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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 7, 282 Seiten

Reihe: Vijay Kumar

Mann Gossenblues

Vijay Kumars siebter Fall
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-89425-727-9
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Vijay Kumars siebter Fall

E-Book, Deutsch, Band 7, 282 Seiten

Reihe: Vijay Kumar

ISBN: 978-3-89425-727-9
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am Grab seines Vaters trifft Vijay Kumar auf eine merkwürdige Frau. Sie beauftragt den Privatdetektiv, nach Gaudenz Pfister zu suchen. Vijays Nachforschungen bringen ans Licht, dass Pfister als Obdachloser unter dem Spitznamen Fischli auf der Straße lebt. Dabei hätte der einstige Banker genug Geld für einen Neuanfang haben müssen.

Wenig später ist nicht nur Gaudenz Pfister, sondern auch Vijays Auftraggeberin tot. Der Fall nimmt Ausmaße an, wie sie der Detektiv nie erwartet hätte.

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Mittwoch »Verd…!« Wie angewurzelt blieb ich stehen. Erst jetzt, da die aufgewühlten Gedanken verstummten und das Knirschen meiner Schritte auf dem verschneiten Kiesweg ausgesetzt hatte, wurde ich mir der Stille bewusst, die mich umgab. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft hierher, ein entferntes Rauschen, als läge jenseits der Friedhofsmauern das Meer. Einzig mein Atem klang unangenehm laut und angestrengt. Mit einem ärgerlichen Ächzen drehte ich mich um, sodass ich wieder das klassizistische Eingangsportal aus Sandstein im Blickfeld hatte. Ich hatte tatsächlich die Blumen vergessen! Dabei war ich am Vortag extra früh aufgestanden, um einen schönen Strauß auf dem Markt am Helvetiaplatz zu kaufen. Ein Bouquet Christrosen mit Wacholder und Efeu, das, gut sichtbar, in einem Whiskyglas auf meinem Bürotisch stand. Trotzdem hatte ich es in meiner Zerstreutheit beim Verlassen der Wohnung übersehen. Kurz erwog ich zurückzugehen, und ein Teil von mir haschte erleichtert nach diesem Aufschub, doch ich verwarf die Idee sogleich wieder. Zu weit, zu mühsam, zu zwecklos. Wer hier lag, für den spielte Zeit ohnehin keine Rolle mehr. Ich würde morgen nochmals herkommen. Mit den Blumen. Langsam ging ich weiter. Ein kühler Januarnachmittag, und wie eigentlich immer in dieser Jahreszeit hing seit Tagen eine undurchdringliche Hochnebeldecke über Zürich. Gegen Abend sollte es aber laut Wetterbericht etwas aufklaren, entsprechend bitterkalt würde es in der Nacht werden. Wie meist wählte ich einen Umweg, ein winziger Aufschub vor dem Unvermeidlichen. Ich kam an weiten, schneebedeckten Rasenflächen vorbei, an wuchtigen, von der Witterung gezeichneten Statuen, an pompösen Grabstätten mit goldenen Inschriften, die die einstige Wichtigkeit der Darunterliegenden demonstrieren sollten. Einmal mehr stellte ich fest, dass sich die kulturelle Vielfalt dieser Stadt auch auf dem Friedhof spiegelte. Da hier jede Konfession zugelassen war, stieß man immer wieder auf Gräber, die bunt, chaotisch oder sogar überbordend fröhlich geschmückt waren und mit ihrem Krimskrams und Nippes einen reizvollen Kontrast zur vorherrschenden protestantischen Strenge bildeten. Im Sommer verwandelte sich der Friedhof Sihlfeld in eine lauschige, üppig begrünte Parkanlage, die stellenweise an ein Labyrinth erinnerte. Gespenstisch karg und verlassen wirkte sie hingegen im Winter. Keine Menschenseele war zu entdecken, die Zypressen schienen zu bedrohlichen Wällen zusammengerückt zu sein, während die kahlen Äste der Laubbäume skelettartig in die diesige Luft ragten. Die Stille umschloss mich wie ein Kokon, ein Gefühl, als befände ich mich unter Wasser. Ich atmete tief aus, um den beklemmenden Druck auf meiner Brust loszuwerden, doch es half nicht. Mittlerweile hatte ich auf Nebenwegen mein Ziel beinahe erreicht. Eine mit Kastanienbäumen bepflanzte Allee führte zum Krematorium, das an einen griechischen Tempel erinnerte, zwei Sphinxe bewachten den Zugang zum Vorhof. Das Atrium selbst wurde von einem großen Bassin dominiert, links davon, hinter dem Kreuzgang, lagen die Urnengräber. Als ich um die Ecke bog, stand an meinem Ziel eine mir unbekannte Frau. Sofort hielt ich inne und glitt nach kurzem Abwägen geräuschlos hinter einen Baumstamm. Vielleicht war es die andächtige Haltung der Fremden, die mir verbot, sie zu stören. Womöglich auch meine berechtigte Befürchtung, sie könnte mich ansprechen, etwas von mir wissen wollen, wenn ich mich jetzt zu ihr gesellte. Denn Small Talk war das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Die Frau hielt den Kopf gesenkt, sodass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, die Hände waren gefaltet. Der beigefarbene Mantel war zu weit, lose fiel der Stoff über die Schultern und betonte ihre hagere Statur, die fahlblonden, etwas strähnigen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Die Hosenbeine waren in die abgewetzten Schäfte der Lederstiefel gestopft. Ihre Kleidung war so schäbig, als trüge sie sie schon seit Jahren. Unvermittelt beugte sich die Frau vor und legte eine einzelne weiße Lilie auf das Grab. Die Totenblume. Dann richtete die Unbekannte sich wieder auf, trat einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. Einen Moment lang verharrte sie reglos in dieser Position und ich lehnte mich etwas vor, damit ich ihr Profil studieren konnte. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig, doch ihr verhärmtes Aussehen ließ sie älter erscheinen. Sie war ungeschminkt, ihre Gesichtszüge eingefallen, die Haut grobporig, unrein – und sie hatte Tränen in den Augen. Jetzt war ich mir sicher, die Frau noch nie gesehen zu haben. Rasch zog ich mich hinter den Baumstamm zurück. Beinahe gleichzeitig drehte sich die Besucherin weg, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und schritt hastig durch die Grabreihen davon. Sie schien mich nicht bemerkt zu haben. Nachdem sie außer Sicht war, verließ ich mein Versteck und trat an dasselbe Grab, an dem die Fremde eben gestanden hatte. Noch immer traf mich der Anblick des schlichten Grabsteins mit dem vertrauten Namen wie ein Faustschlag. Zwar hatte der Schmerz seine schneidende Schärfe verloren, die Trauer jedoch hatte sich als bleierner, stetig schwelender Knoten unterhalb meines Brustbeins eingenistet. Die Vorstellung, dass da vor Kurzem noch jemand geredet, gelacht und geliebt hatte, bevor sein ganzes Dasein von einer Sekunde auf die nächste ausgelöscht worden war, sodass nichts übrig blieb außer diesem Fleck eiskalter Erde, in dem eine Urne mit etwas Asche lag, war für mich nach wie vor unfassbar. Erstaunlicherweise hatte sich meine Mutter damit weit weniger schwergetan als ich. Nach einer kurzen, aber heftigen Trauerphase schien sie sich mit den Umständen arrangiert zu haben. Das Ende des irdischen Lebens war für sie Teil des unabänderlichen Zyklus von Tod und Wiedergeburt und es war laut ihr nur eine Frage der Zeit, bis alle einander nahestehenden Menschen wiedervereint wurden. Insgeheim beneidete ich sie um diesen fest verankerten Glauben. Ich selbst konnte mir ein jenseitiges Leben als Zwischenstopp vor der Rückkehr in diese Welt schlicht nicht vorstellen, so tröstlich der Gedanke auch sein mochte. Angesichts der stetig wachsenden Weltbevölkerung ging das schon rein rechnerisch nicht auf, zudem musste dieser himmlische Pausenraum zwischenzeitlich vollgestopfter und stickiger sein als der Bus der Linie 32 im Feierabendverkehr. Aber ich war wohl zu sehr Realist. Drei Wochen war es nun her. Zwar war es absehbar gewesen, dass mein Vater sterben würde. Die Demenz hatte ihn in der letzten Phase seines Lebens auf einen Schatten seiner selbst reduziert, hatte ihn zu einem brabbelnden, unselbstständigen, vor sich hin vegetierenden Wesen gemacht, an dem nichts mehr an den Mann erinnerte, den ich kannte. Das Ende konnte auch eine Erlösung sein. Dennoch hatte mich die Nachricht seines Todes kalt erwischt. Weil da immer ein Funke Hoffnung blieb, irrational, kindlich und gegen jedes bessere Wissen. Still betrachtete ich sein Grab. Meine Mutter hatte rosa blühende Heidestauden gepflanzt und ein paar dieser Grablichter in roten Plastikbehältern aufgestellt. Wie jedes Mal, wenn ich hier stand, hatte ich das Gefühl, etwas Bedeutungsvolles sagen zu müssen oder wenigstens zu denken. Doch ich brachte kein Wort über die Lippen, mein Kopf war wie leer gefegt. Unbeholfen wischte ich schließlich etwas Schnee vom Grabstein, warf noch einmal einen Blick auf die weiße Lilie, die zwischen den Heidebüschen lag, und ging. Der Bus der Linie 72 stand mit geöffneten Türen an der Tramhaltestelle, als ich durch das Friedhofsportal trat. Weil es bereits später Nachmittag war und der Feierabendverkehr um diese Zeit die Straßen der Stadt verstopfte, hatte ich für die Anreise die öffentlichen Transportmittel benutzt und meinen hellblauen Käfer zu Hause stehen lassen. Ich spurtete über die Aemtlerstrasse und bedankte mich beim Fahrer mit einem Nicken dafür, dass er gewartet hatte. Beim Einsteigen entdeckte ich sie. Die Frau saß auf einem erhöhten Sitz über dem Rad. Das Kinn in die Hand gestützt, schaute sie aus dem Fenster, doch ihr Blick zielte ins Leere. In ihrem Gesichtsausdruck mischten sich Verzweiflung und Trauer. Jäh verspürte ich Mitleid mit ihr, obschon ich sie gar nicht kannte. Mein Vater musste ihr viel bedeutet haben. Einen Moment lang erwog ich, sie anzusprechen, doch sie war so in Gedanken versunken, dass ich es nicht für angebracht hielt. Stattdessen wählte ich einen Platz zwei Sitzreihen hinter ihr und fragte mich, wer sie wohl sein mochte, was sie mit meinem Vater verband und wo sich ihre Lebenswege gekreuzt hatten. Die wenigen Leute, mit denen er vor dem Ausbruch seiner Krankheit näheren Umgang gepflegt hatte, waren mir alle bekannt, sie hatten ihn auch ab und zu im Pflegeheim besucht. Dazu gehörten ehemalige Arbeitskollegen oder treue Kunden aus dem indischen Lebensmittelladen, den er lange Zeit zusammen mit meiner Mutter an der Langstrasse geführt hatte. Und natürlich Landsleute, die es ebenfalls in die Schweiz verschlagen hatte, obschon er sich in der Gemeinschaft der Exilinder nie besonders engagiert hatte. Was vermutlich daran lag, dass mein Vater bereits vor über vierzig Jahren in die Schweiz übergesiedelt war, lange bevor die IT-Branche im großen Stil indische Fachkräfte ins Land lockte und immer mehr Köche für die neu eröffnenden indischen Restaurants gebraucht wurden. Er gehörte schlicht einer anderen Generation von Einwanderern an. Trotzdem waren überraschend viele Gäste bei der Trauerfeier aufgetaucht und die meisten von ihnen hatten im Anschluss auch am Leichenschmaus – welch grässlicher Begriff! – in Kumar’s Palace teilgenommen. Weder im Pflegeheim noch auf dem...


Sunil Mann wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren. Er ist als Flugbegleiter tätig, ein Job, der ihm genügend Zeit zum Schreiben lässt. Viele seiner Kurzgeschichten wurden ausgezeichnet.
Mit seinem Romandebüt Fangschuss, dem ersten Krimi mit Vijay Kumar, gewann er den ›Zürcher Krimipreis‹. Auch Uferwechsel und Schattenschnitt wurden für diesen Preis nominert. Schattenschnitt ist zudem auf der Shortlist für den ›Friedrich-Glauser-Preis‹ als bester deutschsprachiger Kriminalroman des Jahres 2016.



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