E-Book, Deutsch, Band 6, 315 Seiten
Reihe: Vijay Kumar
Mann Schattenschnitt
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-89425-711-8
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vijay Kumars sechster Fall
E-Book, Deutsch, Band 6, 315 Seiten
Reihe: Vijay Kumar
ISBN: 978-3-89425-711-8
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vijay Kumar wird zufällig Zeuge, wie die Dokumentarfilmerin Pina Gilardi auf offener Straße niedergestochen wird. Kurz zuvor hat der indischstämmige Privatdetektiv sie noch in Begleitung einer merkwürdig vermummten Person gesehen. Da die im Koma liegende Filmemacherin nichts zum Geschehen aussagen kann, engagiert ihre Lebensgefährtin Vijay, der herausfinden soll, was hinter der Tat steckt. Er erfährt, dass Gilardi erst jüngst aus Indien zurückgekehrt ist, wo sie nach Jahren erneut das Thema aufgegriffen hat, mit dem sie berühmt wurde: die Lebensbedingungen HIV-positiver Menschen.
Als Vijay dieser Spur folgt und in das Land seiner Vorfahren reist, muss er sich unerwarteten Gefahren stellen – und das nicht nur, weil seine Familie mal wieder große Pläne mit ihm hat …
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Samstag »Das ist das Ende!« Erschüttert starrte ich in den kreisrunden Toilettenspiegel, um dessen Rahmen sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen ein beiger Ledergürtel spannte. Das Tor zur Hölle, das Miranda unablässig beschwor, hatte sich spaltweit geöffnet! Ich beugte mich vor und besah mein Ebenbild von Nahem. Schmeichelhaft heruntergedimmtes Licht wischte jegliche Anzeichen unseriösen Lebenswandels aus meinem Gesicht, während aus den Lautsprechern dieselbe Loungemusik wie oben im Restaurant plätscherte. Aus der Kabine, in der sich eben zwei Jungs verschanzt hatten, drang ein verdächtiges Schniefen und übertönte kurzzeitig den Klangteppich. Ich bezweifelte stark, dass es sich dabei um ein rein erkältungsbedingtes Leiden handelte. Besorgt fuhr ich durch meine Frisur. Ich hatte mich nicht getäuscht. Wie eine Eins stand es da, ragte drahtig und trotzig und vor allem unübersehbar hoch. Die hämische Ankündigung des beginnenden Zerfalls, ein Symbol für meine unweigerlich ablaufende Lebenszeit, der Hauch des Todes: ein weißes Haar! Mit Daumen und Zeigefinger packte ich den Boten der Apokalypse und war erstaunt, wie widerstandslos er sich auszupfen ließ. Noch hatte ich die Oberhand. Dennoch musterte ich mein Haupt eingehend und erst als ich hundertprozentig sicher war, dass nichts Weißes mehr aufblitzte, stellte ich mich ans Pissoir. Ich zog gerade den Reißverschluss meiner Jeans hoch, als die Kabinentür mit einem Knall aufsprang und die beiden Jungs kichernd aus ihrem Kabäuschen taumelten. Am Waschbecken blieben sie kurz stehen und überprüften ihre Nasen auf verdächtige Spuren, bevor sie abzogen. Ich wusch mir die Hände und vergewisserte mich erneut, dass wirklich kein weiteres weißes Haar auf meinem Kopf spross. Der Gedankenblitz traf mich erst, als ich bereits im Korridor stand. Kurz entschlossen machte ich kehrt. Ein Blick in die eben benutzte WC-Kabine bestätigte meine Vermutung. Es wäre ein Verbrechen gewesen, das Zeugs einfach der Putzfrau zu überlassen. Mit sanftem Druck strich ich mit der Fingerspitze über den Deckel des Spülkastens und rieb mir die daran kleben gebliebenen Kokainbröckchen ins Zahnfleisch. Man hatte die Tische zur Seite geschoben, die tagsüber zum Essen einluden. Am Kopfende des Raumes stand stattdessen ein DJ-Pult, an dem eine zierliche Frau mit blonden Haaren auf einem iPod herumtippte. Eine riesige, sich drehende Discokugel warf Lichteffekte auf die Wände und durch die meterhohen Fenster konnte man auf die schick gekleidete Menschenmenge auf der Terrasse sowie den dahinterliegenden Gustav-Gull-Platz blicken. Noch vor wenigen Monaten hätte ich wohl gnadenlos über ein so offensichtlich auf angesagt getrimmtes Restaurant wie das NEO vom Leder gezogen, doch mit leiser Verwunderung stellte ich fest, dass mir dieser Stil neuerdings zusagte. Ein luftiger Raum, Separees auf der Galerie und schräg gestellte Jalousien entlang der beiden Treppen, durch die man von der langen Bar aus die hinauf- oder herabsteigenden Gäste beobachten konnte – ein Lokal, wie es die erst kürzlich aus dem Boden gestampfte Europaallee nicht nötiger haben konnte. Ein trügerischer Name ohnehin, denn natürlich führte der bloß wenige Hundert Meter lange Straßenabschnitt genauso wenig Richtung Europa wie die Schweizer Politik. Aber in der Margrit-Rainer-Strasse traf man ja auch nicht auf die Volksschauspielerin und Schnulzen waren an der Engelbertstrasse garantiert keine zu hören. Doch während der Rest der Allee entgegen dem Trenddiktat häufig verwaist und ähnlich unpersönlich wie die sterilen Einkaufsstraßen anderswo daherkam, empfand zumindest ich das NEO als ein Glanzlicht dieser Gegend. Vermutlich hatte das mit meinem Alter zu tun. Das eben entdeckte weiße Haar war leider nicht das einzige Anzeichen für das Ende meiner blühenden Jugend. In letzter Zeit guckte ich leidenschaftlich gern Kochsendungen im Fernsehen und schämte mich nicht einmal mehr bei Bauer, ledig, sucht … fremd. In Bekleidungsgeschäften steuerte ich automatisch die Ecke mit den gedeckten Farben an und machte einen weiten Bogen um Oberteile mit knalligen Schriftzügen und hauteng geschnittene Hosen. Neulich war eine junge Frau im Tram aufgestanden, um mir mit einem mitfühlenden Lächeln ihren Platz anzubieten. Auch hatte ich mich schon dabei ertappt, wie ich zur Berieselungsmusik im Einkaufszentrum mitgesummt hatte, und einmal hatte ich sogar in einem Aufzug spontan mit den Fingern geschnippt, bloß ein Reflex, ausgelöst durch den mitreißenden Rhythmus des gerade laufenden Songs von Chris de Burgh. Die versteinerte Miene meiner Freundin Manju werde ich so schnell nicht vergessen. »Du hast das Haar ausgerissen!«, brüllte es von hinten in mein Ohr und ich fuhr herum. Miranda stand in der offenen Terrassentür, eine Zigarette in der erhobenen und gleichzeitig abgeknickten Hand, die andere hatte sie in die Seite gestützt. Die ›Teekanne‹, ein Klassiker in ihrem an affektierten Posen nicht armen Repertoire. »Welches Haar?« »Du weißt genau, wovon ich spreche.« »Das ist dir aufgefallen?« Sie lachte. »Jedem ist es aufgefallen! Da draußen reden sie von nichts anderem mehr.« Ich wusste zwar, dass sie gerne übertrieb, dennoch konnte ich nicht umhin, beunruhigt zur Menschentraube hinter ihr zu äugen. »Ich habe es dir immer gesagt, vierzig ist das Tor zur Hölle. Der steinige Abstieg ins Tal des Jammers und der Tränen, wo du als geisterhafter Abklatsch deiner selbst jahrelang über ausgedorrten, von Schlangen besiedelten Grund wandeln wirst, ein allmählich verrottender Untoter, der für die Jugend unsichtbar ist. Altern ist das wahre Fegefeuer und es findet im Diesseits statt, eine unerbittliche Abwärtsspirale, die dich in die Tiefe und die Einsamkeit zieht und an deren Ende einzig das Grab auf dich wartet.« »Schöne Aussichten.« »Sag nie, ich hätte dich nicht gewarnt.« Miranda neigte nicht nur zur Übertreibung, sie hatte auch ein Flair für Dramatik. Vom Pathos ganz zu schweigen. »Ich bin aber erst neununddreißig«, verteidigte ich mich lahm. Entsprechend unbeeindruckt zeigte sie sich. »Neununddreißig, vierzig. Wo ist da der Unterschied?« »Und das aus dem Mund von jemandem, der längst …« »… neunundzwanzig ist. Neunundzwanzig, mein Lieber, falls du das vergessen hast.« Ein drohender Unterton schwang in ihrer Stimme mit und grinsend gab ich mich geschlagen. »Wenn du es sagst.« »Das tue ich«, bestätigte sie mit Nachdruck. »So lange, bis es alle glauben. Mich eingeschlossen.« Sie zwinkerte mir zu und schwebte mit wiegenden Hüften auf die Terrasse hinaus. Für den heutigen Abend hatte sie sich einen roten Punkt – das dritte Auge – mitten auf die Stirn gemalt und trug einen gelben Sari mit rotgoldenen Stickereien, für den meine Mutter keine Verwendung mehr gehabt hatte. Erwartungsgemäß hatte Miranda beim Styling wenig Sinn für die keusche indische Tradition gezeigt und trug das Seidentuch so lose am Körper, dass ihr Busen bei jeder unachtsamen Bewegung ins Freie zu hüpfen drohte. Erstaunlicherweise reichte der Saum ihres Kleides bis zu den Absätzen ihrer ebenfalls gelben Louboutins, doch irgendwie hatte sie es geschafft, sich so raffiniert in den Sari einzuwickeln, dass der wallende Stoff bei jedem Schritt ihre langen Beine enthüllte. Miranda und ich waren uns um die Jahrtausendwende immer wieder in schummrigen Klubs und auf abgefahrenen Partys in ungenutzten Industriegebäuden über den Weg gelaufen und hatten uns schnell angefreundet. Sie war zu der Zeit noch als Gustavo unterwegs gewesen, doch kurz nach unserem Kennenlernen ließ sie ihr Haar wachsen und färbte es karamellfarben, rasierte sich zweimal täglich und spendete ihre Männerhosen der Altkleidersammlung. Ihr Umgang mit Make-up wurde zunehmend professioneller und während eines Brasilienurlaubs tauschte sie schließlich den mit Socken gestopften Büstenhalter gegen ein formidables Paar strammer Brüste ein. Etwas wehmütig dachte ich an jene großartige Zeit zurück, an unsere gemeinsamen und meist deliriösen Nächte in der Dachkantine oder im Labyrinth, und fragte mich, ob es solche Klubs überhaupt noch gab. Und falls ja, ob ich mir dort nicht wie der anrüchige Onkel auf einem Kindergeburtstag vorkäme. Ich verscheuchte den erniedrigenden Gedanken und machte mich auf, an der Bar einen weiteren Drink zu ordern. Mein bester Freund José hatte mich zu diesem Anlass mitgeschleppt, der in der Szenesprache als ›Launch‹ bezeichnet wurde. ›Produkteinführung‹ hätte zugegebenermaßen auch bescheuert geklungen und kaum das erwünschte Publikum angezogen. Genau betrachtet, handelte es sich dabei um einen etwas ausgedehnten Umtrunk, an dem irgendein trendiges Erzeugnis vorgestellt wurde und ein paar handverlesene Blogger mit ihren Handys blindwütig alles fotografierten, was in ihren Augen etwas hergab. Das hieß, die an solchen Events stets herumlungernde C-Prominenz, die zu bewerbenden Artikel und besonders gern sich selbst. Gewöhnlich wurden auch Gratisgetränke und von Spitzenköchen zubereitete Häppchen gereicht. Vor allem die letzten beiden Punkte waren ausschlaggebend dafür gewesen, dass ich mich nach anfänglichem Sträuben doch hatte überzeugen lassen, José zu begleiten. Miranda, die stets bestens darüber informiert war, was in dieser Stadt abging, hatte sich bereits mit den üblichen Verdächtigen an der Bar gedrängelt, als wir eintrafen. Da sich heute alles um eine neue Ginsorte drehte, die in Zürich destilliert und mit Zutaten aus der Region hergestellt wurde, mixten die Barkeeper ausschließlich...