E-Book, Deutsch, 315 Seiten
Mann Ein ernstes Leben
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-2352-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 315 Seiten
ISBN: 978-3-7534-2352-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
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Diesem Kind erschienen alle Jahreszeiten als halbe Fremde, nur nicht der Winter. Die Ostsee verbreitete Sturm und Kälte über ihren kahlen Strand, das hielt vor, und dann war es, wie es sein sollte. Die Sommerwochen dazwischen kamen für die Kinder der Badegäste, nicht für Marie und ihre Geschwister, die nur die gute Gelegenheit benutzten, um auch zu genießen. Der Sommer dieses Kindes war zauberhaft und nicht ganz glaubwürdig. Des Nachts im Traum vergaß es den Juli und sah die See hochgehen. Donnernd rollte sie heran, jeder Anlauf türmte ihre Wassermassen höher, und beim nächsten, beim nächsten verschlangen die Wellen den Katen, worin Marie schlief! Ihr Vater hieß Lehning und war Landarbeiter. Auch die Mutter Elisabeth diente bei einem Bauern. Trotzdem wohnten sie mit allen ihren Knaben und Mädchen unter dem Strohdach eines Katens unmittelbar neben der See, an der Stelle, wo die Promenade aufhört. Auch das steinerne Bollwerk endet dort, den Katen schützte es nicht mehr. Sie hausten darin auf gut Glück und immer gefährdet. Marie aber litt mehr Furcht als alle anderen. Mehrere der Geschwister, die im ganzen dreizehn gewesen wären, ließen sich von der See holen - verschwanden eins nach dem anderen, alle ihre Angehörigen suchten sie vergebens, während Eissplitter durch die verdunkelte Luft flogen. Am Morgen wurde doch noch etwas gefunden, zwei Holzpantinen standen droben auf dem Steindamm ordentlich beieinander, als wäre jemand schlafen gegangen. Übrigens war Warmsdorf ein lustiger Ort; nur der Lehrer hatte die bittere Frage erfunden, warum Warmsdorf so heiße. Er prüfte hierüber seine Schüler jedes Jahr mehrmals, und die Antwort mußte heißen: wegen der Badegäste. In Wahrheit fühlte die Bevölkerung sich wohler, wenn keine Fremden sie störten. Man mußte in den Häusern weniger leise auftreten, solange die guten Zimmer noch nicht vermietet waren. Die Fischer feierten den ganzen Winter ihre Familienfeste in Köhns Hotel, woran während der Saison nicht zu denken war. Die Fischer stehen obenan. Sie sind untereinander alle verwandt, nie aber mit den anderen Schichten. Manche besitzen kleine Dampfschiffe. Sie brechen auf in eisiger Nacht, werden unsichtbar zwischen den Bergen aus brüllendem Wasser, und erscheinen sie wieder, sind zwanzig Stunden vergangen. Niemand außer ihnen selbst hält sich einer solchen Ausdauer für fähig. Anfrieren auf der Bank! Mit Eis im Bart! Dafür kehren sie zurück als große Seefahrer - am größten, wenn einer von ihnen nicht mehr zurückkehrt ...
Heinrich Mann lebte von 1871 bis 1950 und war ein deutscher Schriftsteller.
Autoren/Hrsg.
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es nicht mehr. Sie hausten darin auf gut Glück und immer gefährdet. Marie aber litt mehr Furcht als alle anderen. Mehrere der Geschwister, die im ganzen dreizehn gewesen wären, ließen sich von der See holen – verschwanden eins nach dem anderen, alle ihre Angehörigen suchten sie vergebens, während Eissplitter durch die verdunkelte Luft flogen. Am Morgen wurde doch noch etwas gefunden, zwei Holzpantinen standen droben auf dem Steindamm ordentlich beieinander, als wäre jemand schlafen gegangen. Übrigens war Warmsdorf ein lustiger Ort; nur der Lehrer hatte die bittere Frage erfunden, warum Warmsdorf so heiße. Er prüfte hierüber seine Schüler jedes Jahr mehrmals, und die Antwort mußte heißen: wegen der Badegäste. In Wahrheit fühlte die Bevölkerung sich wohler, wenn keine Fremden sie störten. Man mußte in den Häusern weniger leise auftreten, solange die guten Zimmer noch nicht vermietet waren. Die Fischer feierten den ganzen Winter ihre Familienfeste in Köhns Hotel, woran während der Saison nicht zu denken war. Die Fischer stehen obenan. Sie sind untereinander alle verwandt, nie aber mit den anderen Schichten. Manche besitzen kleine Dampfschiffe. Sie brechen auf in eisiger Nacht, werden unsichtbar zwischen den Bergen aus brüllendem Wasser, und erscheinen sie wieder, sind zwanzig Stunden vergangen. Niemand außer ihnen selbst hält sich einer solchen Ausdauer für fähig. Anfrieren auf der Bank! Mit Eis im Bart! Dafür kehren sie zurück als große Seefahrer – am größten, wenn einer von ihnen nicht mehr zurückkehrt. Dann sieht das Dorf ihre feierlichen Leichenbegängnisse, nicht einer der Überlebenden fehlt, und der Grog, nachher in Köhns Hotel, ist ein wichtiges Getränk, von Blaugekleideten eingenommen. Die Söhne der Fischer können im Sommer aussehen wie Badegäste. Ja, die Besitzer der kleinen Dampfschiffe haben manchmal einen Jungen, der lieber nicht mit hinausfährt und sogar im Winter seidene Hemden trägt. Die Kaufleute und Gastwirte sind an Zahl zu gering, um gegen die Fischer aufzukommen, obwohl sie Stehkragen tragen, und das auch in Abwesenheit der Badegäste. Sie haben übrigens Schulden bei der Warmsdorfer Bankfiliale. Die Fischer arbeiten in wirtschaftlicher Hinsicht mit ihrer eigenen Genossenschaft und sind sonst freie Männer. Sie haben Knechte, die das ganze Jahr in Lohn stehen und auf See alt werden – anders als die Arbeiter der Bauern. Die Bauern sitzen auf ihren Höfen hinter den Tannen. Ganz unten der Strand, dann der sogenannte Lügenberg, an seinem Fuß der Lehningsche Katen – darüber die Tannen und dahinter flaches Land, das sich in den tiefsten Wolken verliert. Von den Bauern bleibt jeder auf seinem Hof, ob die Arbeit drängt oder nicht. Sie haben einander nichts zu sagen. Man würde sich wundern, wenn einer von ihnen beim Barbier auftauchte, wo die Fischer täglich verkehren. Es ist nicht wegen der Bärte, die Fischer gehen zu Witt, weil er einen großen Ausschank hat, weil alle Nachrichten dort herauskommen; und wer aus Malmö zurück ist, zeigt sich zuerst beim Barbier. Die Fischer sind leutselig, je länger sie draußen und manchmal in Seenot waren. Die Bauern sind einsam und trauen niemand. Die Fischer erzählen einander, daß sie tausend Kilo Fische gefangen haben, wenn es in Wahrheit nur hundert sind; und der Schwindler wie der Angeschwindelte haben dabei einen humorvollen Zug. In ihren Schmierstiefeln, geölten Mänteln und mit der Piep stehen sie auch beisammen unter dem Lügenberg, der von ihren Geschichten so heißt. Die Bauern behalten ihre Knechte einen Sommer. Der Junge muß sehr tüchtig sein, damit er über den Winter dableiben darf, aber dann ohne Lohn. Landarbeiter Lehning nahm in jeder Saison, was er bekam, aber während der schlechten Jahreszeit brauchte ihn niemand – erst recht nicht, seit er trank. Vater Lehning trank Schnaps, es war der übliche Kümmel mit Kirsch, die Seltersflasche voll für zwanzig Pfennig. Dafür arbeitete seine Frau Elisabeth das ganze Jahr. Sie hätte Jauche gesoffen, um nicht entlassen zu werden. Sie bezog aber reichliches Essen, darauf kam dem Bauern nichts an; sie packte es in ihren Spankorb und brachte es ihren Kindern in den Katen, den der Sturm schüttelte. Als Marie Lehning zur Schule kam, wurde sie darauf zuerst aufmerksam, daß alle anderen Kinder frühstückten. Sie hatten Brot mit Schmalz, Brot mit Wurst, die Butter drang unter den Rändern hervor, die Nahrungsmittel dufteten würzig und fett. Backstuben, warme Küchen, Räucherkammern, alles duftete darin mit. Marie, die den Essenden zusah, bekam ein todernstes Gesicht und behielt es noch lange. Sie selbst hatte nicht einmal eine trockene Rinde, niemals, niemals. Die Kinder betrachteten sie ihrerseits wie ein Wunder. Mehrere hätten vielleicht mit ihr geteilt, sie waren nahe daran. Scheu vor dem ernsten Gesicht verhinderte es. Einst griff der Lehrer ein, er hielt ihr vor: »’n Happen Brot könntest du schließlich auch …« Der strafende Ton genügte, damit sie losheulte. Sie weinte viel und bei jeder Gelegenheit, besonders wenn sie Blarrmarie gerufen wurde. Dann plärrte sie schon. Die Tränen liefen ihr in den Mund, als wären sie ihre Nahrung. Als der Lehrer einmal eingegriffen hatte, wollte er auch zu einem Ergebnis kommen. Er gab ihr Geld und schickte sie fort, ihm einen Priem zu kaufen. Er hatte berechnet, daß es noch für einen Knust Roggenbrot langte. Sie kam aber zurück mit dem Kautabak und den übrigen Groschen. Sie hatte nicht begriffen. Er knurrte etwas wie »dämliche Deern«, und in seiner Wendung, als er ihr die Schulter zukehrte, hätten die Kinder ihre eigene Verlegenheit wiedererkennen können, wenn Marie so ernst aussah wie der Hunger selbst. Ein Glück, daß sie sofort wieder heulte. Die ganze Schule konnte rufen Blarrmarie und sie fröhlich auslachen. Hierauf wurde gesungen, es war das Lied von dem kleinen Hasen, der spielt und den der schlaue Fuchs frißt. »Lütt Matten de Haas, de mok sick een Spaß. He wier bit studiren, dat Danzen to lieren. Un danz ganz alleen op de achtersten Been.« Marie schluchzte noch. Sie sang von lütt Matten, dachte aber noch an die Sache mit dem Priem. »Kähm Reinke de Voß un dach, das ein Kost.« Noch ein lautes Schluchzen aus der Gegend von Marie Lehning. »Und sech: lüttsche Matten so flink op de Patten, un danz ganz alleen op de achtersten Been?« Jetzt fiel es Marie ein, was der Fuchs vorhatte, darüber vergaß sie den Priem. »Kumm lat uns tosam, ick kann as de Dam.« Das war schlau von Reinke, sich als Dame anzustellen, damit kriegte er lütt Matten! Marie freute sich. »De Kreide speelt Fiedel, denn geiht dat kandiedel, denn geiht dat mal schön op de achtersten Been.« Den hellsten Diskant hatte Marie Lehning. »Halt! Den letzten Vers singt Marie allein«, rief der Lehrer, denn er hatte das Gefühl, daß er das Kind ermutigen müsse. Es krähte denn auch freudig aus voller Kehle: »Lütt Matten gev Pot, de Voß bet em dot. He sett sick in Schatten, verspies denn lütt Matten. De Kreide kreeg een von de achtersten Been.« Als sie fertig war, lachte sie dreimal hoch auf. Der Lehrer sagte: »Siehst du wohl, das kommt davon!« Die ganze Schule freute sich über das Schicksal lütt Mattens, der betrogen und gefressen worden war. Am glücklichsten war Marie. Einige Zeit verging, da wurde eine ihrer Schwestern im Walde tot aufgefunden, mit dem Rock über dem Kopf, und die dünnen kleinen Beine lagen im blutigen Schnee. Der Vater wurde vom Gendarm geholt, um seine Tochter anzusehen, aber die Mutter erklärte, er sei duhn, sie müsse mitgehen. Ihr schlossen sich auch die Kinder an, so viele noch da waren. Alle weinten, besonders der Vater. Klein und dürftig suchte er Halt bei seiner großen Frau, die nichts ins Wanken brachte. Sie war die einzige, die keine Träne vergoß. Ihre Augen blieben wasserhell und ungetrübt in einem Gesicht wie Leder. Auf dem Rückweg packte Marie den Rock der Mutter und ließ nicht mehr los. Den ganzen Tag blieb sie im Haus und verließ es auch am folgenden Tag nur, wenn sie hinausgejagt wurde. Damit man sie duldete, machte sie alle ihre Schulaufgaben. Was sie nicht wußte, fragte sie den Vater, der keine Arbeit hatte. »Sag dem Lehrer, das soll er man selbst herauskriegen!« Der Vater war bei schlechter Laune, weil er sich keinen Schnaps kaufen konnte. Marie indessen setzte sich ohne jeden Übergang an etwas ganz anderes. Sie versuchte auszurechnen, wie viele Geschwister sie gehabt hatte, und wer alles verlorengegangen war. Sie schrieb auf ihre Schiefertafel die Namen, die sie kannte, und verzeichnete daneben: »Husten« oder »Versoppen« oder »Im Wald hingefallen«. Die Schwierigkeit begann bei den Großen, die das Dorf verlassen hatten, als sie selbst noch ganz klein war. Lebten die? Und mußte man sie überhaupt mitzählen? Marie wußte knapp, wie sie hießen, von ihnen war nie die Rede hier im Katen. Alles ging langsam bei Marie. Körperlich kam sie mit und war auf dem Wege, hübsch und kräftig zu werden, wie alle weiblichen Lehnings; man wußte nicht, wovon. Die Jungen gerieten schlechter. Aber bis sie etwas begriff, dauerte es länger. Zu der Rechnung mit den toten und lebenden Geschwistern kehrte sie noch mehrmals zurück. Dann war die Furcht seit jenem Ereignis in den Tannen wieder vergessen, Marie kam nach der Schule nicht mehr außer Atem zu Hause angerannt, sie trieb sich wieder umher. Es war auch schon nicht mehr derselbe Winter, sondern ein anderer, da wurde ihr klar, daß der Katen niemals warm war. Im Katen zu frieren, hatte sie immer für richtig gehalten. Abends kehrte die Mutter heim und kochte Suppe auf der steinernen Feuerstelle. Man konnte die Hände in die Wärme halten oder auch das Gesicht, wobei man sich die Brauen versengte. Jetzt machte Marie die...