E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Markovic / Markovic Die verschissene Zeit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7017-4663-7
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4663-7
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein einzigartiges popkulturelles Spiel mit dem Belgrad der Neunziger – und zugleich ein verrückter Wettlauf gegen eine Zeit, die die Gesellschaft eindeutig verschissen hat.
Belgrad, 1995: Marko, seine Schwester Vanja und Kasandra aus der Roma-Siedlung leben im "riesigen psychowirtschaftlichen Desaster" der 90er-Jahre – einem Teufelskreis aus Armut, Gewalt, Inflation, Drogen und neuen Technologien. Doch gibt es in diesem genialen Roman auch Gangs und Dealer, einen verrückten Wissenschaftler und eine Zeitmaschine, eine Balkan-Pop-Ikone und schrägen Sex, es gibt Bombardements und Zerstörung, aber auch Musik und Freundschaft. Und als die drei Jugendlichen in das Kriegsjahr 1999 katapultiert werden, begreifen sie, dass sie ihre Stadt aus den verheerenden 90ern befreien müssen. In einer rasanten Verfolgungsjagd versuchen sie, den Schlüssel zur Zeitschleife zu finden und Geschichte neu zu schreiben.
Autoren/Hrsg.
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1999
Stell dir vor, du gehst mit einem Schmerz ins Bett und schläfst ein. Und wenn du in der Nacht nicht plötzlich stirbst und auch sonst nichts Außerordentliches geschieht, tritt am nächsten Morgen, sobald du aufwachst, eine kurze Niemandszeit ein, in der sich entscheidet, ob alles vorbei ist und du den Schmerz als Zufall abstempeln und dein Leben weiterführen kannst, oder ob der Schmerz wieder zu dir findet und den heutigen mit dem vergangenen Tag verbindet (wie bei einer Krankheit). Stell dir jetzt vor, zwischen diesen beiden Tagen sind Jahre vergangen und der Schmerz, der die Verbindung herstellt, ist eigentlich dein Bewusstsein. Guten Morgen. Alles ist anders. Das Erste, was du wahrnimmst, sind ein lauer Wind und irgendwo in der Ferne die dumpfen Hiebe eines Teppichklopfers. Durch ein offenes Fenster gelangen die Geräusche einer kleinen, abgelegenen Straße zu dir. Nur selten fährt ein Auto vorbei. Kein Nachbarvogel schreit in unerträglichen Frequenzen wie an jedem anderen Morgen, es ist keine dieser nicht endenwollenden Autoalarmsirenen zu hören wie sonst immer in der Gegend der Žarka Pucara. Aus dem Radio dringt leise ein Song: And it goes fast / You think of the past. Du hörst Schritte auf dem Gehsteig, wie sie näher kommen und sich entfernen. Suddenly everything has changed. Normalerweise kannst du in deinem Zimmer im 12. Stock keine Schritte auf der Straße hören, weil du zu weit oben wohnst. Suddenly everything has changed. Mach die Augen auf. Ein Sonnenstrahl trifft dich direkt auf die Stirn. Das Gefühl ist gut, du magst die Sonne und wirst nie, auch nicht später in deinem Leben, zu den Menschen gehören, die über Hitze klagen, aber die Temperatur passt nicht, denn gestern noch war tiefer Winter, deine Zehen waren erfroren. Jetzt ist draußen das schönste Wetter, außerdem bist du offensichtlich nicht zu Hause. Das Zimmer, in dem du dich befindest, kann nicht dein Zimmer im Hochhaus Žarka Pucara 15 sein. Dieses hier hat zwei getrennte Betten, und jede freie Wand ist mit Büchern und gerahmten Gemälden bedeckt. Es gibt einen dicken, blutroten Teppich mit orientalischen Mustern, und die Möbel sind alt, bürgerlich, von hoher Qualität, besonders im Vergleich zu euren 70er-Jahre-Spanplattenmöbeln im Kindergartenstil. Die letzten Szenen vor dem Einschlafen fallen dir wieder ein. Du warst im Hof von Gana Savic, und der Himmel rollte sich zu einem Strudel ein. Dir wurde schlecht. Das ist übrigens offenbar das Einzige, das seit gestern gleichgeblieben ist. An die Übelkeit wirst du dich gewöhnen müssen, sie wird dich in den nächsten Tagen begleiten. Automatisch wiederholst du deine Angstgeste, ziehst an deinen Ohren und ertastest dabei einen Ohrring, wo gestern keiner war, weil du gestern auch noch keine Löcher in den Ohrläppchen hattest. Herzklopfen bahnt sich seinen Weg in den Vordergrund und hallt in deinem Schädel. Steh auf und versuch, dich im Bildschirm des ausgeschalteten Fernsehers zu betrachten. Die Person, die du verschwommen siehst, ist älter als du und hat eine seltsame Frisur mit kurzen, hinten aufgestellten Haaren wie ein Vogel. Wenn du die Hand bewegst, bewegt die Person im Bildschirm ihre Hand und streichelt über die harten, blondverbrannten und mit viel Gel fixierten Vogelhaare. Natürlich bist du das, niemand anderer kann in deinem Spiegelbild sein. Jetzt suchst du aufgeregt nach einem echten Spiegel und findest tatsächlich einen kleinen Kosmetikspiegel auf dem Tisch. Vor deinem eigenen Gesicht erschrickst du einigermaßen. Und obwohl du sehr viele andere Fragen hast, obwohl du nicht verstehst, was passiert ist, wie du hierhergekommen und älter geworden bist, warum der Frühling den Winter so abrupt ersetzt hat etc., plagt dich dein Spiegelbild am meisten. Eventuell sind dir diese anderen Probleme auch zu groß und abstrakt. Du versuchst zwar automatisch, mit den vorhandenen Elementen der Realität zu arbeiten, aber nicht alles Vorhandene kannst du akzeptieren. Früher hast du dich oft in deinem kleinen Handspiegel mit dem Holzrahmen angesehen und versucht, dir die Zukunft auszurechnen. Es gab ein paar Anzeichen dafür, dass du, sobald deine akuten Probleme wie Blässe, Zahnspange, schlechte Frisur, mangelndes Selbstbewusstsein und Armut (= schlechte Kleidung) überwunden wären, sehr schön würdest. Spätestens mit 16 würdest du eine strahlende, goldene Schönheit werden mit Haaren, die im Wind flattern, egal bei welchem Wetter, aber stattdessen bist du in einem Zimmer aufgewacht, das du nicht erkennst, und hast Akne, wie der Spiegel unmissverständlich zeigt. »Tausend geplatzte Schwänze!« Dein Gesicht ist rot, deine Nägel sind bis zum Fleisch zurückgebissen. Auf dem Glastisch liegen lange Papers und ein Notizheft mit dem Titel »Tagebuch der Bombardierung von Vanja Dimic«. * Willkommen in deiner Zukunft! Noch glaubst du es nicht, aber laut Tagebuch befindest du dich im Jahr 1999, und auch dein Körper ist vier Jahre älter, während du im Kopf dieselbe Person bist wie gestern. Das Letzte, woran du dich erinnerst, ist der Strudel im Hof von Gana Savic. Und du weißt nicht, wie und ob du es von dort nach Hause geschafft hast. Alles andere bis zu diesem Vormittag ist ein Riesenloch. Im Jahr 1999 herrscht ein Ausnahmezustand, sonst ist manches besser, als du es kennst, manches schlimmer und manches wie immer. Sieh dir das Tagebuch an. Deine Handschrift ist komplett verfallen, die zittrigen Kritzeleien schillern an der Grenze zum Unlesbaren, trotzdem erfährst du aus dem zu einem Drittel vollgeschriebenen Notizheft ein paar nützliche Informationen: Es ist anscheinend April. Belgrad wird bombardiert und du hast deine Brille verloren. Du hast einen Boyfriend namens Vlada, dessen Kleidungsstil dich angeblich abstößt und bei dem in Zemun du dich offensichtlich befindest. Er ist nicht zu Hause. Sofort möchtest du dieses Zimmer verlassen, um in deinen vertrauten Stadtteil Banovo brdo zurückzukehren. Du möchtest nach Hause, in der Hoffnung, dass deine gewohnte Welt noch dort ist, auch wenn das unwahrscheinlich ist, so wie du damals die Katze Sivko zu Hause gesucht hast, obwohl du eigentlich gesehen hattest, wie der Mischling Blacky ihr den Rücken gebrochen hatte und mit ihr tief in den Park gelaufen war. So wie du jetzt immer wieder dein Gesicht berührst, um nachzusehen, ob die Aknesituation sich verbessert hat, auch wenn das nicht sein kann, und die Entzündungen dadurch nur schlimmer werden. Du versuchst, so viel wie möglich über deine neue Lage herauszufinden, das Tagebuch hat aber leider eher literarische Ambitionen als informativen Charakter. Tagebuch der Bombardierung von Vanja Dimic Vanja Dimic, Vaki, Vaki, Vaki + Vlada Vaki Kiva Wahnsinn. 24. 03. 1999 Im Lift auf dem Weg in den 12. Stock habe ich versucht, den üblichen Spuckegeruch auszublenden, trotzdem kam es mir hoch. Mein Walkman mit dem ersten Darkwood-Dub-Album war möglichst laut aufgedreht, aber die Sirene übertönte die Musik problemlos. Nachdem die Nachbarinnen vom 13. Stock im Treppenhaus schreiend an mir vorbeigerannt und zu Fuß die Treppe hinuntergehetzt waren und meine Mutter gesagt hatte, es sei Krieg, suchte ich die Fernbedienung, um mein Schicksal aus dem Fernseher zu erfahren. In RTS lief Puppentheater, und das nahm ich als Beweis dafür, dass alles okay sei, was aber ein Irrtum war, weil bald darauf eine Männerstimme das Programm unterbrach: Heute hat die NATO eine Invasion auf die Sozialistische Republik Jugoslawien begonnen. Ein souveränes Land wurde angegriffen gegen alle Prinzipien und Normen des internationalen Rechts. Die Regierung ruft alle Bürger, die Armee, die Polizei und alle anderen Verteidigungssubjekte dazu auf, ihr Verfassungsrecht auszuüben. Danach ändert sich das Fernsehprogramm. Ein rustikales Musikvideo mit dem Namen Wir lieben dich, unsere Heimat wird zum ersten Mal abgespielt. Der Text ist so trashig und unspezifisch patriotisch, ein echter Brainwash, ein Überfall, ein Akt des Vandalismus gegen souveräne, unabhängige Leute wie mich. Und es wird so oft gespielt, dass ich es am Abend schon auswendig kann. Das Lied ist ein unguter Ohrwurm und das offizielle Musikstück zur Verteidigung gegen die Operation Allied Force. Jahrhundertealte Wahrzeichen zieren unsere Truppen, die dreifarbige Fahne flattert an der Spitze, deine und meine. Mit ihren Blicken umarmen die Piloten die Siedlungen und fruchtbaren Felder. Im Hafen ruft den Matrosen die unendliche blaue Meeresweite. Die Liebe wird mit Liebe zurückgezahlt. Wir lieben dich, unser Vaterland. Mit uns bist du sicher, mit uns bist du stärker. Mit deinem Namen im Herzen schreitet auch deine Armee voran! Die Bilder der Soldaten, die im Video aus Hubschraubern springen und in einem Feld landen, wo eine Braut sich um ihre eigene Achse dreht, bereiten mir Unbehagen, ich starre den Fernseher an....