Maljartschuk Biografie eines zufälligen Wunders
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7017-4360-5
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4360-5
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mutig und aberwitzig: ein Buch, das man nicht vergisst!
Die Welt, in der Lena heranwächst, ist geprägt von Willkür und Gewalt, doch das Mädchen setzt sich zur Wehr - mit Witz, Eigensinn und einer gehörigen Portion Mut. Und sie versucht zu helfen: der Erzieherin im Kindergarten, den herrenlosen Hunden, die an chinesische Restaurants verkauft werden sollen, der Diskuswerferin Wassylyna und ihrer Freundin Hund, der beide Beine abgefroren sind. Auf ihrer Suche nach dem "zufälligen Wunder" - einer fliegenden Frau, die immer dort auftauchen soll, wo Hilfe am nötigsten ist - gelingt es Lena, sich trotz aller Widrigkeiten zu behaupten.
Tanja Maljartschuk ist ein Werk von grausamer Komik gelungen, ein Buch, das man nicht vergisst.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Wie sie sich und andere nannte Lena wurde in San Francisco geboren und nannte sich Lena. San Francisco ist eine ukrainische Kleinstadt, mehr im Westen als im Osten des Landes. Ihren Namen erhielt sie zum Andenken an diejenigen, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach ihrem Traum in die USA ausgewandert waren. Die Daheimgebliebenen sagten: »Unser Amerika ist hier«, und tauften ihre Stadt »San Francisco«. Selbstverständlich hieß sie nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Kommunisten anders, doch Lena nannte ihre Heimatstadt auch weiterhin bei ihrem amerikanischen Namen und behauptete sogar, das San Francisco in den USA sei weit weniger real als sein ukrainisches Gegenstück. Sich selbst bezeichnete sie ausschließlich als Lena, niemals anders. Sie hätte auch eine »Olena« oder »Olenka« sein können, aber sie verabscheute diese beiden Varianten ihres Namens noch viel mehr als das russische »Lena«, obwohl sie – wie die meisten Westukrainer – alles Russische wie die Pest hasste. Vermutlich aus Rache hat sich das Russische an ihren Namen gehängt und sie nie wieder losgelassen. So ist das mit den Dingen, die man hasst. Sie bleiben an einem kleben. Als Lena klein war, wurde sie gezwungen, ein Gedicht aus der Lesefibel auswendig zu lernen. Es handelte von der »kleinen Olenka«, die erste Strophe lautete: »Kleine Olenka, warum freust du dich so?« Und die Olenka aus dem Buch antwortete: »Meine Familie macht mich so froh!« Lenas Verwandte fanden das Ganze sehr spaßig und ließen sie das Gedicht bei Familientreffen immer wieder aufsagen. Lena lief dabei jedes Mal knallrot an und versuchte sich zu drücken, doch die Verwandten ließen nicht locker. Schließlich stellte sie sich zähneknirschend vor sie hin und deklamierte mit lauter Stimme: »Kleine Olenka, warum freust du dich so? Meiner Familie zeig ich den Po.« Danach bekam sie Ärger, musste in der Ecke stehen oder man redete ein, zwei Tage nicht mit ihr. Lena assoziierte den Namen Olenka mit Dummheit, und dumm zu sein war das Einzige, was sie ihr Leben lang vermeiden wollte, allerdings vergeblich. Als Kind hatte Lena ständig Angst, etwas zu verpassen, etwas Wichtiges nicht zu erfahren, und deshalb dumm zu sein. Später wurde ihr klar, dass niemand davor gefeit ist und dass Klugheit nicht davon abhängt, wie viele Bücher ein Mensch in seinem Leben gelesen hat. Klugheit, sagte Lena, erfordert Mut sich einzugestehen, was und wie man denkt. Zunächst muss man eine eigene Meinung haben, und mit der Zeit kommt dann vielleicht auch die Klugheit. Die eigene Meinung bildet jedenfalls die Grundvoraussetzung. Und man muss anderen zuhören und sich entscheiden: ihnen zuzustimmen oder doch lieber bei seiner eigenen Meinung zu bleiben. Man sollte sich selbst gegenüber ehrlich und gleichzeitig in der Lage sein, neue Sichtweisen zu übernehmen. Lenas Abneigung gegenüber allem Russischen konnte ihr nicht als Schuld ausgelegt werden. Zum einen wurde sie dort geboren, wo Russland aus dem Blickwinkel der historischen Gerechtigkeit gehasst werden musste. Zum anderen kam Lena genau zu jenem Zeitpunkt in den Kindergarten, als die Tanten dabei waren, das Lenin-Bild im Festsaal von der Wand zu reißen. Ganz offensichtlich hassten sie ihn von ganzem Herzen. Im Kindergarten hatte Lena oft gehört, dass die Ukraine sich von Lenin, von den Kommunisten und von vielen anderen Russen früher habe viel gefallen lassen müssen. Deshalb gebe es nicht den geringsten Grund, Russland zu mögen. Vor den Kommunisten war da noch das Russische Reich, welches die Ukraine als »Kleinrussland« bezeichnete und die ukrainische Sprache verbot. Lena erfuhr von Gefängnissen, in denen Ukrainer gesessen und gestorben sind, sie erfuhr von Sibirien, wohin ihre Landsleute in den sicheren Tod inmitten von Schnee, Tundra und Polarbären geschickt wurden. Lena lernte Lieder über junge ukrainische Männer, die in den Krieg zogen, um ihre Heimat zu verteidigen, wobei sie meistens ihre schwangere Verlobte daheim zurückließen. Diese Verlobte tat Lena immer sehr leid. Lena kannte die Lebensgeschichte des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko in- und auswendig und weinte immer an der Stelle, wo der kleine Taras lernen will und der betrunkene Schulmeister ihn schlägt und ihn barfüßig zum Wasserholen an den Fluss schickt, obwohl es Winter ist. Es ist ungewiss, ob Lena gesagt wurde, der betrunkene Schulmeister sei ein Russe gewesen. Vielleicht war er auch Pole. Polen mochte Lena auch nicht leiden, aber das ist eine andere Geschichte. Im Kindergarten erlitt Lena ein seelisches Trauma im Zusammenhang mit der russischen Sprache. Kindergartentanten hatte sie viele, allesamt Frauen mittleren Alters mit kurzen Ringellöckchen und einer unbändigen Liebe zum Vaterland. Eine Tante stellte allerdings das genaue Gegenteil der Superpatriotinnen dar. Sie war älter. Ihre langen grauen Haare hatte sie immer zu einem riesigen Dutt gebunden. Der Dutt war größer als ihr ganzer Kopf. Und diese Tante war nicht voller Liebe zum Vaterland. Das Vaterland war zwar nie Gesprächsthema zwischen Lena und der Tante, aber es war offensichtlich, dass die Erzieherin es nicht liebte. Sie verlor nie auch nur ein Wort darüber. Mit den Kindern sprach sie Russisch, was angesichts des übersteigerten Patriotismus in Lenas Kindergarten sehr ungewöhnlich war. Anstelle des Bildes von Lenin wurde im Festsaal nun eines von Taras Schewtschenko aufgehängt. Er war darauf ebenfalls in voller Körpergröße zu sehen und seinem Vorgänger nicht ganz unähnlich. Alle blickten das Bild voller Angst und Respekt an, als wäre es eine Ikone. Außer dieser einen Erzieherin. Vielleicht wusste sie nicht, wer Taras Schewtschenko war, oder vielleicht hielt sie ihn für unwürdig, die Nachfolge seines Vorgängers anzutreten. Die Erzieherin hatte ihr ganzes Leben in San Francisco verbracht, war aber nicht in der Lage, wie ein normaler Mensch zu sprechen. Entweder wollte sie nicht oder konnte sie nicht. Ihr Russisch war grotesk, mit starkem ukrainischen Akzent und vielen ukrainischen Wörtern durchsetzt, die sie jedoch falsch verwendete. Vermutlich führte die Erzieherin kein leichtes Leben, denn wer so spricht, kann unter Fremden nicht glücklich werden. Lena nannte sie »Frau Dutt«. Frau Dutt mochte Kinder, und ganz besonders mochte sie Lena. Sie brachte ihr das Singen bei und behauptete, Lena würde irgendwann bestimmt »ganz groß rauskommen«. Es war allerdings nicht klar, wo genau sie rauskommen würde, also zum Beispiel aus welcher Körperöffnung, aber damals war Lena wahnsinnig stolz auf sich und sang dermaßen laut, dass die Fensterscheiben nur so klirrten. Frau Dutt sagte außerdem voraus, Lena würde eine hübsche junge Frau werden, einen gut aussehenden Mann heiraten und schöne Kinder bekommen. Das war offensichtlich gelogen. Lena war nämlich pummelig und hatte fransige, mit stumpfer Schere schief geschnittene Haare. Die Kindergartentante riet, sie solle sich um ihren Körper und ihre Haare keine Sorgen machen, denn als Kinder seien alle Menschen hässlich. Das war auch gelogen, denn wenn Lena sich so umsah, waren da ganz andere Mädchen. Sie hatten lange blonde Zöpfe, Rüschenkleidchen und Gesichter, die aussahen wie gemalt. Dafür konnte Lena am lautesten von allen singen. Und Frau Dutt wiederholte auf Russisch, dass aus ihr mal etwas ganz Großes rauskommen würde. Eines Tages bestellte die Kindergartendirektorin die Erzieherin in ihr Büro und befahl ihr, von nun an nur mehr Ukrainisch mit den Kindern zu sprechen. Die Erzieherin versprach es. Einen Monat lang oder vielleicht sogar zwei gab sie sich allergrößte Mühe, doch ihre Versuche wirkten einfach nur lächerlich. Sie brachte keinen geraden Satz heraus und verhaspelte sich ständig. Statt »Hallo Kinder« sagte sie »Hallo Kender«. Die »Kender« krümmten sich vor Lachen, und Frau Dutt weinte. Einmal ging Lena während der Mittagsruhe zu ihr, um sie zu trösten und sich für das »Großrauskommen« zu bedanken. »Sie wissen ja«, sagte Lena, »Russland ist ein sehr böses und gemeines Land. Wegen Russland mussten viele Ukrainer sterben. In Sibirien und auch am Weißen Meer.« Das Gesicht der Kindergärtnerin wurde rot und verquollen, Tränen rannen. Sie schwieg, und ihr Schweigen ließ Lena keine Ruhe. Lena fuhr fort: »Kommen Sie eigentlich aus Russland? Denn wenn Sie Russin sind, könnten Sie mein Feind sein.« »Ich bin Russin«, antwortete Frau Dutt in einer Sprache, die nicht so leicht einzuordnen war. »Dann sind Sie eben eine liebe Russin. Das gibt’s auch.« Irgendwie wurde Lena alles doch zu viel und sie begab sich zu einer Audienz bei der Frau Direktor. Die Direktorin war eine sehr strenge Frau. Unter ihrem Blick brach den Kindern der Angstschweiß aus, doch Lena beschloss, ihr zum Wohle aller die Stirn zu bieten. Sie klopfte vorsichtig an die Tür. Als keine Antwort folgte, schob sie ihren Kopf durch den Spalt. Die Direktorin saß an ihrem Schreibtisch. Sie trug ihren weißen Kittel, den sie nie ablegte, obwohl sie in einem Kindergarten und nicht im Krankenhaus...