E-Book, Deutsch, 468 Seiten
Mann Im Schlaraffenland - Roman unter feinen Leuten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7526-6641-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 468 Seiten
ISBN: 978-3-7526-6641-0
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Im Winter 1893 arbeitete Andreas. Er war fleißig wie ein armer Student, der nicht in alle Ewigkeit auf den Wechsel vom Hause rechnen kann. Als es aber Frühling ward, ging eine Veränderung mit ihm vor. Während der Osterferien, die er aus Mangel an Reisegeld in Berlin verbrachte, mußte er immerfort an die Freunde denken und an die Fahrten, den Rhein zu Berge. Ein ausgiebiger Vorrat von des Vaters prickelndem Federweißen befand sich im Boot. Das Heimweh veranlaßte den jungen Mann zum Nachdenken. Er überlegte sich die große Zahl der Geschwister und die schlechte Ernte des vorigen Jahres. Nun, mit dem Weinberg, der nur noch alle sieben Jahr einmal ordentlich trug, würde er nichts mehr zu tun haben. Sein zukünftiges Erbteil ging bei seinem Studium im voraus darauf. Merkwürdigerweise schloß Andreas hieraus nicht, daß er um so schneller auf das Examen loszuarbeiten habe, sondern daß seine Anstrengungen gar zu wenig lohnend seien. Als mittelloser Schulamtskandidat war alles, was er tun konnte: nach Gumplach zurückkehren und auf eine Anstellung am Progymnasium warten. War das eine Zukunft für ihn, Andreas Zumsee, dessen Talent, nach Ansicht aller, zu großen Hoffnungen berechtigt hatte? Mit achtzehn Jahren hatte er Gedichte gemacht, mit denen seine Freunde und sogar er selbst vollkommen zufrieden gewesen waren. Seitdem hatte der "Gumplacher Anzeiger" eine Novelle von ihm gebracht, die ihm die Gunst des Mäzens von Gumplach eingetragen hatte. Es war der alte Herr, den es in jeder kleinen Stadt gibt und der bei seinen Mitbürgern als harmloser Sonderling gilt, weil er sich mit Literatur befaßt. Am Ostersonntag besuchte Andreas das Königliche Schauspielhaus, um den ersten Teil des "Faust" zu sehen. Auf der Galerie zog er sich hinter einen Pfeiler zurück. Er hatte keinen Bekannten in Berlin, schämte sich aber seines billigen Platzes. Seine Eitelkeit legte ihm Opfer auf. Im Zwischenakt stieg er, nicht weil es ihm Freude machte, sondern weil die Selbstachtung es ihm gebot, ins Parkett hinab und drängte sich auf dem Korridor in der guten Gesellschaft umher. Einmal staute sich der Zug der Wandelnden, weil viele gaffend und horchend zwei bedeutend aussehende Herren umdrängten. Den größeren von ihnen erkannte Andreas sofort wieder; es war der Professor Schwenke, ein Akademiker, der sich eine Ausnahmestellung verschafft hatte dadurch, daß er alles Moderne protegierte. Er trug eine Künstlerlocke auf der Stirn, hielt die Hände in den Taschen seines hellen Jacketts und hatte so ...
Heinrich Mann lebte von 1871 bis 1950 und war ein deutscher Schriftsteller.
Autoren/Hrsg.
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beitsamen Nächten, gleichfalls ohne Zutun des Bühnenleiters, verdiente. Vor sechs Jahren hatten sie jeder zehntausend Mark gehabt. »I wo«, sagte Doktor Pohlatz. »Sie glauben das doch nicht?« fragte er Andreas. Dieser lächelte verbindlich. Pohlatz erläuterte: »Die Weiber bekommen nämlich überhaupt nie was, darauf gebe ich Ihnen mein kleines Ehrenwort.« »Warum denn nicht?« riefen die anderen. »Lizzi Laffé hat noch heute ihre zehntausend, und sie geht auf fünfzig.« »Reden Sie doch keine Makulatur!« versetzte Pohlatz schroff. »Was Lizzi hat, hat sie von Türkheimer.« Die Namen, die Andreas hörte, prägten sich ihm ein, alles, was gesprochen wurde, schien ihm bedeutend, am bedeutendsten aber Doktor Pohlatz. Er wußte alles, er widersprach allen, er kannte die Einnahmen jedes Schauspielers besser als dieser selbst. Aber als er endlich fortging, ward es noch gemütlicher. Andreas erlaubte sich die Frage: »Welcher Zeitung gehört Herr Doktor Pohlatz an?« »Doktor?« sagte jemand, »der Kerl ist ja zum Sterben zu dämlich.« »Einen Kognak und das Adreßbuch!« rief Doktor Libbenow. »Das ist untrüglich«, sagte er, indem er den Finger auf Pohlatz’ Namen legte. »Hier sind dem Doktor seine Grenzen gesetzt.« »Wer ist denn überhaupt noch Doktor?« bemerkte ein dicker, schäbig aussehender Herr mit wolligem schwarzen Vollbart. »Wenn man nur sonst gesund ist«, fügte er hinzu. »Doktor Buhl? Doktor Rebbiner?« Ein Doktor nach dem anderen ward im Kalender aufgeschlagen, und keiner vertrug die Stichprobe. Nur Doktor Libbenow verschonte man aus Höflichkeit. Daß auch Doktor Wacheles vom »Kabel« und der große Abell ihren Titel nur der Gefälligkeit der Kollegen verdankten, machte auf Andreas immerhin Eindruck, aber gewissermaßen brachte der Umstand sie ihm menschlich näher, indem er ihn mit ihrer Größe aussöhnte. Köpf war bereits verschwunden, als die anderen aufbrachen. Doktor Libbenow sagte zu Andreas, der sich von ihm verabschiedete: »Nehmen Sie sich vor Golem in acht; er will Sie anpumpen.« Andreas bemerkte, wie der dicke Schäbige mit dem wolligen, schwarzen Vollbart sich eilig nach der anderen Seite entfernte. Zwei Tage später erschien der junge Mann wieder im Café Hurra, und von da an kam er regelmäßig. Es schmeichelte ihm, seine Abende in der Gesellschaft von Mitarbeitern angesehener Zeitungen zu verbringen, und das Urteil seiner neuen Freunde über ihn lautete günstig. Wie er einmal unbemerkt in die Tür trat, hörte er Doktor Libbenow sagen: »Der junge Zumsee? Das ist so ’n Bengel, der Talent zum Glückmachen hat.« Er zeigte gerade genug Naivität, um der Eitelkeit der anderen zu schmeicheln, und gerade genug Scharlatanismus, um nicht durch Einfalt zu beleidigen. Er sagte: »Och han ich ’n Freud gehabt«, wenn er froh war, nannte »Knatsch geck« jedermann, der ihm mißfiel, und nahm es nicht übel, wenn man seinen Dialekt belächelte. Zum Lohn dafür durfte er Meinungen, die er nicht einmal hatte, sogar dem strengen Doktor Pohlatz gegenüber vertreten. Einmal ließ er es sich einfallen, den Sozialismus, der ihm durchaus gleichgültig war, nur darum herauszustreichen, weil er dies für etwas Besonderes hielt. Er irrte sich, aber Pohlatz, der jeden andern unsanft zurechtgewiesen hätte, begnügte sich damit, ihm zu erwidern: »Das verstehen Sie nicht, junger Mann, das verstehe ich ja kaum, und ich habe studiert.« Bei dieser Gelegenheit erfuhr Andreas den Grund, weshalb das Café Hurra diesen Namen führte. Die Herren von der Tafelrunde hatten früher staatsumwälzenden Grundsätzen gehuldigt, bis im März 1890 sich die Sozialdemokratie als nicht mehr zeitgemäß herausstellte. Damals hatten alle einem Bedürfnis der Epoche nachgegeben, sie waren ihren freisinnigen Prinzipalen ein Stückchen Weges nach rechts gefolgt und bekannten sich seither zum Regierungsliberalismus und Hurrapatriotismus. Der Name des Lokals bewahrte die Erinnerung an diese Evolution. Andreas bewegte sich den ganzen Sommer in diesem Kreise, voll des heiteren Bewußtseins, nunmehr der Berliner Literaturwelt anzugehören. Seitdem er sein Studium aufgegeben hatte, wartete er die Ereignisse ab, um eine neue Arbeit zu beginnen. Bei seinen jetzigen Verbindungen konnte es ihm auf die Dauer gar nicht fehlen. In Vertretung des dicken Golem, der unmäßig faul war, hatte er bereits mehrmals im Gerichtssaal als Berichterstatter fungiert. Wenn er spätabends nach dem Genusse von zwei Tassen schwarzem Kaffee und zwei Kognaks heimging, blickte er in eine glänzende Zukunft gerade hinein. Früher hatte er »geochst«, ohne an etwas zu denken, jetzt tat er nichts und war dabei von hohem Ehrgeiz beseelt. Wohl blieben auch trübere, weniger zuversichtliche Stunden nicht aus. Andreas konnte manchmal ein Gefühl der Leere nicht verleugnen, wenn er den Tisch verließ, an dem von zehn bis zwölf Schauspielergehältern und schlecht zahlenden Verlegern gesprochen worden war. Golem verschwand einmal auf acht Tage, und bei seiner Rückkehr erzählte er den erstaunten Kollegen, daß er sein erstes Feuilleton geschrieben habe. Seit zehn Jahren machte er nur Gerichtsberichte, jetzt aber hatte ihn seine Zeitung nach Bayreuth geschickt. Dies hatte nichts Auffälliges an sich, über Wagner schrieb nachgerade jeder. Aber Andreas meinte, im »Gumplacher Anzeiger« zuweilen weniger schlechte Artikel gelesen zu haben. Dieser Golem erfüllte ihn überhaupt mit Besorgnis. Doktor Libbenows Voraussicht, daß der Dicke ihn anpumpen werde, war nicht unerfüllt geblieben, und Andreas wagte bisher keine abschlägige Antwort zu geben. Er fürchtete noch zu sehr, das Wohlwollen der Kollegen zu verscherzen. Vielleicht war er nicht kräftig genug der öffentlichen Meinung entgegengetreten, die ihn für einen begüterten Dilettanten zu halten schien. Vorläufig erhielt nun Golem bald fünf und bald zehn Mark. Und in letzter Zeit ging der Unglückliche, den der Gerichtsvollzieher überallhin verfolgte, mit dem Plane um, ein Zimmer zu beziehen, das in Andreas’ Wohnung freistand. Auch in anderer Beziehung stellte sich das neue Leben als kostspieliger heraus, als Andreas vorausgesehen hatte. Die Gesellschaft aus dem Café Hurra speiste häufig zusammen zu Abend, hier und da ließ sich jemand, der seine Börse vergessen hatte, von dem jungen Freunde bewirten. Im Theater wäre Andreas jetzt um keinen Preis mehr auf die Galerie gegangen. Aber alle diese Verpflichtungen, die ihm seine gesellschaftliche Stellung auferlegte, überstiegen die Kräfte eines armen Studentenwechsels. So kam es, daß Andreas sich um die Mitte des Monats gewöhnlich in ein vegetarisches Restaurant schlich. Einige Tage später bildete dann der schwarze Kaffee sein hauptsächliches Ernährungsmittel. Das Mittagessen mußte nur zu häufig, wie Pohlatz sich ausdrückte, durch stramme Haltung ersetzt werden. Andreas schuldete seit geraumer Zeit die Zimmermiete, und es war ein Glück für ihn, daß es auch mit der Entlohnung der Wäscherin nicht eilte. Er hatte Kredit erlangt dadurch, daß das junge Mädchen, das ihm seine frischen Hemden brachte, sich durch seine Liebe bestechen ließ. Sie bat nur um Freibilletts für das Theater, die ein Schriftsteller wie Andreas ihr doch wohl verschaffen könne. Andreas erklärte, daß nichts leichter sei, aber Libbenow sowohl wie Golem, der ihm doch vielfach verpflichtet war, vertrösteten ihn. Als nach vierzehn Tagen noch keine Freikarte zur Stelle war, verließ ihn die junge Wäscherin mit dem Ausdruck ihrer Geringschätzung und nicht, ohne die Rechnung auf seinen Tisch zu legen. Im Oktober machte Andreas, entgegen seiner Gewohnheit, einsame Spaziergänge im Tiergarten, wo die Blätter fielen. Das Café Hurra vernachlässigte er. Mochten sie doch merken, daß er sie verachtete! Denn nachgerade fühlte er sich hierzu versucht. Waren sie denn eigentlich ein würdiger Verkehr für ihn, diese Leute, die meistens nicht einmal richtig Deutsch schrieben – soweit sie überhaupt etwas schrieben. Es ward ihm immer klarer: ihre Blasiertheit, die ihm anfangs als Überlegenheit gegolten hatte, war im Grunde nur der Ausdruck von Unwissenheit und Impotenz. Aber der ganze Berliner Ton kam schließlich bloß von Mangel an Tiefe. Sie ulkten, weil sie zu faul waren, auf die Dinge einzugehen. Er hatte genug davon. Das Café Hurra war für ihn eine Sackgasse, die niemals zu irgendeinem Ziele führen konnte. Keiner der dort kennengelernten Herren schien genug Einfluß zu besitzen, um ihn journalistisch zu fördern. Am Ende fehlte auch der gute Wille. Außer Golem, dessen schlechter Ruf seine Empfehlungen gefährlich machte, ließ keiner einen Neuling an seine Zeitung herankommen. In sechs Monaten hatte Andreas genau vierzehn Mark und fünfundsechzig Pfennige verdient, was ihm nicht hinreichend zur Begründung einer Zukunft deuchte. Das erste Studienjahr war darüber hingegangen, sein Wechsel lief jetzt noch zwei Jahre. Innerhalb des gegebenen Zeitraumes mußte er es zu etwas bringen. Von dieser Notwendigkeit herausgestört, tauchte das Gespenst des Gumplacher Schulmeisters noch einmal vor ihm auf. Er wehrte es entrüstet ab. Aber was dann? Andreas vermochte auf diese Frage nur mit einem Seufzer zu antworten, und er hätte sich zweifellos seiner leichtsinnigen Untätigkeit aufs neue überlassen, wenn nicht eine kränkende Erfahrung ihn vollends aufgerüttelt hätte. Er betrat am selben Abend das Café Hurra früher als die anderen und das Haupt um so höher erhoben, je tiefer ihm der Mut stand. Er machte die Runde um das fast leere Lokal und begrüßte das Fräulein am Buffet. Es war eine fade Blondine, Andreas hatte noch nie das Bedürfnis gefühlt, einen Angriff auf sie auszuüben. Heute aber glaubte er, dies seiner Würde schuldig zu sein....