E-Book, Deutsch, 543 Seiten
Mann Im Schlaraffenland
Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-96281-835-7
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Roman unter feinen Leuten
E-Book, Deutsch, 543 Seiten
ISBN: 978-3-96281-835-7
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In seinem ersten Roman hat Heinrich Mann zugleich auch sein Lieblingsthema gefunden: die korrupte Gesellschaft zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. Der Roman zeichnet Aufstieg und Fall des aus einfachen Verhältnissen stammenden und leidlich talentierten Möchtegern-Literaten Andreas Zumsse. Bedingt durch Glück und Beziehungen steigt er in der wilhelminischen Gesellschaft von Reichtum und Macht auf. Aber die Etablierten verzeihen ihm seinen Erfolg nicht. Und durch eigene Hybris und einem Hang zu Ränkespielen hat Zumsse schon bald seinen Zenit überschritten und sieht sich schlussendlich wieder auf dem Weg zurück nach unten. Jahre später schrieb Mann in einem Brief über seinen Roman: 'Mit 20 konnte ich gar nichts. Gegen 30 lernte ich an meinem Schlaraffenland die Technik des Romans.' Null Papier Verlag
Luiz Heinrich Mann (27.03.1871-11.03.1950) war ein deutscher Schriftsteller aus der Familie Mann. Er war der ältere Bruder von Thomas Mann. Seine Erzählkunst war vom französischen Roman des 19. Jahrhunderts geprägt. Sein erzählerisches Werk steht neben einer ebenso reichen Betätigung als Essayist und Publizist. Als früher Gegner der Nationalsozialisten wurde er bereits 1933 mit Sanktionen belegt. Mann stand auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs von 1933, er befand sich dort in illusterer Gemeinschaft mit Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky und Philipp Scheidemann. Mann emigrierte nach Frankreich und später in die USA, wo er er zahlreiche Arbeiten, darunter viele antifaschistische Texte, verfasste.
Autoren/Hrsg.
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I. Der Gumplacher Schulmeister
Im Winter 1893 arbeitete Andreas. Er war fleißig wie ein armer Student, der nicht in alle Ewigkeit auf den Wechsel von zu Hause rechnen kann. Als es aber Frühling ward, ging eine Veränderung mit ihm vor. Während der Osterferien, die er aus Mangel an Reisegeld in Berlin verbrachte, musste er immerfort an die Freunde denken und an die Fahrten, den Rhein zu Berge. Ein ausgiebiger Vorrat von des Vaters prickelndem Federweißen befand sich im Boot. Das Heimweh veranlasste den jungen Mann zum Nachdenken. Er überlegte sich die große Zahl der Geschwister und die schlechte Ernte des vorigen Jahres. Nun, mit dem Weinberg, der nur noch alle sieben Jahre einmal ordentlich trug, würde er nichts mehr zu tun haben. Sein zukünftiges Erbteil ging bei seinem Studium im Voraus drauf. Merkwürdigerweise schloss Andreas hieraus nicht, dass er umso schneller auf das Examen loszuarbeiten habe, sondern dass seine Anstrengungen gar zu wenig lohnend seien. Als mittelloser Schulamtskandidat war alles, was er tun konnte: nach Gumplach zurückkehren und auf eine Anstellung am Progymnasium warten. War das eine Zukunft für ihn, Andreas Zumsee, dessen Talent, nach Ansicht aller, zu großen Hoffnungen berechtigt hatte? Mit achtzehn Jahren hatte er Gedichte gemacht, mit denen seine Freunde und sogar er selbst vollkommen zufrieden gewesen waren. Seitdem hatte der »Gumplacher Anzeiger« eine Novelle von ihm gebracht, die ihm die Gunst des Mäzens von Gumplach eingetragen hatte. Es war der alte Herr, den es in jeder kleinen Stadt gibt, und der bei seinen Mitbürgern als harmloser Sonderling gilt, weil er sich mit Literatur befasst. Am Ostersonntag besuchte Andreas das Königliche Schauspielhaus, um den ersten Teil des Faust zu sehen. Auf der Galerie zog er sich hinter einen Pfeiler zurück. Er hatte keinen Bekannten in Berlin, schämte sich aber seines billigen Platzes. Seine Eitelkeit legte ihm Opfer auf. Im Zwischenakt stieg er, nicht weil es ihm Freude machte, sondern weil die Selbstachtung es ihm gebot, ins Parkett hinab und drängte sich auf dem Korridor in der guten Gesellschaft umher. Einmal staute sich der Zug der Wandelnden, weil viele gaffend und horchend zwei bedeutend aussehende Herren umdrängten. Den größeren von ihnen erkannte Andreas sofort wieder; es war der Professor Schwenke, ein Akademiker, der sich eine Ausnahmestellung verschafft hatte dadurch, dass er alles Moderne protegierte. Er trug eine Künstlerlocke auf der Stirn, hielt die Hände in den Taschen seines hellen Jacketts und hatte so große Furcht, pedantisch zu erscheinen, dass er beim Sprechen den Oberkörper stets in einem burschikosen Schwunge erhielt. Sein Gegenüber war einen Kopf kleiner, bartlos, und sein borstiges schwarzes Haar hing über einem Halskragen von zweifelhafter Weiße. Er hatte eine Adlernase und gelblederne Gesichtshaut, und sein zu weiter Gehrock reichte bis unter die Knie hinab. Andreas war sehr begierig zu wissen, wer diese Persönlichkeit sei, die äußerlich zwischen Clergyman und Konzertvirtuosen ungefähr die Mitte hielt. Ein Herr, der von fern dem Kleinen winkte, rief: »Herr Doktor Abell!« »Sollte das Abell sein?« dachte Andreas, »der Kritiker des ›Nachtkurier‹?« Er konnte es kaum fassen, dass man die großen Männer, die im Reich der Begriffe lebten, hier in der Wirklichkeit wiederfand. Sein Herz schlug höher, und er schaute sich argwöhnisch um, ob man ihm etwas anmerke. Denn er wollte um keinen Preis naiv aussehen. Von seinem Galerieplatz suchte er die beiden Herren wieder auf; sie saßen dicht hinter dem Orchester. Andreas schielte mehrmals hastig nach seinem Nachbarn, einem blonden jungen Manne in bescheidenem schwarzen Röckchen. Endlich hielt er es nicht mehr aus: »Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich bin kurzsichtig. Ich meine dort vorn den Doktor Abell zu erkennen?« Er bemühte sich, ganz dialektfrei zu sprechen. Der junge Mann erwiderte höflich: »Gewiss. Das ist Doktor Abell. Er sitzt neben Doktor Wacheles vom ›Kabel‹. Zwei Reihen hinter den Herren sehen Sie auch Doktor Bär von der ›Abendzeitung‹ und Doktor Thunichgut von der ›Kleinen Börse‹.« Neben ihnen machte man »Pst!«, und der Vorhang ging auf. Andreas sah nichts anderes mehr als die Rücken der Kritiker. Sie nahmen Plätze ein, denen auch er sich gewachsen fühlte. Mit sanguinischer Fantasie malte er sich schon seinen Eintritt in den Saal aus. Er schritt gelassen, im Gefühl seiner Unentbehrlichkeit, auf den ihm reservierten Sessel zu. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und lauschte nachlässig mit mildem Lächeln den Künstlern, die mehr für ihn als für tausend andere sprachen. Einige Zeilen in der Redaktion, wohin er nach der Vorstellung fuhr, flüchtig auf das Papier geworfen, sicherten ihm Macht, Einfluss, ein gutes Einkommen und eine angesehene gesellschaftliche Stellung in Berlin. Der Gumplacher Schulmeister durfte diese Zukunft nicht durchkreuzen. Das berufene Talent brach sich Bahn. Um sich selbst in seinen Hoffnungen zu bestärken, hätte er sie gern laut ausgesprochen. Er sah mehrmals schnell um sich und schnappte vor Erregung nach Luft. Sein Nachbar, der ihn durch einen schwarzumrandeten Kneifer still anblinzelte, sagte verbindlich: »Wir sind wohl Kollegen?« Andreas stutzte und besann sich. »Sie sind auch Schriftsteller?« fragte er. Der andere verbeugte sich. »Friedrich Köpf, Schriftsteller.« Er sprach mit gespitzten Lippen, als sei es ihm eher peinlich, dies einzugestehen. Andreas wurde im Gegenteil rot vor Vergnügen, während er sich vorstellte. Es war das erste Mal, dass er sich als Literat bezeichnete. Er meinte seine Laufbahn hiermit in aller Form zu beginnen. »Ich mache allerdings gerade die ersten Schritte in meinem Beruf«, setzte er hinzu. »Oh, das berufene Talent bricht sich Bahn«, versicherte der junge Mann. Andreas richtete sich auf und sah ihn drohend an; aber er überzeugte sich, dass der andere ganz harmlos lächelte. Er versetzte darauf: »Ich bin bisher bloß Mitarbeiter eines Provinzblattes gewesen.« »Ah, Sie sind bereits journalistisch tätig?« »Ich habe am Feuilleton mitgearbeitet.« Andreas vermied es, das unberühmte Blättchen zu nennen, das seine junge Kraft gewonnen hatte, und sein neuer Bekannter war diskret genug, nicht danach zu fragen. Er sagte überhaupt nichts mehr,...