E-Book, Deutsch, 347 Seiten
Reihe: Reclam Taschenbuch
Marquard Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays
2. Auflage 2020
ISBN: 978-3-15-961714-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reclam Taschenbuch
E-Book, Deutsch, 347 Seiten
Reihe: Reclam Taschenbuch
ISBN: 978-3-15-961714-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Odo Marquard (1928-2015) gilt zu Recht als einer der scharfsinnigsten Essayisten unter den Philosophen. Sein ebenso pointierter wie polemischer und humoristischer Stil prägt sein Werk, das er selbst mit einem Augenzwinkern als 'Transzendentalbelletristik' bezeichnet. Die Möglichkeiten der Philosophie sah er kritisch, sprach von Kompetenzverlust und schuf das Wortungetüm 'Inkompetenzkompensationskompetenz' für die Bemühungen des Faches. Ironisch führte er aus, 'Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt'. Unverrückbar verteidigte er die Geisteswissenschaften. Den Menschen versteht er als Mangelwesen, als homo compensator. Marquard erhielt wichtige Preise, etwa den hochangesehenen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa sowie den Cicero-Rednerpreis. Dieser Band versammelt 17 zentrale und bleibende Texte aus seinem Werk. Das Nachwort von Franz Josef Wetz würdigt die philosophische Lebensleistung Marquards.
Odo Marquard (26.2.1928 Stolp - 9.5.2015 Celle) war Professor für Philosophie an der Universität Gießen. Zuvor hatte er Philosophie, Germanistik und Theologie an den Universitäten Münster und Freiburg studiert. Von 1984 bis 1987 war Marquard zudem Präsident der ?Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland?. Marquard gilt zu Recht als einer der scharfsinnigsten Essayisten unter den Philosophen. Sein ebenso pointierter wie polemischer und humoristischer Stil prägte sein Werk, das er selbst mit einem Augenzwinkern (in Anlehnung an Immanuel Kant) als 'Transzendentalbelletristik' bezeichnete. Die Möglichkeiten der Philosophie sah er kritisch, sprach von Kompetenzverlust und schuf das Wortungetüm 'Inkompetenzkompensationskompetenz' für die Bemühungen des Faches. Ironisch führte er aus, 'Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt'. Unverrückbar verteidigte er die Geisteswissenschaften. Den Menschen verstand er als Mangelwesen, als homo compensator. In philosophischer Skepsis befasst sich Marquard in 'Abschied vom Prinzipiellen' mit der Endlichkeit des Menschen. Sammlungen seiner Essays liegen etwa unter den Titeln 'Zukunft braucht Herkunft', 'Philosophie des Stattdessen', 'Individuum und Gewalteinteilung' oder 'Skepsis in der Moderne' vor. Marquard erhielt wichtige Preise, etwa den hochangesehenen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa sowie den Cicero-Rednerpreis.
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Inkompetenzkompensationskompetenz?
Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal. Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber. Es mag unangebracht erscheinen, einen festlichen Anlass – und nun gar einen zu Ehren von Herrn Krings – mit der Assoziation eines Henkerwettstreits zu belasten. Indes: hier sind schließlich Philosophen versammelt, und die, im Zweifelsfall, wissen, wovon ich rede. Zwar ist es – denn das ist immerhin das Handwerkszeug von Philosophen – unbestreitbar, dass sie Köpfe haben und, wenn ich mich selber einmal ausnehme, unbestreitbar, dass sie Köpfe sind. Aber wie fest sitzen diese Köpfe? –: Das ist – real oder wenigstens, und vielleicht dringlicher noch, metaphorisch – die Frage dort, wo über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie auf Geheiß der Ausrichter gesprochen werden soll und wo dabei – und dies dann ganz zwangsläufig – von dem Schicksal der Decapitatio der Philosophie durch radikale Reduktionen ihrer Kompetenz die Rede sein muss in Verbindung mit der Tatsache, dass die Philosophie ihren Kopf offenbar immer noch oben trägt. Ich möchte meine einschlägigen Erwägungen in zwei Abschnitten vorbringen: der erste Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Kompetenzreduktion; der zweite Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Reduktionskompensation. 1. Zunächst also – in einigen pauschalen Andeutungen – über die Reduktion der Kompetenz der Philosophie. Was bedeutet dabei Kompetenz? Ich verhalte mich – ohne philologischen Kontakt zum Thesaurus, der das Wort im Wortfeld der Rivalität ansiedeln mag, ohne juristischen Kontakt zu terminologiegeschichtlich arbeitenden Rechtsgelehrten, ohne biologischen Kontakt zu Blastemforschern, ohne linguistischen Kontakt zu Chomsky, ohne kommunikativen Kontakt zu Habermas – zum Begriff der Kompetenz vorerst möglichst vage: Kompetenz hat offenbar irgendwie zu tun mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft und damit, dass Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft sich in Deckung befinden, womit gerade bei der Philosophie von Anfang an nicht unbedingt gerechnet werden kann; denn schon immer hat es Philosophien gegeben, die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit waren: Ob dieser Befund für die Philosophie total und schlechthin zutreffend sei: vor zweitausend Jahren wäre das keine diskutable Frage gewesen; heute ist es eine; und so kommt in diese Überlegung gleich zu Anfang die Geschichte hinein in Bezug auf die Philosophie und ihre Kompetenz. Was ihre Kompetenz sei, sagt ihr nur ihre Geschichte; die aber sagt der Philosophie, dass es einen Fortschritt gegeben habe in der Abnahme ihrer Kompetenz: die Philosophiegeschichte ist die Geschichte der Reduktion der Kompetenz der Philosophie. Und hier ist sie, diese Reduktionsgeschichte, und zwar eiligkeitshalber formuliert als spekulative Kurzgeschichte: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und das lief so: Die Philosophie wurde im Laufe ihres beschwerlichen Lebens mindestens dreimal aufs äußerste herausgefordert, dabei überfordert und so schließlich erschöpft, ausgezehrt und – von Kompetenten, also Mitbewerbern: und zwar hier in Dingen Kompetenz – aus dem Rennen geworfen. Da war – früh: nämlich von der Bibel her – die soteriologische Herausforderung, und da waren – spät: nämlich bürgerlich und pseudonachbürgerlich – die technologische und die politische Herausforderung. Die soteriologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, zum Heil der Menschen zu führen, aber das – und dies zeigte sich, als das Christentum die Philosophie überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre Heilskompetenz geschehen, und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla theologiae. Die technologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum Nutzenwissen der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die exakten Wissenschaften die Philosophie überboten – konnte sie nicht: so war es um ihre technologische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla scientiae, als Wissenschaftstheorie. Die politische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum gerechten Glück der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die politische Praxis die Philosophie, sei es durch Aktivität, sei es durch Sinn fürs Tunliche, Mögliche und Institutionelle überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre politische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla emancipationis, als Magd (oder sagen wir wegen der Gleichberechtigung: als Knecht) der Emanzipation, als Geschichtsphilosophie. Im Zuge der Geschichte dieser Überforderungen und Verluste ist es auch zweifelhaft geworden, ob es sinnvoll ist, das, was an Zuträglichkeiten für Heil und Technologie und Politik in der Philosophie immerhin anzutreffen war und vielleicht ist, zum Separatum zu stilisieren: ich bezweifle, dass es mehr ist als ein frommer Wunsch der Philosophenprofis, dass die Philosophie den gesunden Menschenverstand und die nüchterne Vernunft gegen die, die sie aus ihrer tagtäglichen Wirklichkeit eigentlich haben sollten, retten müsste und – falls es wirklich nötig wäre – retten könnte. Es gibt natürlich Leute, die die Philosophie als Amulett betrachten, das gegen Irrwege schützt; jedoch – genau umgekehrt wie bei jenem Hufeisen, das in einer bekannten Anekdote bedeutsam ist, die von Niels Bohr erzählt wird – die Philosophie nützt auch und gerade dann nichts, wenn man an sie glaubt. Damit ist jener Sektor berührt, in Bezug auf den die Philosophie das Kompetenzmonopol ohnehin niemals hatte: die Lebensweisheit. Wo es um ihre Äußerung geht, waren schon immer mindestens die Dichter ihre Konkurrenten. So scheint auch eine Spezialität gefährdet, die die Philosophie hat, wo man definieren kann: Philosophie, das ist die Altersweisheit der noch nicht Alten: Simulation von Lebenserfahrung für die und durch die, die noch keine haben. Hier wird der biologische Prozess zum Angriff auf diese Kompetenz: immerhin werden sogar Philosophen älter, wenn man es auch manchmal nicht merkt, und dann können sie – das vermute ich einstweilen nur und auch nur manchmal – Philosophie durch wirkliche Altersweisheit ersetzen und brauchen die Philosophie nicht mehr. Indes: Lebenserfahrung zu sein für die, die noch keine haben, Altersweisheit der noch nicht Alten zu sein: das ist schließlich nicht nur eine mögliche Teildefinition der Philosophie, sondern die wirkliche Teildefinition der Geisteswissenschaften dort, wo diese das Pensum haben, zu erinnern, und gerade darum jetzt – und das ehrt sie – angefochten sind: denn wo riskant reformiert wird, ist man plausiblerweise daran interessiert, sein Risiko bei der Erfolgskontrolle zu mindern durchs Verbot der Erinnerung. Erinnert die Philosophie besser als die Geisteswissenschaften? Doch wohl kaum: und so ist ihr in diesen erinnernden Wissenschaften, auf die die Philosophie wegen ihres sonstigen Kompetenzverlusts seit dem vorigen Jahrhundert setzte, ein Kompetent erwachsen, der ihre vielleicht letzte Kompetenz in Frage stellt: die Erinnerungskompetenz. Offenbar laufen die Kompetenzen der Philosophie aus, so dass sie bei der Inkompetenz endet. Das heißt nicht, dass sie bei all diesen Fragen gar nichts mehr zu sagen hätte; aber sie ist überwiegend zum aussichtslosen Kompetenten geworden, günstigstenfalls zur zweiten Besetzung: und was nützt es, die zweite Besetzung zu sein, wenn die erste wirklich gut und überdies niemals indisponiert ist. Die Philosophie: sie ist zu Ende; wir betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie. Was tun? – ich zitiere hier nicht Lenin, sondern Schillers »Teilung der Erde« – Was tun, spricht Zeus, die Welt ist weggegeben; – aber der einzige konstruktive Hilfsvorschlag, den Zeus – bei Schiller – dann machte, der war an die Dichter gerichtet und eben nicht an die Philosophen: gerade den Philosophen hilft er nicht. So bleibt es dabei: Der Bericht zur Lage der Kompetenz der Philosophie, das ist eine Orgie der Fehlanzeigen. Freilich: stimmt das nun wirklich und muss das so sein? Ich gebe gern zu: es mag Residualkompetenzen geben für die Philosophie, vielleicht sogar beträchtliche, womöglich nicht nur residuale, indes: darüber zu sprechen fehlt mir – mir ganz persönlich – die Kompetenz; denn dafür bin ich nicht zuständig, dazu bin ich nicht fähig, dazu bin ich allenfalls bereit, und lassen Sie mich das kurz erläutern. – Ich bin nicht zuständig, und zwar mindestens aus Gründen...