seiner eigenen Ritterlichkeit zur Verfügung stellte, weilte an diesem Tag weit von dem sterbenden Universalgenie entfernt in Saint-Germain-en-Laye. »Il re è lontano« (der König ist weit weg), wie der gutinformierte Carlo Vecce schrieb.1 Dagegen behauptete ein früher Biograph, Giorgio Vasari, dass der alte Meister in den Armen des französischen Königs seinen letzten Seufzer tat.2 Diese Leonardo-Legende gewann im Laufe der Zeit derart an Bedeutung, dass sie schließlich im 19. Jahrhundert geradezu eine sakrale Höhe erklommen hatte. Doch dann erwies sie sich schließlich nicht als Tatsache, sondern als Topos. Aber die Entfernung von 200 Kilometern zwischen Amboise und Saint-Germain-en-Laye stand in keinem Verhältnis zu jener, die den toskanischen Meister von seiner Geburtsstadt Vinci trennte. Über 1 000 Kilometer lagen in der Stunde seines Todes zwischen seinem Alterssitz und seiner Heimat, zwischen Clos Lucé und Florenz, zwischen Amboise und Mailand. Ein außergewöhnliches Leben ging zuende. Man weiß nicht, wann diese Idée fixe von ihm Besitz ergriffen hat, aber Leonardo mühte sich, bei all seinem Tun stets die Nachwelt fest im Blick zu haben. Eine unstillbare Sehnsucht durchdrang ihn, in die Geschichte einzugehen. Nur das Gedächtnis der Nachwelt vermochte ihn zu retten: vor der Zeit, der »Verzehrerin der Dinge«, vor der »schnelle(n) Rafferin der geschaffenen Dinge«, die »viele Könige«, »viele Völker« »schon vernichtet« hat. Staaten haben, notierte Leonardo, sich gewandelt und »allerlei Zustände sind erfolgt«.3 Schon sehr früh schaute Leonardo mit der Melancholie, die man in der Renaissance als die Gefährdung, zugleich aber auch als die Bedingung für das Genie, genauer für das Ingenium, angesehen hatte, auf das Vergehen seines Lebens, das wie ein Fluss im Meer erstirbt. Bereits das Problem XXX,1 der Problemata, die dem Werk des Aristoteles zugerechnet wurden, behandelte die Frage, warum alle außergewöhnlichen Menschen Melancholiker seien, wie auch Cicero in den Disputationes Tusculanae behauptete. Der Florentiner Philosoph Marsilio Ficino, ein Zeitgenosse Leonardos, vertrat in seinem Buch De vita libri tres die aus der Antike stammende Auffassung, dass die Melancholie vom Übermaß an schwarzer Galle herrühre. Wenn sich die schwarze Galle im Menschen erhitze, dann rufe sie im Menschen kreative Kräfte herkulischen Ausmaßes hervor, erkalte sie jedoch, dann senkten sich auf die menschliche Seele Lust- und Antriebslosigkeit. Ficino galt nicht zuletzt als Autorität in diesen Fragen, weil er auch Medizin studiert hatte. Angetrieben von erhitzter schwarzer Galle erkannte Leonardo in der Zeit auch folgende Kraft: »Du gibst den geraubten Leben, indem du sie in dir verwandelst, neue und verschiedene Behausungen.«4 Ließe sich eine »neue Behausung« in der Zukunft finden, würde es ihm gelingen, mit der Zeit einen Pakt zu schließen? Ging es nicht um ständigen Wandel und Verwandlungen, wie Ovid es in seiner großen Dichtung Metamorphosen nicht müde wurde zu zeigen? Es kam dem Versuch gleich, stets die Welle zu reiten. Manche Geste gewinnt ihre volle Bedeutung erst vor diesem Hintergrund. Man versteht Leonardo nur, wenn man mitbedenkt, dass vieles von dem, was er unternahm, nicht allein für seine Zeitgenossen getan wurde, sondern zugleich auch für die Späteren, für uns und für die, die nach uns kommen. In der ersten Ausgabe der Vite von 1550 schrieb Vasari noch schwungvoll über Leonardo: »Dafür hat er in seinem Geist so ketzerische Gedanken entwickelt, die keiner Religion mehr nahekamen, weil er es weit höher schätzte, Philosoph statt Christ zu sein.«5 In der Ausgabe von 1568 hatte der vorsichtiger gewordene Vasari diesen Satz jedoch gestrichen, denn nach dem Konzil von Trient und der einsetzenden katholischen Reform erwiesen sich Sätze dieser Art als gefährlich – für die Bewertung Leonardos, aber auch für den Autor selbst. Zwar hatte Papst Paul III. mit der Bulle Licet ab initio am 4. Juli 1542 die Heilige Römische und Allgemeine Inquisition gegründet, deren Hauptaugenmerk auf der Häresie und auf der Abweichung vom katholischen Glauben lag, doch wusste man erst nach dem Konzil von Trient verbindlich, was katholisch war. Vasari, den Biographen Leonardos und Michelangelos, mahnte zur Vorsicht, dass bereits 1564 durch den Erlass Pictura in Capella Apostolica cooprinatur die Darstellung der Nacktheit in der Bildenden Kunst verboten und Daniele da Volterra damit beauftragt worden war, die anstößigen Stellen in Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle zu übermalen. Dem armen Daniele da Volterra brachte dieser unehrenhafte Auftrag den Beinamen Braghettone (Hosenmaler) ein. Bei aller Ambivalenz in seiner Einschätzung Leonardos stand es nicht in Vasaris Absicht, sich selbst oder das Ansehen Leonardos für die Nachwelt zu beschädigen. Dem Menschen des 21. Jahrhunderts, der sich dem Konzept der Nachwelt entfremdet hat und ganz in der Ars vivendi, reduziert auf eine Ars consumendi, aufgeht, mag es schwerfallen, diese Motivation angemessen zu würdigen. Leonardo aber lebte früh schon in zwei Welten: in seiner Gegenwart und in der Zukunft, die aus seiner Perspektive gesehen die Ewigkeit schlechthin bedeutete. Für ihn galt das Konzept der Nachwelt in sogar noch weitaus höherem Maße als für seine Zeitgenossen. Vielleicht war die Nachwelt sogar die Form, wie er sich das Paradies vorstellte, zumindest in der Zeit, bevor er in Amboise lebte. Georg Wilhelm Hegel kalauerte einmal, Friedrich Schiller zitierend, dass die Weltgeschichte das Weltgerichte6 sei. Vieles spricht dafür, dass sich Leonardo stärker vor der Weltgeschichte als vor dem Jüngsten Gericht fürchtete, zumal die Tiefe seines christlichen Glaubens in Zweifel stand, wofür Vasari einen prominenten, aber nicht den einzigen Beleg lieferte. Es mag als allzu moderner Gedanke erscheinen, aber der Meister des Abendmahls und der Mona Lisa erblickte in der Erinnerung der Menschen das ewige Leben im Paradies, im Vergessen-Werden hingegen die Hölle. Nur zu gut wusste er, dass darüber, ob seine Erdentaten bleiben oder in den nachfolgenden Zeiten verwehen, einzig und allein die Nachwelt entschied. Doch wie konnte man sie beeinflussen, ihr beikommen? Wie ließe sie sich zwingen, seine Taten für immer im Gedächtnis zu bewahren? Wer sich dem Leben Leonardos nähern will, muss stets im Blick haben, dass gelebtes Leben und versuchte Legendenbildung die zwei Seiten seiner Existenz ausmachen, mehr noch, dass Biographie und Legende nicht strikt getrennt voneinander sind, sondern ineinander übergehen. Und selbst wenn seine Biographen in dem einen oder anderen Falle einer von Leonardos Lebensdichtungen, einer seiner Mystifikationen aufsaßen, so schadet das nicht, weil sie einen so innigen Teil seines Lebens bilden. Leonardo jedenfalls befeuerte bewusst und kalkuliert die Legendenbildung um seine Person. Nicht weniger wichtig ist es auch, zu beachten: Es existiert ein Davor und ein Danach. Zwischen Leonardos Zeit und heutiger Gegenwart tut sich ein Abgrund auf, der gewaltige Umbruch vom späten Mittelalter zur Neuzeit. Man könnte die Zäsur symbolisch mit den Jahren 1517 und 1563, mit der Reformation und der katholischen Reform, mit den Orten Wittenberg und Trient in Zusammenhang bringen, denn seither wurden die Moral- und Sittennormen zu einer bindenden, auch durchgesetzten Norm für das Leben der Menschen, zu einer Norm, die kontrolliert wurde und an die man sich zumindest öffentlich zu halten hatte. Das Maß an Sozialkontrolle erhöhte sich in der Neuzeit spürbar. In Rom nahm die Inquisition die Arbeit auf und stellte nach dem Trienter Konzil den Index der verbotenen Bücher zusammen, während die Calvinisten die regelmäßige Inspektion der Haushalte durch die calvinistischen Ortspfarrer verfügten. Moral und Orthodoxie wurden zur gefährlichen Angelegenheit und die Herrschaft des modernen Rechts bedurfte zu ihrer Durchsetzung der Folter. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass Christopher Kolumbus am 12. Oktober 1492 Amerika erreichte und die vierte Globalisierung damit ihren Anfang nahm. Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts aber wurde sexuelle Freizügigkeit öffentlich ausgelebt, und das beileibe nicht nur von den berühmt-berüchtigten Renaissancepäpsten. So hatte, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, der Mainzer Domherr und Stadtkämmerer Graf Johann von Eberstein7 die Wände seiner Wohnung mit den frivolsten Szenen des Wiesbadener Badelebens freskieren lassen, ein Reihung pornographischer Wandbilder in leuchtenden und kräftigen Farben. Stolz präsentierte der Domherr die allerfreizügigsten Darstellungen von Festen, Bacchanalien und Orgien allen Besuchern, so auch Heinrich von Langenstein, der eine Professur an der Universität von Paris innehatte und der darüber unter der Überschrift De voluptate carnali (Über...


Mai, Klaus-Rüdiger
Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil., Jahrgang 1963, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er verfasst historische Romane, Sachbücher und Biographien. Nach Martin Luther, Albrecht Dürer, Johannes Gutenberg und der Musikerdynastie der Bachs wendet sich der inzwischen weithin bekannte Kenner der europäischen Geschichte nun Leonardo da Vinci zu.



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