Mann Uferwechsel
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-89425-871-9
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vijay Kumars dritter Fall
E-Book, Deutsch, Band 3, 234 Seiten
Reihe: Vijay Kumar
ISBN: 978-3-89425-871-9
Verlag: GRAFIT
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rasant, bunt, tragisch - der indisch-schweizerische Detektiv Vijay Kumar ermittel undercover. In einem Waldstück nahe des Zürcher Flughafens wird eine Leiche geborgen. Der junge Mann ist Ausländer und trotz des kalten Winters nur halb bekleidet. Sein Körper ist steif gefroren, das Gesicht weist schwere Verletzungen auf. Privatdetektiv Vijay Kumar, der zufällig am Fundort anwesend war, staunt nicht schlecht, als er einen Tag später den Auftrag erhält, die Umstände des Todes von genau diesem jungen Mann aufzuklären. Erste Recherchen lassen die Vermutung aufkommen, dass sich der Tote im Radkasten eines Flugzeugs versteckt hatte, um illegal in die Schweiz einzureisen. Eine andere Spur führt in das Strichermilieu. Vijay zwängt sich in sein schwulstes Outfit und taucht in die Szene ein, in der er unerwartet bekannte Gesichter trifft. Musste der Junge sterben, weil jemand sich nicht outen wollte? Bald gibt es einen weiteren Toten. Damit hat sich Vijays Mutter keinen guten Zeitpunkt ausgesucht, um ihrem Sohn eine Horde heiratswilliger Inderinnen auf den Hals zu hetzen.
Sunil Mann wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren. Nach der Matur schrieb er sich in Zürich für Psychologie und Germanistik ein. Beide Studien brach er erfolgreich ab. Zurzeit ist er als Flugbegleiter tätig, ein Job, der ihm genügend Zeit zum Schreiben lässt. Für seine Kurzgeschichten hat er bereits zahlreiche Preise gewonnen. Für sein Romandebüt 'Fangschuss' wurde er mit dem 'Zürcher Krimipreis' ausgezeichnet.
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Donnerstag
»Halt an! Da muss es sein!« Grob krallte José seine Finger in meinen Arm und deutete aufgeregt zu der Stelle im Wald, die so hell und unwirklich erstrahlte, als wäre dort hinter den Baumstämmen ein Raumschiff gelandet. Durch das dichte Schneetreiben waren Scheinwerfer auszumachen, ihr grelles Licht durchschnitt die Düsternis des frühen Morgens. Jäh trat ich auf die Bremse und verlor dabei beinahe die Kontrolle über meinen hellblauen Käfer, der mit unvermindertem Tempo über die vereiste Straße schlitterte – einem bulligen Kastenwagen entgegen, dessen Umrisse unvermittelt aus dem Schneegestöber aufgetaucht waren. »Pass auf!«, schrie José überflüssigerweise. Im letzten Augenblick gelang es mir, das Steuer herumzureißen und einen Zusammenstoß zu vermeiden. Mein Wagen schleuderte um die eigene Achse und setzte gerade zu einer weiteren Pirouette an, als eine Schneewehe am Straßenrand unsere Rutschpartie knirschend stoppte. »Das war knapp!«, keuchte José, doch mit einem Magen, der mir whiskysauer am Halszäpfchen klebte, sah ich mich außerstande, den Mund zu öffnen, geschweige denn zu antworten. Ich schloss kurz die Augen und schickte ein knappes Dankesgebet an den Hindugott Vishnu, dem die nervenaufreibende Aufgabe zugefallen war, Menschen zu behüten. Dann holte ich tief Luft, öffnete die Augen und setzte den Käfer zurück. Im Schritttempo umfuhr ich die offenbar in Eile zurückgelassenen Fahrzeuge, die kreuz und quer auf dem brachliegenden Feld neben der Landstraße standen, und peilte eine freie Fläche an. Noch bevor ich den Motor ausstellen konnte, hatte José die Beifahrertür aufgestoßen und war aus dem Wagen gesprungen. »Verdammt! Warte gefälligst auf mich!«, schrie ich ihm hinterher, als ich bemerkte, dass er sich keineswegs übergeben musste, sondern zielstrebig Richtung Wald davonrannte. Fluchend lehnte ich mich über den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Dann stülpte ich meine fellgefütterte Mütze über, schlüpfte in die Handschuhe und rannte meinem Kumpel nach, über den Acker und ein Stück der Straße entlang zum schmalen Waldweg zurück, der in einer leichten Steigung zur Lichtung hinaufführte. Ich holte José problemlos ein, schließlich trug er nicht nur eine schwere Fotoausrüstung bei sich, sondern auch einen Rucksack, in dem sich eine volle Thermoskanne befand, in der heißer, stark gezuckerter Kaffee schwappte – großzügig mit spanischem Brandy versetzt, wie ich bei einer ersten Kostprobe erfreut festgestellt hatte. »Gib her!« Ich nahm José im Laufen eine der Fototaschen ab und schweigend hetzten wir durch das Waldstück bergauf. Inmitten der Bäume herrschte eine dumpfe Stille, die Stämme hielten den Sturm erfolgreich ab. Nur der hart gefrorene Boden knarrte verhalten unter unseren Schritten, vereinzelt schwebten Flocken in der Luft. An den letzten Baumreihen schlugen uns die eisigen Schneeböen erneut entgegen und der Sturm zerrte an unseren Jacken. Die Lichtung war etwa halb so groß wie ein Fußballfeld und hell erleuchtet, ein ungenauer Halbkreis mit ausgefransten Rändern. Schemenhaft zeichnete sich nachwachsendes Buschwerk unter der Schneedecke ab und die kahlen Zweige junger Laubbäume ragten wie dürre, skelettartige Finger aus dem Weiß. Trotz des Schneetreibens waren die flatternden rot-weißen Bänder, mit denen man den Bereich um die Leiche weitläufig abgesperrt hatte, deutlich zu erkennen. Verwundert stellte ich fest, wie viele Leute sich im gleißenden Flutlicht tummelten. Etliche Uniformierte standen vor der Absperrung herum, die meisten wirkten etwas orientierungslos, ihre Augen waren glasig, die Haare – sofern sie nicht unter Mützen steckten – strähnig, die Gesichter aufgedunsen. Was auf den ersten Blick wie ein Mickey-Rourke-Lookalike-Contest aussah, war in Wahrheit wohl eher auf die Uhrzeit zurückzuführen: Es war kurz nach sieben in der Früh. Eine Zeit, die mir selbst nur vom Hörensagen bekannt war. Hätte mich José, der selbst kein Auto besaß, nicht mit penetrantem Klingeln aus dem Bett geholt, damit ich ihn unverzüglich zum Fundort der Leiche fuhr, befände ich mich noch selig schlummernd in demselben. Stattdessen sah ich mich jetzt einer bissigen Kälte ausgesetzt, die mir die Tränen in die Augen trieb und allmählich unter meine Kleider kroch. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, während ich beobachtete, wie sich vier Polizisten damit abmühten, eines dieser weißen Zelte aufzurichten, wie man sie von verregneten Grillpartys kannte. Die Seitenwände blähten sich wie Segel im Wind, als die Männer jetzt versuchten, das Zelt über der Leiche zu platzieren, um sie vor dem Schneefall zu schützen. Ein Beamter leistete sich eine Unachtsamkeit und ließ kurz los, und schon riss der Sturm das Zelt wieder mit sich fort. Fluchend rannten ihm die Männer hinterher. Auf der verzweifelten Suche nach brauchbaren Spuren wuselten derweil vermummte Gestalten in weißen Overalls um die Leiche herum. Ob sie etwas fanden, war im Schneegestöber nicht genau festzustellen, ich hielt es aber für eher unwahrscheinlich. Außerhalb des abgesperrten Bereichs warteten Fotografen und Journalisten – unschwer an der Ausrüstung, den speckigen Lederjacken und den qualmenden Zigaretten auszumachen – und reckten die Köpfe, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Kollegial verteilten sie untereinander Plastikbecher mit dampfendem Kaffee. Nicht nur an der Landstraße unten, auch entlang des Waldweges waren mir die Streifenwagen aufgefallen und selbst auf der Lichtung waren etliche davon geparkt. Dem Aufmarsch an Personal nach zu urteilen, handelte es sich hier um einen äußerst wichtigen Fall. Was auch Josés Eile erklärte. Während der Fahrt hatte er angespannt gewirkt und sich ungewohnt wortkarg gegeben. Erst auf mein hartnäckiges Nachfragen hin hatte er mir das Allernotwendigste verraten: junger Ausländer, tot, von Spaziergänger gefunden, im Wald bei Zumikon, außerhalb Zürichs. An einen Unfall hatte von Anfang an niemand geglaubt, wie das Polizeiaufgebot deutlich machte, und wenn ich mir die immer stärker werdenden Rechtstendenzen in der Schweiz vor Augen führte, war wohl das Schlimmste zu befürchten. Ein weiterer Wagen war jetzt zu hören, ein dunkler Mercedes, der in halsbrecherischem Tempo den Waldweg heraufpreschte und ruckartig vor der Absperrung anhielt. Als wäre es ein inszenierter Auftritt, ließ genau in diesem Augenblick der Sturm nach. Der Wind flaute ab, nur der Schnee fiel weiterhin in großen, flauschigen Flocken vom dämmrigen Himmel. Die Journalisten verstummten abrupt und wirkten mit einem Mal angespannt, während die Uniformierten entweder eine stramme Haltung annahmen oder beschäftigt guckten. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Dann schwang die hintere Tür des Wagens auf und ein athletisch wirkender Mann mit grau melierter, perfekt sitzender Frisur entstieg ihm. Er blieb vor dem Fahrzeug stehen und blickte sich mit selbstgefälliger Miene nach allen Seiten um, als hätte er soeben unter frenetischem Beifall eine Bühne betreten. Mit einer geschmeidigen Bewegung schlug er den Kragen seines sandfarbenen Kamelhaarmantels hoch und schlüpfte unter dem Absperrband hindurch, das ein diensteifrig herbeigeeilter Beamter für ihn hochhielt. Gerade noch rechtzeitig entging er so der heranstürmenden Pressemeute, die ihm aufgeregt ihre Fragen hinterherbrüllte. Nach wenigen Metern verlangsamte der Mann seine Schritte, als wäre ihm etwas Wichtiges eingefallen. Unvermittelt drehte er sich dann um und blickte mit pathetischem Gesichtsausdruck in die Kameras. Zeitgleich ging ein Blitzlichtgewitter über der Lichtung nieder. »Kein Kommentar«, verkündete er mit fester Stimme, als die Fotografen ihre Bilder im Kasten hatten, und ließ sich von zwei Beamten zum Fundort der Leiche begleiten. Gereizt wedelte er die junge Frau zur Seite, die ihm Gummihandschuhe und einen weißen Overall entgegenstreckte, schüttelte flüchtig Hände und tauschte einige Worte mit den ranghöchsten Polizisten. Nachdem er alles Relevante registriert und gespeichert zu haben schien, trat er an den leblosen Körper heran, der seltsam zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Obwohl ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich nichts Genaueres erkennen, der Tote befand sich zu weit von der Absperrung entfernt. Dafür entdeckte ich einen älteren Mann in einer dicken Winterjacke, der mit hochgeschlagenem Kragen etwas abseits stand und gerade von einer Polizistin mit Kaffee versorgt wurde. Der Spaziergänger, der die Leiche entdeckt hatte, nahm ich an. Er wirkte verdrossen, was seine vom dampfenden Heißgetränk beschlagene Brille noch verstärkte. Wahrscheinlich harrte er schon viel zu lange in der Kälte aus. Sein Hund, ein Beagle, stand schlotternd neben seinem Herrchen und beobachtete wachsam das Geschehen. Ich stampfte mit den Füßen auf, um mich zu wärmen, während ich mich nach José umsah. Eben hatte er noch vor mir gestanden und wie alle anderen Fotos von dem Mann im Kamelhaarmantel geschossen, doch jetzt war er verschwunden. Merkwürdigerweise hatte er seinen Rucksack und die Fototasche zurückgelassen. Allmählich hörte es ganz auf zu schneien. Hinter dem Absperrband hatten die Männer es endlich geschafft, das Zelt wieder einzufangen, etwas umständlich bewegten sie es jetzt zur Leiche hinüber. Zeitgleich zuckten von der gegenüberliegenden Seite grelle Lichtblitze über die Szene, worauf mehrere Beamte losrannten, um den Eindringling dingfest zu machen. Der Mann, den ich im folgenden Tumult nicht erkennen konnte, war offenbar auf einen Baum geklettert, um von dort die Leiche zu fotografieren. Sofort stellten sich einige Polizisten breitbeinig an die...