Matt Sieben Küsse
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25623-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Glück und Unglück in der Literatur
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-446-25623-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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I DAS WISSEN VOM GLÜCK UND DIE FRAGE NACH DER ZAHL DER KÜSSE Das Wissen vom Glück bringt das Gegenteil hervor. Das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das vom Glück weiß, trägt diese Erkenntnis mit sich herum wie ein Messer in der Brust. Es schmerzt nicht immer, aber es macht unruhig. Die Folge ist, dass der Mensch, um Pascals berühmte Diagnose zu zitieren, nicht fähig ist, gelassen in einem Zimmer zu bleiben – … de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre.1 Selbst der König, der doch alles habe, was der Mensch nur besitzen kann, meint Pascal, brauche vom Morgen bis zum Abend eine Menge Leute um sich herum, die für Betrieb und Unterhaltung sorgten, damit er keinen Moment für sich allein sei. Dann wäre er nämlich gezwungen, an sich selbst zu denken, und würde auf der Stelle in Trübsinn verfallen. Für Pascal ist alles, was der Mensch außerhalb des Zimmers sucht, divertissement, Ablenkung durch Scheinvergnügen. Das kann die Hasenjagd sein oder der Krieg, der Tanz im Ballsaal oder der Gewinn eines großen Vermögens. Dass auch die Liebe dazugehört, erwähnt er nicht; er scheint sie für das belangloseste aller divertissements zu halten. Der überwiegende Teil der Menschheit ist da anderer Meinung. Bei den Philosophen ist es zwar denkbar, dass sich eine Mehrheit auf die Seite Pascals schlägt, aber schon bei den Dichtern sieht das Glück entschieden anders aus. In ihren Werken verkörpert das einsame Zimmer an sich schon tous les malheurs des hommes, wie Pascal sagt, alles Unglück der Menschen, und die Unfähigkeit, es dort drin allein auszuhalten, beruht auf der Tatsache, dass es für den Inbegriff des Glücks, wo immer sich die Literatur dazu äußert, zwei Menschen braucht. Die Literatur hat ihren eigenen Blick auf die Welt
Das heißt nicht, dass die Literatur recht hat. Sie ist ein jahrtausendealtes Unternehmen der Welterklärung, wie die Philosophie es ist, wie die Wissenschaften es sind und auch die Religionen, die einst sogar alle andern Systeme in sich einbeschlossen haben. Wie jede von diesen dreien treibt die Literatur das große Geschäft auf ihre Weise. Auch sie fragt zwar nach den ersten und letzten Dingen, nach dem, was immer war und immer sein wird, nach den Gesetzen, die alles steuern, was auf dem Planeten geschieht, aber sie nimmt sich das Recht, die größten Prozesse gegebenenfalls an den winzigsten Wesen zu studieren. Das Universale erkennen die Dichter am schärfsten im Belanglosen. Der Tod einer Fliege kann für sie so wichtig sein wie der Trojanische Krieg. Das hängt damit zusammen, dass die Literatur ihren eigenen Blick auf die Welt hat. Dieser hat sich, im Unterschied zu den andern Systemen, nie ganz abgelöst vom Blick des Kindes. Für das Kind gibt es noch keine Ordnung der Dinge. Alles kann riesig sein oder wie nicht vorhanden. Ein Stein auf dem Weg ist kostbar wie der Rubin in der Königskrone. Er ist sogar lebendig wie ein Tier. Die Hierarchie all dessen, was ist, entsteht erst durch das unablässige Einreden der Erwachsenen auf das Kind: Das ist eklig, das ist schön, das ist verboten … Weil die Literatur noch Wege kennt hinter alle Hierarchien zurück, kann sie jederzeit verschollene Erfahrungen in uns wachrufen, Erfahrungen aus den Urzeiten des eigenen Lebens oder aus den Urzeiten der Menschheit. Für sie gilt Brechts Vers aus dem Lied von der Moldau: »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine« – wenn auch auf andere Weise, als Brecht es gemeint hat. Das Spiel mit der Gewalt des Geringen und mit der Geringfügigkeit des Gewaltigen durchzieht die Literatur. Weil sie über die Kraft der symbolischen Aufladung verfügt, kann sie alle Ordnungen umbauen; sie kann das Winzige mit drei Worten zu einer Hauptsache machen und den babylonischen Turm zu einer Dekoration im Hintergrund. Es gibt zahlreiche Begriffe für die Prozesse der symbolischen Aufladung, man redet von Metaphern und Metonymien, von Synekdochen und Allegorien, entwickelt Zeichentheorien und destruiert sie wieder, indem man irgendwann den Zeichen ihre Verweisungskraft überhaupt bestreitet. Ganze Lehrstühle leben von der Produktion semiotischer Konzepte und der Demontage ihrer Vorgänger. Die Studierenden glauben daran, richten sich danach aus, schreiben Dissertationen darüber und müssen eines Tages zur Kenntnis nehmen, dass kein Hahn mehr nach ihrer wissenschaftlichen Heilslehre kräht. Die Prozesse der symbolischen Aufladung aber wirken immerzu in allen Künsten, mit bald zarten, bald mächtigen Effekten, unabhängig vom Stand der Theoriebildung. Die Kraft, die dem Kind einst die Puppe lebendig machte und den krummen Stecken zum galoppierenden Pferd, wirkt fort in der bildenden Hand der Malerinnen und Maler, in der unerwarteten Geste des Schauspielers, in der fahrenden Filmkamera, die einen Gegenstand erschreckend heranzoomt. Was aber einmal dergestalt aufgeladen ist, kann in der Literatur ein ganzes Werk durchstrahlen und zum Schlüssel werden für dessen Geheimnisse – falls nur der Leser aufmerksam genug ist und seine Freude hat am Spiel des Verbergens und Aufdeckens. Die symbolische Strahlung mag von einem mythischen Ungeheuer wie dem weißen Wal des Kapitäns Ahab ausgehen, dem Wesen, das nicht nur einen großen Roman durchzieht, sondern diesen Roman wie aus eigener Kraft verlängert und ausdehnt, bis das Opus selber leviathanische Ausmaße erlangt hat. Sie kann aber auch in einer einzigen Erzählsekunde stecken. So erscheint in Kafkas Proceß die Schwimmhaut zwischen Mittel- und Ringfinger des Mädchens Leni nur ein einziges Mal und wie im Vorbeigehen.2 Aber das seltsame körperliche Phänomen bleibt uns bis zum Schluss vor Augen. Wir spüren die symbolische Aufladung und kommen ihr doch nicht wirklich bei, so wenigstens nicht, wie wir gewohnt sind, den Symbolen im Erzählen des 19. Jahrhunderts beizukommen. Die Menschen tragen das Wissen vom Glück immerzu mit sich herum. Sie messen daran ihre eigene Befindlichkeit und beobachten daraufhin alle andern. Sie erfinden wundersame Vorstellungen von einer ewigen Seligkeit und sind rasch bereit, andere um dieser Vorstellung willen totzuschlagen. Weil man das Paradies denken kann, muss es einmal existiert haben oder wird es sich einmal vor uns öffnen. Und wenn die religiöse Basis dieser Träume sich verflüchtigt, verflüchtigen sich doch keineswegs die Träume selbst. Sie verwandeln sich vielmehr in ein Projekt der ganzen Menschheit, die nun die Aufgabe hat, das Paradies auf diesem Planeten selbst einzurichten. Auch dafür muss man notfalls viele Menschen töten. Was wir Aufklärung nennen, ist nichts anderes als dieser Vorgang: die Abschaffung der jenseitigen Seligkeit und ihre Verwandlung in das Vorhaben, sie auf dieser gequälten Erde eigenhändig aufzubauen. Goethe hat darüber einen Roman geschrieben, Die Wahlverwandtschaften. Eine Gruppe guter, kluger, liebesfähiger Menschen will die Epochenvision vom selbstgeschaffenen Paradies in einem überschaubaren Raum mit Schloss und Dorf und ausgedehnter Natur verwirklichen. Kein Bösewicht stört die planvolle Arbeit. Dennoch endet sie schrecklich. In Szenen denken
Weil die Literatur immer konkret ist, denkt sie nicht in Begriffen, sondern in Szenen. Das Wissen vom Glück erscheint daher in der Literatur immer und immer wieder als die leibhaftige Begegnung zweier Menschen. Das Nachdenken darüber verkörpert sich in deren Geschichte und weiterem Schicksal. Was in der Philosophie Theorie ist, ist in der Literatur Handlung. Gewiss wird über diese innerhalb der Literatur auch nachgedacht, aber die Reflexionen der Figuren holen ihr Handeln nie ganz ein. Eine Szene wird symbolisch aufgeladen, und wie immer man sich darüber innerhalb und außerhalb des Textes den Kopf zerbricht, zu einem vollständig in Sprache übersetzten Verständnis gelangt man nie. Ein Beispiel ist Hamlets stummer Besuch bei Ophelia, von dem diese ihrem Vater berichtet. Hamlet ist in verwahrlostem Zustand bei ihr erschienen, hat ihr Handgelenk gefasst und sie lange wortlos angeschaut, dann hat er so tief gestöhnt, dass es durch seinen ganzen Körper lief. Schließlich hat er das Zimmer auf eine seltsame Weise wieder verlassen, so nämlich: That done, he lets me go, And with his head over his shoulder turn’d He seem’d to find his way without his eyes, For out o’ doors he went without their helps, And to the last bended their light on me.3 Danach, erzählt Ophelia also, ließ er mich los, und, den Kopf über seine Schulter zurückgedreht, schien er den Weg ohne seine Augen zu finden; denn er ging zur Tür hinaus ohne deren Hilfe und hielt den Blick bis zuletzt auf mich gerichtet. Nun wissen wir zwar, dass Hamlet zur Tarnung den Verrückten spielt, wissen allerdings nicht, ob er nicht zuzeiten die Grenze zum Wahn tatsächlich überschreitet, und vor allem wissen wir nicht, ob die Szene bei und mit Ophelia nicht trotzdem die tiefste Wahrheit über seine Beziehung zu ihr zum Ausdruck bringt. Denn diese Art, das Zimmer zu verlassen und den Weg gleichsam in Trance zu finden, den Blick in jenen von Ophelia getaucht, mutet nicht wie ein psychopathologisches Symptom an, weder ein gespieltes noch ein echtes, sondern durchschlägt dieses Zeichenfeld mit der Gewalt eines bedeutungsschweren Verhaltens. Hamlets Gang aus dem Zimmer ist ganz und gar eindeutig in seinem Verlauf und verzweifelt schwierig in seiner Aussage. Will Hamlet damit Ophelia zu verstehen geben: Ich spiele zwar den Verrückten, aber du darfst nicht glauben, dass dies etwas an meiner Liebe zu...