E-Book, Deutsch, 269 Seiten
Mehnert-Theuerkauf / Lehmann-Laue / Seiler Psychoonkologie in der palliativen Versorgung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-038726-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Praxishandbuch
E-Book, Deutsch, 269 Seiten
ISBN: 978-3-17-038726-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1 Arbeitsfeld und Arbeitskontext palliativer Versorgung: Strukturen der palliativen Versorgung
Silke Walter und Sandra Eckstein
Die Strukturen der palliativen Versorgung sollen allen schwerkranken und sterbenden Menschen sowie ihren Angehörigen eine flächendeckende Versorgung mit adäquaten Angeboten ermöglichen. Zunehmend werden dynamische Modelle benötigt, um die Kontinuität über Versorgungssettings hinweg gewährleisten sowie die Veränderungen des Gesundheitssystems berücksichtigen zu können. Lernziele: Kennenlernen und Verstehen …
• … des Wandels im Verständnis von Palliative Care • … der internationalen und nationalen Perspektiven und Entwicklungen bzgl. Palliative Care • … der verschiedenen Ebenen der Palliative Care-Versorgung und deren Charakteristika • … der Strukturen spezialisierter Palliative Care-Versorgung und ihrer Prinzipien WHO Definition Palliative Care Palliative Care soll frühzeitig im Krankheitsverlauf zur Anwendung kommen Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte Palliative Care 1990 als »total care of patients with progressive, far advanced disease and limited life expectancy whose disease is not responsive to curative treatment« (WHO 1990, S. 11). 2002 wurde die Definition überarbeitet, um den Veränderungen von Palliative Care gerecht zu werden. Demnach ist »Palliative Care ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.« (DGP 2002, S. 1). Diese Anpassungen verdeutlichen den Wandel im Verständnis von Palliative Care. Gemäß der angepassten Definition soll Palliative Care frühzeitig im Krankheitsverlauf zur Anwendung kommen, parallel zur Behandlung der Grunderkrankung. Weiterhin schließt der Ansatz die An- und Zugehörigen explizit mit ein und beschreibt klar die multidimensionale Perspektive. Diskutiert wird zudem, dass es keine zeitliche oder prognostische Begrenzung für Palliative Care geben sollte, dass Palliative Care sowohl für chronische als auch für lebensbedrohliche Krankheiten erforderlich ist und dass Palliative Care auf allen Ebenen des Gesundheitssystems von der Primärversorgung bis zur spezialisierten Versorgung und in allen Settings geleistet werden sollte (WPCA 2011; WPCA 2014). Unser heutiges Verständnis von Palliative Care stellt demnach eine multidimensionale Herangehensweise für den fragilen Patienten und sein Umfeld in einer lebensbedrohlichen Situation dar, die früh in der Ergänzung zur Behandlung der Grunderkrankung erfolgen kann/soll. Das Aufgabengebiet der palliativen Versorgung hat sich durch das veränderte Verständnis deutlich ausgeweitet. Neben der multidimensionalen Symptomkontrolle umfasst das heutige Aufgabengebiet die Entscheidungsfindung mit der Evaluation der Behandlungswünsche und der gesundheitlichen Vorausplanung, die interprofessionelle Zusammenarbeit im Netzwerk und Unterstützung des individuellen Netzwerkes des Patienten bzw. seines Umfelds sowie die Unterstützung der Angehörigen (Luckett et al. 2014). Aufgabengebiet der palliativen Versorgung 1.1 Internationale und nationale Entwicklungen
Palliative Care-Bedarf Schätzungen zufolge benötigen jedes Jahr über 20 Millionen Menschen am Ende ihres Lebens eine palliative Versorgung. Die Mehrheit (69 %) hiervon sind Erwachsene über 60 Jahre und leidet an chronischen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen (38,5 %), Tumorerkrankungen (34 %), chronischen Atemwegserkrankungen (10,3 %), AIDS (5,7 %) und Diabetes (4,6 %). Aber auch Menschen mit anderen Erkrankungen, wie z. B. nephrologischen oder neurologischen Erkrankungen, brauchen Palliative Care (WPCA 2014; WHO 2018). 78 % der Erwachsenen, die Palliative Care benötigen, gehören Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen an. Die höchsten Raten pro 100.000 Erwachsener finden sich jedoch in den höheren Einkommensgruppen, also in den Regionen Europa und Westpazifik (WPCA 2014). Zudem zeigt sich in den Ländern ein unterschiedlicher Palliative Care-Bedarf bezogen auf die Erkrankungen. Menschen mit progressiven, nicht malignen Erkrankungen machen in allen Regionen den höchsten Anteil aus. In Afrika überwiegt HIV/AIDS. Und der Anteil der Erwachsenen mit einer Tumorerkrankung, die Palliative Care benötigen, reicht von 19,6 % in der afrikanischen Region bis zu 41,5 % in der westpazifischen Region (WPCA 2014). Für Europa wird geschätzt, dass über 4,4 Millionen Menschen, die 2014 in Europa gestorben sind, schweres gesundheitliches Leid erfahren haben und Palliative Care benötigten (Arias-Casais et al. 2019). Zudem wird davon ausgegangen, dass der Bedarf für Palliative Care voraussichtlich in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird. Erste weltweite Vorausschätzungen des zukünftigen Palliative Care-Bedarfs ergeben, dass bis 2060 schätzungsweise 48 Millionen Menschen (47 % Todesfälle weltweit) mit schwerem gesundheitlichem Leiden sterben. Das entspricht einem Anstieg um 87 % im Vergleich zu 26 Millionen Menschen im Jahr 2016 (Sleeman et al. 2019). Internationale Entwicklung der Palliative Care-Versorgung Die Darstellung der Entwicklung der Palliative Care ist schwierig, da die Datenlage aufgrund einer fehlenden klaren Definition des Begriffs »Entwicklung« und fehlende Informationen über das methodische Vorgehen begrenzt valide und reliabel ist (Loucka et al. 2014). Trotzdem sollen einige ausgewählte Entwicklungen beschrieben werden. 2011 haben 136 der 234 Länder der Welt (58 %) ein oder mehrere Palliative Care-Versorgungsangebote eingerichtet. Das sind 9 % mehr im Vergleich zu 2006 (49 %). Die regionale Analyse zeigt, dass es vor allem Regionen in Afrika, dem Mittleren Osten und Amerika/Karibik waren, die von Gruppe 1/2 zu Gruppe 3a wechselten (Lynch et al. 2013). Tabelle 1.1 gibt einen Überblick, wie die Ebenen des Palliative Care-Versorgungsangebots (Gruppen 1–4b) in einer sechsteiligen Typologie kategorisiert wurden ( Tab. 1.1). Anhand dieser Typologie stellen Lynch et al. (2013) die Entwicklung des Palliative Care-Versorgungsangebots dar. Tab. 1.1: Ebenen der Palliative Care-Versorgung (Lynch et al. 2013) Beachte
Obwohl mehr als die Hälfte der Länder weltweit über Palliative Care Angebote verfügen, gibt es in vielen Ländern noch immer kein Angebot. Eine fortgeschrittene Integration von Palliative Care mit umfassenden Angeboten ist international nur in 20 Ländern (8,5 %) erreicht. Es ist also weiterhin ein bedeutender Zuwachs der Angebote notwendig, um Palliative Care weltweit allgemein zugänglich zu machen (Lynch et al. 2013). Europäische Entwicklung der Palliative Care-Versorgung Für Europa stellen Centeno et al. (2016) ähnliches fest: Obwohl es in Europa eine positive Entwicklung in der Palliativversorgung gibt, reichen in den meisten Ländern die verfügbaren Dienste noch immer nicht aus, um den Bedarf der Bevölkerung an Palliative Care zu decken. 21 der 53 Länder zeigten eine signifikante Entwicklung des Palliative Care-Versorgungsangebots (Daten von 46 Ländern, 87 % konnten ausgewertet werden). So gab es 2012 mehr als 5.000 spezialisierte Palliative Care-Versorgungsangebote in Europa. Das bedeutet eine Zunahme von 1.449 seit 2005 (Centeno et al. 2016). In der Aktualisierung des EAPC Atlas of Palliative Care in Europe 2019 ist die Zahl erneut um 1.357 angestiegen. Hier sind es insgesamt 6.387 spezialisierte Palliative Care-Versorgungsangebote (Arias-Cascais et al. 2019). 2012 sind vor allem in den westeuropäischen Ländern erhebliche Veränderungen eingetreten. In Zentral- und Osteuropa nimmt der Trend ebenfalls zu, aber langsamer. Die Schätzungen, inwieweit das Palliative Care-Versorgungsangebot den Palliative Care-Bedarf der jeweiligen Bevölkerung deckt, lagen für Westeuropa für Palliativstationen/Hospize bei 62 %, für ambulante, mobile spezialisierte Palliative Care-Dienste bei 52 % und für mobile spezialisierte Palliative Care-Dienste im Krankenhaus bei 31 %. Für die Schätzungen werden die Richtlinien der European Association of Palliative Care (EAPC) zugrunde gelegt. Für Zentral- und Osteuropa lagen 2012 die Werte bei 20 % für Palliativstationen/Hospize, bei 14 % für ambulante, mobile...