Makushinsky Dampfschiff nach Argentinien
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25418-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-446-25418-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1. KAPITEL
O welcome, Messenger! O welcome, Friend! A captive greets Thee, coming from a house Of bondage, from yon City walls set free, A prison where he hath been long immured. Was auch sein Auftrag – keinem kann die Brise Willkommner sein als mir, der ich entfloh Der weiten Stadt, wo lang ich mich gequält Als unbehaglicher Logiergast. William Wordsworth Als die Sowjetmacht zu unserer unaussprechlichen Verwunderung zu wanken begann und ganz plötzlich Löcher im durchgerosteten Eisernen Vorhang erschienen, begab ich mich auf meine erste Auslandsreise, im Herbst des Jahres 1988, zuerst im Zug nach Paris, wo ich einen Monat verbrachte, von dort per Anhalter nach Freiburg, dann nach Konstanz, nach München und zurück nach Konstanz, von Konstanz aus wieder per Anhalter nach Düsseldorf, von Düsseldorf aus schließlich nach Köln, wo ich wieder den Zug bestieg, der mich nach Moskau zurückbrachte. An diesen zweiten Zug erinnere ich mich nur unklar, dafür hat sich mir der erste Zug, der Zug in unbekannte Länder, in die freie Welt, wahrscheinlich für mein ganzes Leben eingeprägt – obwohl, wer könnte sich dafür verbürgen, mit der Zeit nicht die schönsten und lebhaftesten Erinnerungen zu verlieren? Einmal aufgeschrieben, wachsen dennoch ihre Chancen, nicht unter den Halden des Vergessens zu verschwinden, das wie Sand jedes Leben verweht, auch das meinige. Die Wüste wächst, schrieb Nietzsche … Von den drei Menschen, die mich am Weißrussischen Bahnhof in Moskau verabschiedeten, sind zwei nicht mehr am Leben. Wir standen alle vier auf dem, oder habe ich es nur so in Erinnerung, in goldenes Herbstlicht getauchten, wenn auch mit Spuckflecken, Papierschnipseln und Zigarettenstummeln übersäten Bahnsteig, dabei kehrte ich, der ich abreiste, obwohl noch nicht für immer, aber doch so, als wiese diese zunächst vorläufige und in gewissem Sinn zufällige Reise bereits auf eine andere, endgültige, unwiederbringliche Trennung hin, allen Übrigen das Gesicht zu, schon von ihnen getrennt durch eine unsichtbare, aber deutliche Linie – was vom ironischsten und wohl klarsichtigsten Teilnehmer an der Prozedur sogleich bemerkt wurde – und bestieg dann den Zug, mit jener sorglosen Leichtigkeit, der wir uns in der Jugend so gerne überlassen und damit unsere Bereitschaft für Abenteuer und Wagnisse bekunden, gelockt von der Zukunft, Vergangenes abwerfend, leicht Abschied nehmend und aufbrechend in die blaue Ferne. Das Leben verwandelt sich, schlicht gesagt, nur langsam und allmählich aus Verheißung in Bedauern. Es gab in diesem Zug natürlich einen Schaffner, damals noch jenen sowjetischen Schaffner im internationalen Waggon, jenen professionell unscheinbar grauen Zugbegleiter, den als Sicherheitsagenten zu sehen, uns die Erfahrung unseres ganzen Sklavenlebens gelehrt hatte. Deshalb galt es, mit einem möglichst großzügigen Obolus für den Tee sein Wohlwollen zu gewinnen – er geizte ja tatsächlich nicht damit, auf Wunsch alle während der gesamten Reise mit Tee, diesem klassischen Eisenbahngetränk, zu versorgen, im Teeglas zusammen mit zwei flachen Zuckerstückchen, die in Papier mit der Ansicht der Kremltürme eingewickelt waren – unveränderliches Attribut des russischen Reisens, eines der behaglichsten Dinge der Welt; unter dem Vorwand nun, jenen noch nicht gebrühten, nicht getrunkenen Tee zu bezahlen, musste man ihm zehn Rubel geben, manchmal ganze fünfundzwanzig (einen Viertelhunni zustecken, wie es in der Sprache der Epoche hieß), wobei selbige Form der Schicksalsbestechung auf der Rückfahrt mehr Sinn hatte, sofern sie überhaupt sinnvoll war, wenn der Koffer des gebildeten Reisenden etwa kostbare Ausgaben von IMKA-Press und Ardis enthielt, den dreibändigen Mandelstam, die Wechi (Wegzeichen), Berdjajew, Samjatin; der von dir bestochene Schaffner bedeutete dann, so glaubte man, den Grenz- und Zollbeamten in Brest, nicht dein Abteil, sondern zum Beispiel das der Nachbarn zu filzen. 1988 interessierten sich die Grenz- und Zollbeamten übrigens nur für materielle Güter, Kassettenrekorder und Synthesizer, die Bücher schauten sie kaum noch an (überflügelten folglich die Epoche, indem sie die Perestroika übersprangen und die neunziger Jahre vorwegnahmen). Doch auch auf der Hinfahrt wollte ich das Filzen vermeiden – wovor mich der dem Schaffner zugesteckte Viertelhunni in der Tat bewahrte, so dass ich, nachdem ich in Brest den endlosen Räderwechsel abgewartet hatte – der von den russischen Gleisen gehievte Waggon hing meiner Erinnerung nach eine Ewigkeit in der Luft, im Niemandsland und abstrakten Raum, bevor er auf den europäischen aufsetzte –, in Ruhe durch das langweilige, flache Polen reisen konnte, vielmehr hätte reisen können, den ganzen langen Tag, der leider doch nicht ohne einen kleinen Zwischenfall ablief und andere Aufregungen mit sich brachte. Ich weiß nicht, ob diese Waggons und diese Abteile heute noch existieren; in der damaligen, jetzt schon historischen Epoche waren die internationalen Waggons, die der einfache Sowjetbürger kaum kannte, niedriger als die normalen, sie bestanden aus schmalen Abteilen mit zwei Liegen – eine über der anderen – und einem Sitz an der Wand gegenüber; neben dem Sitz führte eine Tür in den nach billiger Seife riechenden Waschraum, den sich die Bewohner des einen Abteils mit den Bewohnern des jeweils hinter dem Waschraum liegenden teilten. Wie sollte man da nicht an Bunins Erzählung denken, in der die Heldin, die irgendwann im Zauberjahr 1911 mit ihrem Geliebten ins Ausland reiste, durch solch einen Waschraum aus einem Abteil ins andere wechselte (in der alten Sowjetunion hatte sich, wie seltsam oder traurig es auch klingen mag, manch kostbarer Nachhall der Vergangenheit erhalten – der dann sofort endgültig verklang, als die Sowjetunion zusammenbrach). Die Heldin wurde, wie wir uns erinnern, später von einem anderen Liebhaber, einem österreichischen Schriftsteller, in Wien erschossen … Es gab Abteile erster und zweiter Klasse, wobei die erste zur zweiten wurde, wenn sich zwei Fahrgästen ein dritter zugesellte, der auf der Klappliege schlief, die tagsüber zwischen der oberen und der unteren Liege an der Wand befestigt war und nachts heruntergeklappt an verdächtig ausgefransten, speckigen Riemen aus festem Stoff hing; drei Fahrgäste schliefen dann folglich übereinander, wie wahrscheinlich unter Deck eines Dampfschiffs (zum Beispiel unterwegs nach Argentinien …) die ärmsten, rechtlosesten Passagiere schlafen. Der Preisunterschied zwischen erster und zweiter Klasse war übrigens geringfügig. Es kam jedoch zu unklaren Platzwechseln und Umbelegungen; jemand zog aus irgendeinem Grund von Abteil zu Abteil, aus einem Wagen in den anderen; irgendetwas führten die Schaffner, zum eigenen Vorteil, wie es ihnen generell eigen ist, im Schilde. Zu Anfang reiste ich mit jemandem, an den ich mich nicht mehr erinnere, dann war ich allein, dann, schon in Polen, tauchte im Abteil ein älterer, bärtiger, großgewachsener und wichtigtuerischer, verschwitzter und unverschämter georgischer Maler auf, den ich zuvor schon dabei beobachtet hatte, wie er seine riesigen, in graugelbes Papier verpackten und mit schmutziger Kordel verschnürten Bilder, Koffer, Reisetaschen und Schachteln aus einem Wagen in den anderen schleppte, mit Hilfe eines anderen ebenfalls bärtigen Mannes, dem Aussehen nach ebenfalls Künstler, jedoch von kleinerem Wuchs und niedrigerem Rang. Sein Bart war schütterer und er war in Begleitung einer hübschen französischen Ehefrau mit einem unruhigen Säugling auf dem Arm. Was, Sie reisen mit uns?, fragte der Maler und starrte mich mit einer Miene an, als sei er in höchstem, allerhöchstem, er könne gar nicht sagen, wie hohem Maße erstaunt über die Anwesenheit eines Brillenträgers mit einem französischen Buch in der Hand. Eher Sie mit mir, sagte ich, von Chateaubriand aufblickend. Es roch brenzlig. Der Maler schleuste seine gesamte Suite mit allen Koffern, Kartons, Schachteln und Bildern ins Abteil – sie reisten offenbar für immer aus – und forderte, die dritte Liege herunterzuklappen, um alles darauf verstauen zu können; ich bemerkte, wir seien nicht im Viehwagen und überhaupt hätte ich für die erste Klasse bezahlt. Es roch immer stärker nach einem Eklat. Im Bürgerkrieg ist man auch nicht so gereist, stell dich also nicht an, antwortete der Maler. Ziemlich unbedacht entgegnete ich, dass der Bürgerkrieg meines Wissens vorbei sei und wir uns nicht duzten. Die Französin mischte sich ein. Der Lack der Zivilisation (de la civilisation) blättert erstaunlich leicht von den Vertretern und Vertreterinnen der aufgeklärtesten Nation ab, wenn ihnen etwas nicht passt. Der dem diensteifrig unscheinbar grauen Schaffner zugesteckte Viertelhunni zeitigte seine Wirkung; nachdem ich mit seiner Hilfe in ein anderes Abteil umgezogen war, wo sich wundersamerweise ein freier Platz fand, verbrachte ich den Rest des Tages im Gespräch mit einer sogar recht hübschen jungen Frau mit Löckchen und Sommersprossen, deren Finger allerdings vom starken Rauchen abstoßend gelb verfärbt waren (ihre Finger waren an die dreißig Jahre älter als sie); sie arbeitete, wie sich herausstellte, als Cutterin im Filmstudio »Mosfilm«, wo ich selbst einmal ein halbes Jahr als Regieassistent (»Knarre«) gearbeitet hatte – eine der verrücktesten und wohl sinnlosesten Episoden meiner Jugend, verrückt und sinnlos wie jede andere –, so dass wir in der Tat jede Menge Stoff zum Reden (Klatschen) hatten, im Abteil sitzend, während draußen vor dem Fenster das...