Mittelmeier | Freiheit und Finsternis | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Mittelmeier Freiheit und Finsternis

Wie die »Dialektik der Aufklärung« zum Jahrhundertbuch wurde
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-26791-9
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie die »Dialektik der Aufklärung« zum Jahrhundertbuch wurde

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-26791-9
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein grandios erzähltes Kapitel der IdeengeschichteHannah Arendt und Charlie Chaplin, Thomas Mann und Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Arnold Schönberg - sie alle hatten, auf ihre je eigene Weise, Anteil an der Entstehung eines Meisterwerks der Philosophie: Die »Dialektik der Aufklärung«. Martin Mittelmeier erzählt dieses faszinierende Kapitel der Geistesgeschichte und zeigt, wie aktuell die in diesem Buch beschriebenen Themen sind. Dass nämlich eine scheinbar aufgeklärte Menschheit in Populismus, gar Barbarei zurückfällt und wie ein Epochenbruch Rassismus und Antisemitismus auferstehen lässt - all das haben schon Adorno und Horkheimer in ihrem Werk zum Gegenstand gemacht. Atmosphärisch dicht und äußerst unterhaltsam beschreibt Martin Mittelmeier die Entstehung und die Nachwirkung dieses Jahrhundertbuches und lässt diese einzigartige Geisteskolonie unter kalifornischen Palmen wieder lebendig werden.
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Der Engel der Geschichte Hannah Arendt hat einen unliebsamen Auftrag zu erledigen Es war kein angenehmer Gang für sie. An einem frühen Junitag im Jahr 1941 hatte Hannah Arendt in New York einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Das war in diesen Tagen wahrlich nichts Besonderes. Am 22. Mai war sie auf einem Schiff von Lissabon aus in New York angekommen und damit erst einmal in Sicherheit vor den Nationalsozialisten. Außerdem erhielt sie ein monatliches Stipendium der Zionist Organization of America, mit dem sie sich und ihren Mann Heinrich Blücher für den Anfang über die Runden bringen würde; ja, sie konnten sich zwei kleine halb möblierte Zimmer in der 95. Straße, 317 West mieten: »unser Zimmer ist für Pariser Verhältnisse, vor allem für die Verhältnisse, in denen wir seit einem Jahr[…] gelebt haben, einfach der Gipfel des Luxus.«1 Und dennoch musste die 34-Jährige völlig neu anfangen, erst einmal Englisch lernen und sich in das Beziehungs- und Rettungsnetz der Emigranten hineinweben. Ruhige Momente waren rar gesät. Arendt hatte die Public Library als geeigneten Ort für konzentrierte Arbeit zwar rasch aufgespürt, aber viel zu selten waren ihr die Augenblicke dort gegönnt, zu zahlreich waren die Erledigungen, Verabredungen und Treffen, die sie in den ersten Wochen zu absolvieren hatte. Und doch war dieser Gang in der ersten Juniwoche ein besonderer. Sie hatte einen Auftrag, sie hatte ein Versprechen einzulösen. Sie hatte etwas abzugeben. Hannah Arendt war Mitte der 1930er-Jahre im Pariser Exil jemandem begegnet, dessen Eigenwilligkeit sie sofort angezogen hatte: »Sein Gestus und die Kopfhaltung beim Hören und Sprechen, seine Art sich zu bewegen, seine Manieren, vor allem seine Sprechweise bis in die Wahl der Worte und den Duktus der Syntax, schließlich das ausgesprochen Idiosynkratische seines Geschmacks – all das wirkte so altmodisch, als sei er aus dem neunzehnten in das zwanzigste Jahrhundert wie an die Küste eines fremden Landes verschlagen«,2 schrieb Arendt in der Rückschau über den 14 Jahre älteren Walter Benjamin. Doch Arendt verstand schnell, dass Benjamin vielleicht aus der Zeit gefallen sein mochte, aber in keinerlei Hinsicht altmodisch war. Was ihn für die, die ihn kannten, so besonders machte, war genau dies: quer zu den Anforderungen des Zeitgemäßen zu stehen und im Beharren auf abseitige, seltsame, vergessene oder übersehene Phänomene eine zwingende Charakteristik der Gegenwart zu erreichen. Eine Strategie, die auf ungeahnte Erkenntnisse hoffen darf, dem persönlichen Vorankommen in äußerlichen Dingen aber meist eher hinderlich ist. In der Rückschau skizziert Arendt Benjamins Lebenslauf als Folge von Missgeschicken, unglücklichen Entscheidungen und Pech. Sein Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften hätte ihn ihr zufolge als einen der wichtigsten Publizisten deutscher Zunge etablieren müssen, wenn »es damals in Deutschland mit rechten Dingen zugegangen« wäre. Die Universität stand seiner Habilitation zum Ursprung des deutschen Trauerspiels fassungs- und verständnislos gegenüber und verweigerte die akademische Karriere. Und im Lebenspraktischen war Benjamin laut Arendt mit untrüglichem Instinkt am falschen Ort. »So beschloß er z. B. im Winter 1939/40 wegen der Bombengefahr sich aus Paris in Sicherheit zu bringen. Nun ist bekanntlich auf Paris nie eine Bombe gefallen; aber Meaux, der Ort, an den er sich begab, war ein Truppensammelplatz und wohl einer der sehr wenigen Plätze in Frankreich, die in jenen Monaten des ›drôle de guerre‹ ernsthaft gefährdet waren«,3 schreibt Arendt. Vor dem »drôle de guerre«, diesem ereignislosen Ausharren zweier militärischer Gegner, richteten sich Arendt und Benjamin, so gut es eben möglich war, im Exil ein, begannen ein beständiges Gespräch, gründeten Diskussionskreise, spielten Schach, schlugen die Zeit tot. Nach Benjamins endgültiger Flucht aus Paris im Juni 1940 trafen sie sich in Lourdes zufällig wieder. Als sie im September in Marseille ihre jeweiligen USA-Visa abholen wollten, war Benjamins spanisches Transitvisum nur noch wenige Tage gültig. Verlängerungen wurden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorgenommen. Da Arendt und ihr Mann auf ihre Transitvisa noch warten mussten, beschlossen sie, getrennt über die Grenze zu gehen. Und Benjamin übergab ihr einen Text, für den Fall, dass er es nicht überleben würde. Es war dieser Text, den Arendt im Juni 1941 auf ihrem Gang zur Columbia University bei sich trug. Ein Text, den Benjamin mit winziger Schrift auf neun dünne Blätter geschrieben hatte, ein paar davon Streifbänder der Schweizer Zeitung am Sonntag, daneben die Rückseite eines Briefes oder Rückseiten der Zeitschrift Les Cahiers du Sud. Es sind die Thesen Über den Begriff der Geschichte, die geschichtsphilosophische Summe seines Denkens, einer der dichtesten, faszinierendsten und irritierendsten Texte, die die Philosophie des letzten Jahrhunderts hervorgebracht hat. Die USA waren, als Arendt in New York auf dem Weg zur 117. Straße war, kein einwandererfreundliches Land. Das waren sie schon seit den 1920er-Jahren nicht mehr, als mehrere Quotierungsregelungen die Zahl der legalen Einwanderer auf rund 160.000 pro Jahr begrenzten. 1930 erreichte die Arbeitslosigkeit nach der Großen Depression einen nie gekannten Höchststand. Um die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt nicht größer werden zu lassen, führte die Regierung unter Herbert Hoover eine Klausel ein, die von Immigranten den Nachweis finanzieller Absicherung forderte. Auch für Franklin D. Roosevelt hatte die Überwindung der Folgen der wirtschaftlichen Depression Priorität. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im Frühjahr 1938 berief er eine Konferenz im französischen Évian-les-Bains ein, um die Weltgemeinschaft auf eine fair verteilte Aufnahme der flüchtenden österreichischen und deutschen Juden zu verpflichten. Aber die 32 teilnehmenden Staaten konnten sich keine substanzielle Zusage abringen. Auch Roosevelt reagierte nur zaghaft, mit minimalen administrativen Verbesserungen unterhalb der offiziellen Politik. Nach den Novemberpogromen im selben Jahr wurden zumindest die Besuchervisen verlängert, sodass niemand aus den USA wieder zurück nach Deutschland oder Österreich musste. So waren alle, die Hitlers Regime entfliehen wollten, auf ein engmaschiges Netz von freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen und die Unterstützung durch private Initiativen angewiesen. Affidavits – also eidesstattliche Erklärungen, im Notfall für den Unterhalt des Einreisenden aufzukommen – mussten ausgesprochen werden, Geldsendungen für das Überleben in den vielen Zwischenetappen und Warteräumen des Exils transferiert und notwendige oder auch nur Chancen erhöhende Dokumente für das Visum beschafft werden. Bei Arendt hatte Ex-Mann Günther Anders, der spätere Autor der Antiquiertheit des Menschen, interveniert, Beziehungen spielen lassen, Geld aufgetrieben und geschickt. Ein Visum und die Tickets für die Überfahrt von Lissabon nach New York bekam sie über das Emergency Rescue Committee (ERC), einer Hilfsorganisation, die von Emigranten in den USA gegründet wurde, als Deutschland im Juni 1940 Frankreich besetzte, wodurch alle, die dorthin emigriert waren, in der Falle saßen. Ein Visum für die USA aber reichte nicht aus, da Frankreich die Ausreise nicht erlaubte. Deshalb organisierte ein junger Amerikaner, Varian Fry, für das ERC in den Jahren 1940 bis 1941 in Marseille nicht nur die Beschaffung von Visa und Devisen, sondern eruierte auch Möglichkeiten, wie Fluchtwillige illegal über die Grenze gelangen konnten. Im September 1940 beispielsweise schickte Fry Franz und Alma Werfel, Heinrich und Nelly Mann sowie Manns Neffen Golo vom Grenzort Cerbère auf den Weg über die Pyrenäen ins spanische Portbou, von wo aus die Reise legal fortgesetzt werden konnte. Kurze Zeit später schloss die Gestapo diese Route. Die Gruppe, in der Ende des Monats Walter Benjamin war, musste einen neuen, beschwerlicheren Weg wählen. Aber genau an dem Tag, an dem die Gruppe aufbrach, machten die Spanier die Grenze dicht. In der Nacht, die die Grenzer der Gruppe gewährten, bevor sie sie nach Frankreich zurückschicken wollten, nahm Benjamin sich das Leben.4 »Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen Tag später hätte man in Marseille gewußt, daß man zur Zeit nicht durch Spanien konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich«,5 schrieb Arendt in ihrem großen Essay zu Benjamin im Merkur in den 1960ern. Arendt und Blücher schafften es kurze Zeit später nach Spanien und Portugal und mussten anschließend zermürbende Monate in Lissabon ausharren, bis die Passage möglich wurde. Sie nahmen sich immer wieder Benjamins geschichtsphilosophische Thesen zur Lektüre vor, denn trotz des geringen Umfangs lassen die sich nicht so schnell erschöpfen. Auf minimalem Raum traten ihnen die Facetten des Autors Walter Benjamin in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit entgegen. Der Text ist kämpferisch, will die Geschichte gegen den Strich bürsten, den die bisherigen Sieger ihr verpasst haben. Er polemisiert gegen den naiven Fortschrittsenthusiasmus der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. Wenn man den Text aber nach einer Alternative durchsucht, nach Anweisungen, wie stattdessen der »revolutionäre...


Mittelmeier, Martin
Martin Mittelmeier, geboren 1971, arbeitete viele Jahre in renommierten deutschen Literaturverlagen und ist seit 2014 als freier Lektor und Autor tätig. Bei Siedler erschienen »Adorno in Neapel« (2013) und »DADA« (2016), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Mittelmeier ist Honorarprofessor am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität zu Köln.



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