E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Maizière Regieren
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-451-81487-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Innenansichten der Politik
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-451-81487-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Thomas de Maizière erzählt verständlich und präzise, wie Politik funktioniert." (Süddeutsche Zeitung, Detlef Esslinger, 11. Februar 2019)
Jeder weiß, wie die Arbeit eines Lehrers oder eines Arztes aussieht – was genau aber macht ein Politiker, zumal ein Minister? Thomas de Maizière, der 28 Jahre lang Regierungsverantwortung in unterschiedlichsten Positionen übernommen hat, bietet dem Leser Innenansichten der Macht und erklärt anhand zahlreicher Beispiele aus seiner Amtszeit, wie wir regiert werden. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag in einer Zeit zunehmender Entfremdung zwischen Teilen der Gesellschaft und ihren gewählten Repräsentanten.
Thomas de Maizière liefert einen Werkstattbericht. Er folgt den Fragen, wie ein politisches Ergebnis durch gutes Regieren entsteht, welche Abläufe es dafür braucht, was ist der Normalfall und wie wird in Krisen gehandelt und entschieden? Ein Insiderblick auf Grundlage der Erfahrung aus fast drei Jahrzehnten Regierungsarbeit. Thomas de Maizière war Bundesminister in zwei Großen Koalitionen mit der SPD sowie in einer Koalition der Union mit der FDP, und das in drei Ministerien. In zwei Bundesländern – in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen – arbeitete er als Staatssekretär und Minister in insgesamt sechs Ressorts, sowohl in Regierungen mit absoluter Mehrheit als auch in Koalitionen mit FDP und SPD. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt aber bei der Arbeit in der Bundesregierung.
Der Vollblutpolitiker verfolgt den Ansatz, die eigenen Erfahrungen zu verallgemeinern und an konkreten Beispielen zu beschreiben, wie Deutschland regiert wird. Er möchte politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger erreichen und informieren, indem er den Vorhang öffnet und den Blick hinter die Kulissen des Regierens zulässt. Trotz aller Objektivität möchte er dabei für die Arbeit des Regierens in Deutschland werben. Denn er weiß, "dass viel Abfälliges über die Regierungen im Speziellen und den Politikbetrieb im Allgemeinen zu hören ist, sei es aus Unkenntnis, aus Hochmut, aus Abneigung gegen Machtausübung schlechthin oder aus Unzufriedenheit über die Ergebnisse". Dort wo es aus seiner Sicht strukturelle oder tiefgreifende Mängel im praktischen Regieren gibt, bewertet er sie und macht Vorschläge, wie sie behoben werden könnten.
Am Ende hat auch der ehemalige Minister kein Patentrezept für "gutes Regieren". Und doch formuliert er Regeln, Prinzipien und Maßstäbe, die ihm wichtig sind und die auch für andere Personen mit Führungsverantwortung gelten, die für das Zusammenwirken und die Arbeitsmethoden in großen Institutionen aller Art wichtig sind, um zu guten Ergebnissen zu kommen.
"Als Minister gilt es, über die ,Blase Politik' hinaus zu wirken. Man muss die Mechanismen im ,Berliner S-Bahn-Ring', also im Berliner Politikbetrieb, kennen. Gleichzeitig ist es wichtig, seine Termine so zu machen, dass man die soziale Wirklichkeit unterschiedlicher Gruppen und der verschiedenen Regionen in Deutschland so gut wie möglich kennenlernt. Dazu gehören Interesse, Neugier, Offenheit und Zuneigung zu den Menschen. Wer die Menschen nicht achtet und schätzt, sollte lieber nicht Minister werden." (Thomas de Maizière)
"Tolles Buch! […] Ein Stück Zeitgeschichte"
(ZDF "Markus Lanz", Markus Lanz, 13. Februar 2019)
"Eine strukturierte Übersicht über das Regieren an sich, gespeist aus Jahrzehnten persönlicher Erfahrung."
(t-online, Jonas Schaible, 14. Februar 2019)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2.
Der Alltag der Macht
Klärung vorab: Wie im Kabinett entschieden wird
Als ich ein junger Chef des Bundeskanzleramtes kurz nach Amtsantritt im Winter 2005/2006 war, rief mich ein wütender Finanzminister Peer Steinbrück an und beklagte sich, dass ich es gewagt hätte, eine Kabinettvorlage von ihm nicht auf die Tagesordnung des Bundeskabinetts zu setzen. Er sei Finanzminister und könne verlangen, dass seine Vorschläge im Kabinett beraten würden. Ich entgegnete ihm, dass die Vorlage umstritten sei. Andere Ressorts seien dagegen. Er müsse dafür sorgen, dass diese zustimmten. Erst dann komme seine Vorlage auf die Tagesordnung des Bundeskabinetts. Dafür bekomme er meine Hilfe, indem auch ich mit den Kollegen redete, die anderer Meinung seien als er. Im Übrigen sei es gerade im Interesse des Finanzministers, dass unabgestimmte und umstrittene Vorlagen nicht auf die Tagesordnung des Bundeskabinetts gesetzt werden. Peer Steinbrück entgegnete, dass er sich bei der Bundeskanzlerin beschweren werde. Das tat er allerdings nicht. Der Punkt kam erst auf die Tagesordnung, nachdem alle Bedenken ausgeräumt waren. Meiner besten Zusammenarbeit mit Peer Steinbrück hat das nicht geschadet. Vielleicht im Gegenteil. Vorstandssitzungen großer deutscher Unternehmen dauern oft Stunden. Das gilt auch für manche Sitzungen von Kabinetten in den Bundesländern. Die Kabinettssitzungen der Bundesregierung dauern dagegen in der Regel im Durchschnitt nur 45 Minuten. Das hat seine guten Gründe: Es gibt hier eine sogenannte Top-1-Liste. Hier sind viele Tagesordnungspunkte zusammengefasst, die keiner weiteren Erörterung bedürfen. Das betrifft Personalentscheidungen, Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen des Bundesrates, irgendwelche Berichte, Verordnungen der Bundesregierung, die nicht zu wichtig sind, bis hin zu der Gestaltung von Sonderbriefmarken oder Münzen. Die Bundeskanzlerin begrüßt die Kabinettsmitglieder zu Beginn der Sitzung, ruft den Tagesordnungspunkt 1 auf und sagt: »So beschlossen.« In Sekunden sind somit viele, manchmal Dutzende Tagesordnungspunkte beschlossen. Das trennt das Wichtige vom Unwichtigen und spart Zeit. Danach werden die sogenannten ordentlichen Tagesordnungspunkte der Reihe nach aufgerufen. Oft sind das Gesetzentwürfe, politische Eckpunkte für wichtige Vorhaben, die deshalb vorab beschlossen werden, damit ein Ministerium nicht lange an einem komplizierten Gesetzentwurf arbeitet, um hinterher festzustellen, dass es für die wichtigen Inhalte keine Zustimmung der anderen Ministerien gibt. Auch zentrale Berichte wie der Jahreswirtschaftsbericht, der Migrations-, der Bildungsbericht oder der Bericht über die Lage der Rentenversicherung werden im Kabinett erörtert. Hierzu trägt der zuständige Minister vor. Es gibt einige Nachfragen von Kollegen. Und dann wird beschlossen. Alles das dauert nur Minuten. Nur die Haushaltsberatungen in den Kabinettssitzungen dauern etwas länger. Hier nimmt auch der Präsident der Bundesbank an den Beratungen teil und kommentiert die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung. Systematisch ist das nicht, was auf die Tagesordnung kommt, sondern eher der Tradition geschuldet. So ist zum Beispiel der Bericht über die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht Gegenstand der Tagesordnung des Bundeskabinetts, obwohl das Thema Millionen Bundesbürger sehr interessiert. Er wird vom Bundesinnenminister mit den Länderinnenministern erstellt und ohne Abstimmung innerhalb der Bundesregierung der Presse vorgestellt. Dagegen ist der Bericht über den Zustand der Wälder stets im Kabinett. Einige Minister legen großen Wert darauf, möglichst viele Kabinettvorlagen wie solche Berichte im Kabinett beschließen zu lassen. Sie tun dies in der Hoffnung, dass darüber deswegen mehr berichtet wird, weil ihr Thema auf der Tagesordnung des Kabinetts stand. Bei mir war es genau umgekehrt. Jede Kabinettvorlage muss abgestimmt werden und unterliegt so der Einwirkung der Kabinettskollegen, insbesondere der Koalition. Ein Bericht oder eine Initiative ohne Kabinettsbeteiligung läuft zwar das Risiko, nicht von allen geteilt zu werden, trägt aber die alleinige Handschrift des Ministers. Das war mir wichtiger. Bei den Top-1-Punkten und bei allen ordentlichen Tagesordnungspunkten gilt, dass sie so vorbereitet sein müssen, dass es keine streitige Diskussion und keine Veränderungen an den Vorlagen und Beschlussvorschlägen in der Sitzung selbst gibt. Allenfalls gibt es einmal eine kritische Protokollerklärung, die von einem Mitglied der Bundesregierung oder einem Koalitionspartner abgegeben wird. In der Geschäftsordnung der Bundesregierung ist vorgesehen, dass der Finanz-, der Innen- und der Justizminister ein Vetorecht haben. Sie können Kabinettsbeschlüssen widersprechen und eine zweite Abstimmung verlangen, wenn es um das Geldausgeben bzw. um die Vereinbarkeit mit geltendem Recht geht. Dazu ist es in zwölf Jahren meiner Zugehörigkeit zum Bundeskabinett nie gekommen. Trotzdem ist dieses Recht nicht sinnlos, denn es wirkt im Vorfeld. Juristen nennen das eine faktische Vorwirkung. Dazu später mehr. Diese ungewöhnliche Vorgehensweise bei Kabinettssitzungen beruht auf einer jahrzehntelangen Praxis und ist gut begründet. Denn die Kabinettssitzungen werden sorgfältig vorbereitet: Die Vorlagen müssen Tage vorher verschickt werden, damit alle anderen Ressorts sie kennen oder wenigstens kennen können. Leider sind hier in der letzten Zeit zu viele Ausnahmen gemacht worden. Manche Minister erzeugen Zeitdruck durch absichtlich spätes Anmelden, obwohl in der Regel im Vorfeld Zeit genug war, die Dinge abzustimmen. Das darf nicht prämiert werden. Vorlagen dürfen nur dann verschickt werden, wenn sie unstreitig geworden sind, also alle beteiligten Ministerien ihnen zustimmen. Das bedeutet, alle inhaltlichen Debatten finden im Vorfeld der Kabinettssitzung statt. Zwischen den Ressorts und, wenn nötig, unter vermittelnder Beteiligung des Bundeskanzleramts. Manchmal versucht ein Bundesminister, einen komplizierten Einigungsprozess dadurch zu umgehen, dass er öffentlich ankündigt, seine Vorlage werde an einem bestimmten Datum im Kabinett beraten. Er hofft, dass seine Kollegen dann Bedenken zurückstellen, um den Termin nicht zu gefährden und die Bundesregierung nicht öffentlich zu blamieren. Diesem Druck darf der Chef des Bundeskanzleramtes nicht nachgeben. Manchmal ist die Nichtaufsetzung eines Tagesordnungspunktes sogar eine gute pädagogische Maßnahme, um voreilige Ankündigungen von streitigen Vorhaben für die Zukunft zu unterbinden. Das gilt insbesondere für finanzwirksame Vorlagen, also solche, durch welche die Ausgaben des Staates erhöht oder die Einnahmen verringert werden. Und insofern hilft dieses strenge Regiment am meisten dem Finanzminister. Die Tagesordnung wird vom Chef des Bundeskanzleramtes aufgestellt, nicht von der Bundeskanzlerin. Das ist ein zentrales und wirksames Recht des Chefs des Bundeskanzleramts. Der Bundeskanzlerin bleibt so Ärger erspart, weil sie einem Minister nicht abschlagen muss, einen von ihm für wichtig gehaltenen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen. Montagnachmittags findet eine Runde der beamteten Staatssekretäre unter dem Vorsitz des Chefs des Bundeskanzleramts statt. Dort werden alle Vorlagen beraten, nötigenfalls auch streitig, und dann durch Kompromisse an Ort und Stelle oder bis zur Kabinettssitzung am Mittwochvormittag »kabinettsreif« gemacht. In Ausnahmefällen gibt es dann noch Austauschblätter zwischen der Staatssekretärsrunde und dem Kabinett, die die ursprüngliche Kabinettvorlage eines Ministers an einigen Stellen verändern. Diese Staatssekretärsrunden sind für die Vorbereitung des Kabinetts von großer Bedeutung. Sie sind auch ein zentrales Führungsinstrument des Chefs des Bundeskanzleramts. Nichts dringt von diesen Sitzungen nach außen. Kompromisse sind für die einzelnen Ressorts ohne Gesichtsverlust möglich. Diese gesamte Verfahrensweise hat eine disziplinierende Wirkung. Sie ersetzt natürlich nicht die politische Debatte. Natürlich wird um den Inhalt von Gesetzentwürfen und Kabinettvorlagen gerungen, auch öffentlich. Das ist richtig und wichtig, auch wenn so der Eindruck entstehen mag, die Regierung sei zerstritten. Daran sind dann neben den Regierungsmitgliedern oft Mitglieder der jeweiligen Koalitionsfraktionen beteiligt. Ein solcher Streit klärt Positionen und kann das Profil eines Regierungsmitglieds oder eines Koalitionspartners schärfen. Natürlich muss er insbesondere von Regierungsmitgliedern sachlich und stilvoll ausgetragen werden. Wenn das nicht der Fall ist, nehmen das die Wähler zu Recht übel. Aber die Kompromissfindung im Vorfeld macht nicht nur die Kabinettssitzungen selber kurz, sondern verbessert auch die Ergebnisse in der Sache, weil nicht ad hoc in der Sitzung ein nicht ausgereifter Vorschlag aufgenommen wird oder gar ein Punkt abgesetzt werden muss, weil es keine Einigkeit gegeben hat, was dann für alle peinlich ist. Und die Atmosphäre im Kabinett wird entspannter und kollegialer. An den Kabinettssitzungen nehmen die Ministerinnen und Minister ohne Begleitung teil, dazu die Staatsminister im Kanzleramt, der Regierungssprecher, der Chef des Bundespräsidialamts und alle Abteilungsleiter des Bundeskanzleramts sowie die Büroleiterin der Bundeskanzlerin und die Protokollanten. Schon diese breite Teilnahme von Mitarbeitern zeigt den Einfluss des Bundeskanzleramts auf die Gestaltung der Kabinettssitzung. Die Protokolle des Kabinetts sind nicht nur Ergebnis-, sondern auch Verlaufsprotokolle. Das bedeutet, es werden auch die Wortmeldungen der Minister dem Sinn nach wiedergegeben. Sie werden allerdings erst viele Wochen nach der Sitzung an die...