Martinson | Schwärmer und Schnaken | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Martinson Schwärmer und Schnaken

Naturessays
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-945370-81-0
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Naturessays

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-945370-81-0
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Harry Martinson (1904-1978) schrieb, als Europa - auch Schweden - Ende der 1930er Jahre unmittelbar vor dem verheerenden Weltkrieg stand, mehrere Bände mit Reflexionen, Beschreibungen und Bildern der Natur. Ob Mohnkapseln, Baum-Weißlinge, Wasservögel, der Geruch der Erde oder der Winterfrost in den Fichtenwäldern - noch dem kleinsten Detail wird eine persönlich gefärbte Erkenntnis abgetrotzt. Doch er belässt es nicht bei der Beschwörung der schönen Natur: Im erfassenden Erschreiben begibt sich Martinson auf die Spur des Verhältnisses des Menschen zu seiner Umwelt; zu den Tieren, den Pflanzen und der Landschaft - aber auch zum Blick auf die Natur, zu ihrem Gebrauch und nicht zuletzt zu ihrem bewahrenden Schutz. Die Natur in 'Schwärmer und Schnaken' ist keineswegs nur Idylle, sie ist Spiegel sowohl für Martinsons Innenwelt als auch für das, was um ihn herum vor sich geht. Politisch, biologisch, gesellschaftlich: Mensch und Natur stehen in einer Beziehung zueinander. Unser Blick formt die Natur und bildet sie erst, die Natur wiederum schult unser Auge und zwingt es zur Genauigkeit. Klaus-Jürgen Liedtke hat eine Auswahl aus den Naturtexten zusammengestellt und in eine Sprache übertragen, die Harry Martinsons komplexe Betrachtungen und wortmächtige Ausmalungen auch im Deutschen zu einem reichen Lektüreerlebnis werden lässt. Die dichten Beschreibungen sind Glanzlichter der Sprachkunst, mit einer präzisen Formulierung das Wesen einer Erscheinung zu erfassen. 'Hört mir zu, ich wispere aus dem Bach', steht an einer Stelle. Martinson folgt dieser Aufforderung, er entziffert die Natur und lauscht ihr ihre Geheimnisse ab.

Harry Martinson (1904-1978), Sohn eines ehemaligen Kapitäns und bankrotten Ladeninhabers, wuchs in Jämshög in Blekinge auf und verlor seinen Vater im Alter von sechs Jahren. Während die Mutter nach Kalifornien auswanderte, wurden Martinson und seine Geschwister als 'Verdingkinder' von Jahr zu Jahr reihum auf Bauernhöfe gegeben. 16-jährig heuerte Martinson als Matrose an, 1927 kehrte er lungenkrank nach Schweden zurück. Sein erster Gedichtband 'Das Geisterschiff' erschien 1929. Im selben Jahr heiratete er Helga Maria Swartz, die 1933 als Moa Martinson ihr literarisches Debüt gab. Martinson hatte mit Gedichten, Romanen und Reisebeschreibungen vor allem Erfolg bei der jüngeren Generation. Er ließ sich bei Stockholm nieder, doch der Nomadentrieb blieb ihm erhalten - immer wieder ging er auf Wanderschaft. In den späten 1930er Jahren verfasste er drei eigensinnige Bände mit Texten über die Natur. 1974 erhielt er, gemeinsam mit Eyvind Johnson, als Mitglied der Schwedischen Akademie den Nobelpreis für Literatur. Trotz großer Beliebtheit beim Publikum waren etliche seiner Werke umstritten. Martinson, bekennender Buddhist, beging schließlich während eines Krankenhausaufenthalts Suizid mithilfe einer Schere.

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WASSERBRIEF
Eigentlich hätte ich über Fische schreiben wollen, doch fällt mir auf, dass ich darüber nicht allzu viel zu sagen habe. Andere können besser über Fische schreiben als ich. Als Seemann auf Kauffahrern sieht man vom Leben der Fische nur wenig. Die empfindlichsten Fische werden verschreckt vom Propellerzittern im Wasser und vom Verklappen von Öl, lange bevor der Kurs des Schiffes in ihre Ruheplätze im Meer sticht. Denn das Meer ist ein ungemein wachsames, feinfühliges Element, in dem sich alle Geräusche tief unter dem Grund der Wellen fortpflanzen und vergrößern. Ein stotternder Dieselhusten in einem modernen Schiff lässt die empfindlicheren Fische hinter die Horizonte fliehen, wodurch das Schiff sich in einem reichlich ärmlichen Umfeld bewegt. Fische, die innerhalb des über das Meer kriechenden Gesichtskreises des Schiffes zurückbleiben, gehören vermutlich zu den grobschlächtigeren, weniger zartbesaiteten. Aber das Meer ist reich, und selbst ein Kohlendampfer mit seiner stampfenden Maschine bekommt noch mancherlei zu sehen und zu erleben. So entsinne ich mich einer ungeheuren Schule springender Wale, die unser Schiff mitten auf dem Nordatlantik ganze neunzehn Stunden lang umschwärmte. Es war ein bleigrauer Tag, stark wogige See und hastig jagende Wolken. Das Meer roch nach isländischen Sagas, und jede Welle, die heranrollte, schien jegliche Geschichte aufzuheben und uns – der Stimmung nach – zurückzuversetzen in eine amorphe, schicksalsschwangere Urzeit. Doch war es wie gesagt wohl nur eine Stimmung, niemand kann sich ja tatsächlich vollständig losreißen von sich selbst, seiner Verwurzelung, seiner Herkunft oder Zeit, seiner Aufgabe. Immer wird uns etwas aus unserer Volksschule auch aufs Meer hinaus begleiten. Die Schule trieb den ersten Keim aus der eigenen Seele, den Keim zu dem, was einem dann zur eigenen Stimmungswelt wurde. Somit wurden die springenden Wale, die neunzehn Stunden lang das Meer in einen stürmischen Mangrovensumpf mit lebenden, nach oben gespreizten Wurzeln verwandelten (so nehmen sich die Bogensprünge der Wale aus, wenn sie zu Abertausenden kommen), zu einer Hochblüte der Volksschule, einer phantastischen, anmutigen Schautafel der Wirklichkeit, die der Ozean selbst, tausend Meilen breit, in die weiterhin andauernde Schulstunde schob. Lediglich Lehrer Stav, der tot war, und die aus Holz aufgeführte Schule mit ihren wehmütig quietschenden Holzbänken waren nicht mit dabei, aber Stavs Vertreter, die Abenteuerliteratur und der wogende, wirkliche Ozean kamen herangeschossen und setzten die Schulstunde fort, die einst in der Dorfschule von Ekbacken ihren Anfang genommen hatte: einem gewöhnlichen, rechtwinkligen Holzhaus im Süden von Schweden. Stav sprach ziemlich häufig über das Meer, und er erwähnte auch die springenden Wale. Hier kamen sie nun, zuhauf. Eine Herde, neunmal so groß wie das gesamte Kirchspiel, in dem die Schule stand. So etwas ist Teil der Wunder der Welt und des Lebens. »Ja, in höchstem Maße, Kinder«, hätte Stav gesagt. Schade, dass er, gebunden an seine Schulzeit und seinen Schulort, nicht mit dabei sein und mit ansehen konnte, wie das Leben sich wirklich ausnahm an diesem äußersten Zipfel seiner Schule. Bisweilen kommt es mir vor, als wäre aus mir nie mehr als ein Kind geworden. Dann meine ich in einer Weltenschule zu sitzen, einem gewaltigen Bau mit Pfählen in allen Weltteilen. Stav befühlt den erkalteten Ofen und sagt: »Hier ist es kalt, Kinder, macht mal die Fenster zum Stillen Ozean auf!« Das tun wir, oder wir legen ein paar Holzscheite der gewaltigen Douglasien aus Britisch-Kolumbien nach. Denn im Gegensatz zu einer ganzen Reihe von Kindern habe ich die Schule geliebt. Und das hatte ja seine guten Gründe, sie war eine Freistatt, und diese Freistatt wurde durch Stav nur noch lebendiger. Er konnte die Karte an der Wand ergrünen lassen. Typisch für ihn war eine Bemerkung wie: »Die Landkarte hängt, Kinder, aber deshalb hängt nicht das Land. Stellt euch lieber einen Fußboden vor als eine Wand, wenn ihr draufschaut. Ich sag euch das, weil ich weiß, dass Karten, die hängen, ohne dass man es ahnt, dazu führen, einem ein übertriebenes Gefühl für die Begriffe oben, unten, Süden und Norden einzugeben, Kinder.« Auf diese Weise breitete Stav das hängende Skandinavien vor unseren Füßen aus. Doch breitete er es nicht aus, um es dann platt wie ein Stück Sackleinen liegen zu lassen, dazu war er ein viel zu guter Lehrer. In geduldigen Wendungen erklärte er die Erdkrümmung, er wollte uns das klare, planetarisch richtige Bild vor Augen führen. Er wollte, dass wir wirklich auf der Erde stünden, wie er sagte: »vor allem, Kinder, im Geländebewusstsein«. Oft errichtete er in seinen Unterrichtsstunden Türme schwindelerregender Phantastik, um danach alles wieder geschickt in ausgewogene Dimensionen zurückzuholen. Er lebte mit in dem, wovon er sprach. Wenn er vom Meer sprach, hörte man es sehr deutlich schwappen, und vom Gipfel des Kilimandscharo herab hielt er einmal eine glänzende Rede über junge Bambuswälder und Antilopen. Ein anderes Mal, unten in der Ebene des Fußbodens, sprach er, obwohl selbst aus Västergötland stammend, mit annähernd schonischem Dialekt über die Zuckerrübe. Ja, Stav war ein lebendiger Mensch, und nach seinem Tod schaukelte mir seine Schule, von ganzer Seele dankbar erinnert, auf dem Meer umher. Sie wurde grenzenlos, ihre Lektion unendlich. Nach und nach öffnete sie sich hin zum Leben, wie es ist, wie es wirklich ist, doch auch hier konnte man in gewissem Maße die Stimme der Volksschule »wie durch sehr viel Wasser« hindurch hören, bis sie zuletzt verstummte. Doch verstummte sie spät. Die Schule im Dorf war mir einst eine Rettungsinsel gewesen. Seither gab es keine wirklich tiefen Gründe, sie zu verachten. Zwar mag es egoistisch und süß scheinen, doch in der Lebenswelt der Erinnerungen bleibt das Ich, ob man will oder nicht, die erste Staatsmacht. Sich selbst retroaktiv auszulöschen und seine vergangenen Vorlieben zu verbergen, ist reine Lebenslüge, dann ist es schon besser, alle Erinnerungen zu verschweigen. Erzählt man Erinnerungen ohne die Absicht, möglichst wahrheitsgetreu und schöpferisch zu sprechen, so ist man nicht mehr als ein Narr. Wer den Egozentriker verneint, lügt sich aus vollkommen nichtigem Grund die Hucke voll. Durch die eigene Unzulänglichkeit spürt man die der anderen, aber ein Ich-Problem bleibt es gleichwohl. Ja, auch Proteste werden schließlich zu Bumerangs gegen die Selbstverlogenheit des Ichs. Zuweilen verspürte ich eine solche Dankbarkeit gegen Stav, dass ich ihn zwischen Männer wie Columbus, Magellan, Livingstone, John Ericsson, Sitting Bull, den Schinderhannes der Schnapphähne und Jack London einordnete. Eine seltsame Mischung, mag man meinen, doch so war es. Die weiße Rasse ist eine überaus literarische Rasse. Eine glückliche, wenn auch mehrheitlich unglückliche Tatsache. Die Helden und Götter sind wie Pflanzen in Bücher gepresst, und was immer meine Beziehung zu Helden und Göttern betrifft, so spielte Stav die Rolle des ersten Schamanen. Wie beispielsweise, als ich zum ersten Mal auf den Passat traf. Wie literarisch war der denn? Wie deklamatorisch jagte der nicht auf die Antilleninseln los? Und so war es mit beinah allem – mit Ausnahme des Tabubelegten, doch wie auch immer, akzeptierte man diese Ambivalenz ziemlich lange: bewegte sich doppelt und wunderlich mit der einen Hälfte der Seele im Abenteuer, mit der anderen in seiner privaten Finsternis. Denke ich an Stav, sehe ich Bilder vom Meer. Er war nicht dabei und irgendwie doch. Es sind Bilder, die gleichsam außerhalb des privaten, persönlichen Geschehens liegen, ja, außerhalb vom Weg der Seele durch Welt und Zeit, Bilder, in denen man angesegelt kommt wie ein vorüberschweifender, zufälliger Gast. Das Schiffsdeck dient bei solchen Anlässen lediglich als Zuschauertribüne, die in plötzlich auftauchende Arenen treibt. Für die Besatzung auf dem kleinen dänischen Segler, der seinerzeit mitten in die Nordseeschlacht geriet, muss es sich seltsam angefühlt haben. Plötzlich befand er sich zwischen kanonenspuckenden Horizonten, und ihm blieb nichts anderes als zu versuchen, aus diesem Kessel vorsichtig herauszukreuzen. Doch auch weniger historische Begegnungen können zu Beispielen für die unendliche Lektion werden, in der der Stav von der Volksschule noch nach seinem Tod weiterspukt. Mitunter schien mir die Back mit dem Ankerspill zu einem Katheder zu werden, dort hockte Stav selig als Matrose oder Donkeyman und machte einfach weiter. Das Leben aber hatte mehrere Ebenen, die sich überschnitten, und nur auf einer dieser Ebenen saß Stav, während ich selbst, der keine Ruhe hatte, von der einen zur anderen jagte. Das machte es natürlich vielfach verwirrend und am Ende völlig verwirrend. Mehr als einmal war ich kurz davor, irgendwo ins Meer zu springen, um dies Leben zu verlassen, wenn die eine Ebene der anderen in die Quere kam, wie Stav es nie vorhergesagt hatte. Die Folge war, dass ich...



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