Mazzini / Tuttlies / Quadflieg | Wir empfehlen zum Reinlesen unsere Spitzentitel Frühjahr 2016 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 179 Seiten

Reihe: Wir empfehlen zum Reinlesen

Mazzini / Tuttlies / Quadflieg Wir empfehlen zum Reinlesen unsere Spitzentitel Frühjahr 2016

TRANSIT, EDITION NAUTILUS, LOUISODER, EDITION FÜNF, ASSOZIATION A, A1 VERLAG

E-Book, Deutsch, 179 Seiten

Reihe: Wir empfehlen zum Reinlesen

ISBN: 978-3-88747-336-5
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Neun packende, spannende, wichtige, nachdenkliche, romantische und coole Bücher - vorgelegt von sechs unabhängigen, anspruchsvollen und einfallsreichen Verlagen. Das ideale Angebot für Leserinnen und Leser, die sich oder ihre Bekannten mit ganz besonderen Büchern beschenken oder betören wollen.
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Weitere Infos & Material


Transit Buchverlag: Miha Mazzini "Deutsche Lotterie", Frauke Tuttlies "Herr Grundmann sagt Franziska, Roswitha Quadflieg "Das kurze Leben des Giuseppe M.". Edition Nautilus: Marie Malcovati "Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte". Louisoder: Rabih Alameddine "Eine überflüssige Frau", Tom Shadyak "Leben - eine Gebrauchsanleitung". edition fünf: Doris Hermanns "Wär mein Klavier doch ein Pferd. Erzählungen aus den Niederlanden". Assoziation A: Luther Blissett "Q.". A1 Verlag Christian Eloundou "König der Sonne"


2
Anfang März 1950 haben sie mich hierhergeschickt, um bei der Post zu arbeiten. Meine Altersgenossen aus dem Kriegswaisenhaus sind zum Militär gegangen, drei Jahre diente man damals, mich hatten sie wegen meines steifen Knies nicht genommen, ich war untauglich, also ließen sie mich Briefträger werden. Ja, ich weiß, es klingt seltsam, dass jemand einen hinkenden Jugendlichen vor sich haben und denken kann: Der wäre ein guter Briefträger! Es waren andere Zeiten, sozialistische, wir waren alle gleich und alle zu allem zu gebrauchen. Es gab keine Unterschiede. Heute ist es härter. Du hinkst, du kannst kein Briefträger werden. Du hast keinen Geschmack, du kannst kein Koch werden. Du bist unfreundlich und langsam, du kannst kein Kellner werden. Wenn man beginnt, die Leute nach ihren Eigenschaften einzuteilen, dann gibt es nie genug von ihnen für alle Berufe, deshalb wird einer, der unfreundlich und langsam ist, so tun müssen, als sei er höflich und schnell, um eine Stelle zu bekommen, das heißt, er wird sich selbst und andere belügen. Wir Menschen neigen zur Wahrheit und unser jugoslawischer Sozialismus hat uns das ermöglicht. Ich habe ein wenig den Faden verloren, entschuldige. Das Postamt befand sich damals noch im alten Gebäude, auf dieser Seite des Flusses, nahe der Brücke. Sie haben es schon vor deiner Geburt abgerissen, vielleicht finde ich Fotos … Ich werde bis zum nächsten Mal nachsehen. Es war klein, noch österreich-ungarisch. Eine einzige Theke an der Wand, in einer Ecke ein Häufchen Formulare. Ein paar Federn, eine Schale mit Tinte, ein Schwämmchen zum Befeuchten der Briefmarken, das immer trocken war, deshalb haben alle die Marken abgeleckt. Später habe ich mal einen Witz gehört, warum hat Präsident Tito lange Zeit nicht erlaubt, dass er auf Briefmarken abgebildet wird? Weil die Leute auf die falsche Seite gespuckt hätten. Ha, ha. Na, na. In der Mitte des Raumes hatten sie eine Trennwand gezogen, bis in Hüfthöhe aus Holz, dann Glas, ein Schalter, dahinter eine Dame … na, Genossin Leopoldina eben. Damals wurden wir alle Genossen und hätten uns duzen müssen, aber das brachte uns in Verlegenheit. Wie hätte ich diese ältere Dame, die bestimmt noch Franz Josef persönlich getroffen hatte, Genossin nennen können? Wenn ich es tat, stockte sie ein wenig, als wollte sie fragen, sprechen Sie mit mir? Wir hatten ja nicht viel Kontakt. Sie kam morgens um acht, wir Briefträger waren schon zwei Stunden vorher da, sie schloss um zwölf, kam nachmittags wieder. Guten Tag, gute Nacht, das war alles, was wir miteinander sprachen. Ich sehe sie noch lebhaft vor mir, sie kam mir vor wie eine Eule mit ihrer Brille. Wie gesagt, wir Briefträger kamen um sechs, der Verwalter stand an der Eingangstür und sah auf die Uhr, deshalb waren wir pünktlich. Er sperrte auf und wir folgten ihm im Gänsemarsch. Wir drei bogen nach rechts in den Sortierraum ab, er ging geradeaus in sein Büro. Lovro und Janez waren schon alte Briefträger, von vor dem Krieg. Lovro, der Arme, setzte sich sofort an unseren Tisch und zitterte, stöhnte leise, noch jetzt kann ich seine Finger hören, wie sie über den Tisch trommeln, wirklich, wie Regen. Er sortierte keine Post, wie sollte er auch! Janez packte ihn kurz vor sieben unter den Armen, half ihm auf die Beine und nahm ihn mit auf einen Spaziergang über die Brücke zum Wirtshaus. Nach einer halben Stunde war Lovro kaum wiederzuerkennen, so sicher und selbstbewusst ging er, und manchmal machte er sich sogar über mich lustig, nannte mich Bohnenstange und langgezogener Montag. Ich hatte inzwischen auch ihrer beider Sendungen sortiert, denn die armen Alten konnten sich ja nicht auch noch damit beschäftigen. Wie schnell und geschickt ich war! Ich konnte in Ruhe die Schlagzeilen in der Zeitung und die Bildunterschriften lesen, noch bevor die beiden zurückkamen. Ich stapelte die Post je nach Zustellbezirk, so hieß das, in senkrechte Trennfächer, in der gleichen Reihenfolge, in der wir sie dann in die Taschen legten, was wiederum die Reihenfolge war, in der wir das Gebiet abgingen. Pünktlich um halb acht kam der Verwalter in den Sortierraum und ließ seinen Finger über die sortierte Post streifen. Beim ersten Mal, als ich noch ganz neu dort war, musste er mich noch fragen, ob es etwas Besonderes gab, später sah er mich dann nur noch an und ich schüttelte den Kopf. Lovro und Janez ebenso. Der Verwalter kam mir vor wie ein Fels, sein Finger mit dem heruntergekauten Nagel wie ein roter Haken an den weißen Kuverts. Immer nur der rechte Zeigefinger. Die linke Hand verwendete er nie zu Dienstzwecken, mit ihr strich er nur sanft über seine grauen Haare, die von Brillantine glänzten. Wie leise die Kuverts knisterten, wenn er sie umbog. Er fuhr darüber und hielt an – vielleicht ein festerer Umschlag, oder einfach so? – zog ein Kuvert heraus und betrachtete es gegen das Licht. Jeden Tag sortierte er ein Bündel von ihnen aus, das er mit in sein Büro nahm. Er brachte die Briefe zurück, frisch zugeklebt, eine Minute vor acht, vor unserem Aufbruch ins Gelände. Die Stadt war damals noch nicht groß. Lovro und Janez hatten sie zuvor unter sich aufgeteilt, und als ich dann kam, übernahmen sie die neue Seite, hier, an diesem Ufer, wo man begann, Wohnblocks und eine Fabrik zu bauen, und ich trug auf der alten Seite aus, die Dorfseite nannten sie sie. Vor dem Sozialismus hatten die Bauern Unterkünfte für sich und für das Vieh auf den Hängen gebaut, die ebene und fruchtbare Erde war ihnen zu schade dafür gewesen. Das war noch vorrevolutionäres, veraltetes Kulakendenken, jetzt sind die Felder zubetoniert und asphaltiert. In meinem Bezirk standen die Häuser am Fluss noch in Gruppen, auf dem Berg aber verteilten sie sich und die Abstände wurden größer. Wenn du genau hinsiehst, wirst du selbst sehen, dass die Berge bis zu uns reichen wie die Pfoten einer Katze oder eines Hundes. Das Austragen der Post bedeutete ein einziges Bergauf- und Bergablaufen. Meine Kollegen waren alt und krank, deshalb war es nur recht, dass sie den neuen Teil mit den Wohnblocks übernahmen, wo alle Kunden auf einem Haufen wohnten und man nicht für jeden Brief von Haus zu Haus laufen musste. Ich ging in der Volksküche essen, die sie für die Arbeiter in der Fabrik eingerichtet hatten. Welch ein Fortschritt des Sozialismus, dachte ich, wenn ich vom höchsten Berg auf meinem Weg über den Zustellbezirk, über die Dächer blickte, von denen der Duft nach Mittagessen heraufstieg, in jedem Haus etwas anderes, wie durcheinander und unwirtschaftlich, jede Familie bereitet ein Essen nur für sich zu, die Volksküche aber serviert jedem das Gleiche. Wir hätten uns alle wochenweise mit dem Leeren der Briefkästen in der Stadt abwechseln müssen, aber die Kollegen hatten Familie, deshalb ging ich abends wieder zum Postamt, nahm das Dienstfahrrad und fuhr mit einem Sack durch die Zustellbezirke. Wenn das Wetter schön ist, gibt es nichts Schöneres als Radfahren – am meisten vermisse ich das Gefühl, wenn man sich aus eigener Kraft den Berg hocharbeitet. Der Wind, der Hang, alles, alles will dich aufhalten, aber du lässt es nicht zu. Schön, so schön. Nun, … Mit dem Sack fuhr ich zum Postamt zurück und teilte die Briefe in vier Stapel auf: Ausland, andere Republiken, Slowenien und manchmal noch Heimatstadt, wenn es nötig war. Davon gab es nicht viele, die Leute besuchten einander damals noch. Im Büro des Verwalters brannte schon bei meiner Ankunft Licht, aber er kam jedes Mal pünktlich um acht heraus und sah wieder die Stapel durch. Manchmal nahm er den einen oder anderen Brief mit, aber weniger als morgens, da er wusste, dass es zwischen ihm und dem Adressaten noch mehrere Verwalter gab, die aufpassen würden, dass feindliche Elemente einander nichts schrieben. So arbeiteten wir jeden Tag, außer sonntags. Das wars. Habe ich was vergessen? Gähn du nur, aber ich muss dir erklären, wie die Arbeit ablief, damit du das Geheimnis der Deutschen Lotterie verstehst. Wäre es nicht so gewesen und wären es nicht solche Zeiten gewesen, es hätte sie nicht geben können. Ja … nur noch eines, wenn ich schon von den Zeiten spreche. An der Wand hing ein Bild von Marschall Tito und daneben war ein großer Fleck, wo noch zwei Jahre zuvor eine Skulptur des Genossen Stalin gestanden hatte. Sie hatten sie entfernt, weil er sich mit Tito zerstritten hatte. Wir hatten alle gerufen »Es lebe Stalin!«, doch dann gehörte es sich auf einmal nicht mehr, ohne dass uns das jemand gesagt hätte. Nach einiger Zeit war es strafbar, ohne dass ein Gesetz darüber verabschiedet worden wäre. Es müssen seltsame Zeiten gewesen sein, obwohl sie mir nicht so vorkamen. Wahrscheinlich aufgrund meiner Jugend, die blendet einen irgendwie, man sieht nur sich selbst, scheint mir. Lernt ihr in der Schule noch etwas darüber? Ich werde deine Erinnerung auffrischen: Zuerst waren Tito und Stalin zusammen. Tito war unser Präsident,...


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