Buch, Deutsch, Band 11, 285 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 370 g
Kommunikationsprozesse direkter und repräsentativer Demokratie im Vergleich
Buch, Deutsch, Band 11, 285 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 370 g
Reihe: Studien zur Demokratieforschung
ISBN: 978-3-593-39038-3
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Vergleichende Politikwissenschaft
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politische Kommunikation und Partizipation
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Staats- und Regierungsformen, Staatslehre
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Demokratie
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Untersuchung indirekter Wirkungen
1.2 Fragestellung und Aufbau dieser Arbeit
1.3 Qualifizierung durch sachfokussierte Kommunikation?
2 Demokratie und Repräsentation in der Deutungskonkurrenz
2.1 Repräsentation und Demokratie als politische Begriffe
2.2 Demokratie als zweistelliger Prädikator
2.3 Repräsentation als dreistelliger Prädikator
2.4 Direktdemokratische Verfahren in der repräsentativen Demokratie
2.5 Direkte und repräsentative Demokratie
3 Qualifizierung von Demokratie
3.1 Qualifizierung
3.2 Deutungskonkurrenzen über mögliche Qualifizierungswirkungen direkter Demokratie
3.3 Qualifizierung durch Integration von sozial-moralischen & kognitiven Kompetenzen
3.4 Qualifizierung der Öffentlichkeit
3.5 Welche indirekten Wirkungen von Volksabstimmungen qualifizieren die Öffentlichkeit?
4 Wahlen und Abstimmungen: kommunikatives Handeln und kollektive Handlung
4.1 Volkssouveränität
4.2 Kollektive Aggregationshandlungen
4.3 Kommunikatives Handeln
4.4 Politisches Entscheiden
4.5 Wahlen und Abstimmungen als kollektives Entscheidungshandeln
4.6 Souveränität kollektiven Handelns in Wahl- und Abstimmungssystemen
5 Wahlen und repräsentative Demokratie
5.1 Wahlforschung
5.2 Themenkonkurrenz in Wahlen
6 Abstimmungen und direkte Demokratie
6.1 Abstimmungsforschung
6.2 Themenfokussierung in Abstimmungen
7 Hypothesen: Qualifizierung im Spiegel der Entscheidungsaktkommunikation
7.1 Grund- und Menschenrechte
7.2 Offenheit der Machtstruktur
7.3 Politische Gleichheit
7.4 Transparenz und Rationalität
7.5 Politische Effektivität
8 Untersuchungsdesign und Operationalisierung
8.1 Untersuchungsdesign
8.2 Die Städte Luzern, Marburg und St. Gallen als Untersuchungsfälle
8.3 Operationalisierung der Variablen
9 Wahlen im Vergleich
9.1 Parteiensysteme, Kernthemen und Wahlanteile
9.2 Luzern
9.3 Marburg
9.4 St. Gallen
9.5 Entwicklung und Vergleich der Wahlkommunikation
10 Das Politikfeld Verkehr
10.1 Luzern
10.2 Marburg
10.3 St. Gallen
10.4 Vorläufiger Vergleich von Wahl- und Abstimmungskampfkommunikation
11 Qualifizierung der Debatte
11.1 Berichtsanteile
11.2 Offenheit der Machtstruktur
11.3 Politische Gleichheit
11.4 Argumentationstransparenz und Rationalitätsnormen
11.5 Politische Effektivität
12 Fazit: Sachorientierung in direktdemokratischen Abstimmungen
12.1 Diskussion der Ergebnisse
12.2 Ausblick
Abkürzungen
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Frage, wer in welchem Umfang welche Entscheidungen über wen treffen dürfen soll, ist die Grundfrage demokratischer Legitimität. Spätestens mit der Aufklärung ist der Begriff der Volkssouveränität zentral geworden für die Bestimmung der Legitimität allgemein verbindlicher Entscheidungen. Das Ziel der Aufklärung, einen "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant 1914a, S. S. 33) zu finden, mithin also die Annahme, jeder sei in der Lage mündig und nach selbst gesetzten Zielen autonom zu handeln, schließt auch ein, dass niemand a priori - sei es aus religiösen oder gewohnheitsrechtlichen Begründungen - mehr Rechte besitzt, die Handlungsfreiheit anderer einzuschränken und Zwang über sie auszuüben, als irgend ein anderer. Um zu verhindern, dass es zu einer solchen übergebührlichen Einschränkung der individuellen Handlungsfreiheit kommt, besteht gleichzeitig die Notwendigkeit, die Handlungsfreiheit jedes Einzelnen in gleichem Umfang zu sichern, wodurch mitunter die Notwendigkeit besteht, die Handlungsmöglichkeiten anderer zu beschränken. Das bedeutet wiederum, dass auf Zwangsmaßnahmen gegebenenfalls nicht verzichtet werden kann, um Handlungsfreiheit zu sichern. Eine Regulierung des menschlichen Miteinander ist also notwendig. Die Sicherung der Handlungsfreiheit durch Begrenzung eben dieser Willkürfreiheit erfordert Regeln, die berücksichtigen müssen, dass jeder gleich frei, das heißt in gleicher Weise in seiner Freiheit begrenzt ist. Mehr noch: die Entscheidung, inwiefern diese Gleichheit besteht, sollte durch jeden Betroffenen selbst vorgenommen werden (können), mithin durch alle. Legitimes Regieren, so die Annahme, bedarf des "vereinigten Willen" (Kant 1914b, S. 313), der souveränen Entscheidungsfähigkeit des Volkes, jedenfalls soweit dadurch vernünftige Regeln zu Stande kommen. Die praktische Umsetzung dieses Anspruchs auf Volkssouveränität - von der autonomen Entscheidung des Einzelnen zur autonomen Entscheidung des Volkes - ist bekanntlich nicht trivial. Zentral ist dabei, dass es der vernünftige und verallgemeinerte "vereinigte Wille" und keine irrationale Willkür ist, die in der Entscheidung zum Ausdruck kommt.
Dass Herrschaft rechtsförmig ausgeübt werden muss und dass Wahlen als ein Verfahren zur legitimen Ausübung von Macht nahezu unverzichtbar sind, kann zumindest in den westlichen Demokratien als unumstritten gelten; und selbst Diktaturen kommen heute nicht ohne den Bezug auf das Volk als Adressat des Regierungshandelns und auf die Fiktion von Wahlen aus - selbst dann, wenn auf Alternativen dort verzichtet wird, um das angestrebte Ergebnis zu sichern. Die Existenz von Alternativen und das Wissen um deren Sinn erscheinen daher essentiell; eine demokratische Öffentlichkeit, mittels derer die Informationsgrundlage für eine aufgeklärte Auswahl der Repräsentanten geschaffen wird, scheint also gleichfalls notwendig für souveräne Entscheidungen.
Während Wahlen und demokratische Öffentlichkeit in Form gesicherter Meinungsfreiheit als konstituierende Elemente von Demokratie wohl kaum mehr der Begründung bedürfen, verhält es sich mit Volksabstimmungen anders: Das Thema direkte Demokratie gibt Anlass zu intensiven politischen und wissenschaftlichen Diskussionen und ist demokratietheoretisch umstritten. Dabei unterscheiden sich Wahl und Abstimmung vor allem im Sinn der Entscheidung: Während bei freien Wahlen jeder und jede einzelne Wahlberechtigte die Möglichkeit hat, unter personellen Alternativen auszuwählen, hat bei freien (Volks-)Abstimmungen jeder und jede die Möglichkeit, unter verschiedenen verbindlichen Sach-Alternativen auszuwählen. Beide sind jedoch Entscheidungsakte aller Bürgerinnen und Bürger, beide stellen ein Verfahren zur Bündelung der Präferenzen der Bürger zu einer kollektiven Entscheidung dar, beide können unter nahezu identischen organisatorischen Bedingungen (zum Beispiel Wahllokale, Briefwahl, elektronische Wahl) durchgeführt werden. Stellt man sich einen Beobachter vor, der einer Sprache nicht mächtig ist, so lässt sich vermuten, dass dieser - sofern er nicht durch Bilder vom Inhalt der Entscheidung unterrichtet ist - bei unbefangener Beobachtung eines Wahl- bzw. Abstimmungslokals nicht ohne weiteres entscheiden könnte, ob er einer Wahl oder einer Abstimmung beiwohnt.
Der Unterschied im Bezug auf die Qualität des Entscheidungsgegenstands ist jedoch so entscheidend, dass die Meinungen über die direkte Demokratie in der demokratiepolitischen Diskussion zwischen vehementer Ablehnung und Befürwortung variieren. Die Diskussion über Sinn und Funktion direktdemokratischer Verfahren ist in der Bundesrepublik wie in Europa in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder geführt worden (vergleiche stellvertretend Heußner und Jung 1999; Rüther 1996; Heußner und Jung 2008). Dabei stieg die Popularität "plebiszitärer" Verfahren in allen Umfragen zu potentiellen Reformen des politischen Systems zwischen den 70er und den 90er Jahren stark an (Noelle-Neumann und Köcher 1993, S. 558-567; Niedermayer 2005, S. 86). In den Verfassungsreformen in der Folge der Barschel-Affäre und im Zuge der deutschen Einheit wurden in allen Landes- und Kommunalverfassungen direktdemokratische Verfahren neu einge führt, sofern sie vorher nicht existierten (vergleiche u. a. Jung 1997). Auch auf der Ebene des Grundgesetzes erhielt der Reformvorschlag zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid eine einfache Mehrheit: in der Gemeinsamen Verfassungskommission zur deutschen Einheit (vergleiche zum Beispiel Klages und Paulus 1996) ebenso wie bei der Abstimmung über einen Verfassungsänderungsantrag der Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen im April 2002 (Drs. 14/ 8503, vergleiche auch Schiller 2002). In den Staaten des Europarates kam es seit 1972 zu 53 (Stand: Ende 2009, vergleiche u. a. Kaufmann, Lamassoure und Meyer 2004; C2D o. J.) Referenden und Plebisziten zur europäischen Integration und in Deutschland wurden ebenfalls Forderungen laut, die europäische Integration bedürfe direktdemokratischer Fundierung (so etwa im Europawahlkampf 2009 die Forderungen der CSU zu deutschen EU-Referenden sowie Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen zu einem europäweiten Referendum, näheres zu Europareferenden vergleiche Auer 2004).
Ebenso wird in der wissenschaftlichen Diskussion das Thema direkte Demokratie zunehmend breiter diskutiert (einen guten Überblick zum Thema gibt Jung 2002, S. 86 sowie IRI-Europe 2004). In der jüngsten Zeit sind einige richtungweisende Arbeiten zum Thema direkte Demokratie erschienen, darunter finden sich einige, die einen systematischen Überblick liefern, aber auch solche, die wichtige Teilaspekte behandeln (näheres dazu in Kap. 6.1). Zu diesen Arbeiten versteht sich die vorliegende Arbeit insofern als Ergänzung, als die öffentliche Kommunikation in Abstimmungen im Vergleich zu Wahlen als Perspektive gewählt wird.
1.1 Untersuchung indirekter Wirkungen
Während Wahlen seit langem Gegenstand umfangreicher Forschungen sind, rückten (Volks-)Abstimmungen hingegen erst in den vergangenen Jahren zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Gerade angesichts der oben skizzierten zunehmenden Diskussion gilt es, viele Forschungsfragestellungen zur direkten Demokratie zu vertiefen, die für repräsentative Kontexte bereits seit langem intensiv beforscht werden. Spätestens mit der linguistisch-pragmatischen Wende bzw. dem linguistic turn (für die Politikwissenschaft zum Beispiel Edelman 1976) gerät dabei die Kommunikation in das Blickfeld des Interesses.
Die politikwissenschaftliche Diskussion in Deutschland bewegt sich zunehmend von der Frage "plebiszitäre" versus repräsentative Demokratie fort (Gross und Schiller 1996, S. 289 ff.) und damit von einem Schwarz-Weiß-Denken, das bisher häufig zu beobachten war. Dies stand einer differenzierten Diskussion der Auswirkungen von direktdemokratischen Verfahren bzw. deren Ausgestaltungsmerkmalen auf das jeweilige politische System bis dahin oft im Wege. So lange die jeweilige normative Position entweder eine "Perhorreszierung" oder ?übertriebene Befürwortung" betrieb (Kühne 1991) oder vor allem der jeweils anderen Position dies unterstellte, konnte eine fruchtbare Abwägung nur schwer stattfinden. Mit zunehmend differenzierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die neben den einschlägigen juristischen Veröffentlichungen (zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Jürgens 1993; Neumann 2002b) mittlerweile unter anderem die Rechtsgeschichte direktdemokratischer Verfahren (zum Beispiel Jung 1989; 1994; Witte 1997; Schiffers 2002), Länderstudien (zum Beispiel Rehmet 2002; Weixner 2002; Kost 2005), Einzelfalluntersuchungen aus der Anwendungspraxis (zum Beispiel Seipel und Mayer 1997; Nemitz 1999b; Bull 2001; Kliegis und Kliegis 1999), den Institutionenvergleich (zum Beispiel Möckli 1994; Luthardt 1994; Butler und Ranney 1994; Wili 1997; Gross 2002; Marxer 2004), die potentiellen Wirkungen auf Machtverteilung und Akteursstrukturen sowie die Auswirkungen direktdemokratischer Ergänzungen auf die Struktur (zum Beispiel Jung 2001) oder den ökonomischen Outcome (zum Beispiel Kirchgässner, Feld und Savioz 1999; Feld und Matsusaka 2000) der jeweiligen politischen Systeme (für den Überblick s. den Beitrag von Jung 2002, stellvertretend vergleiche zum Beispiel auch Kranenpohl 2006; 2008 oder Decker 2002b, steigen die Chancen, das Forschungsfeld direkte Demokratie einer sachgerechteren Bewertung näher zu bringen. Letztlich lässt sich die gesamte politikwissenschaftliche Diskussion in Deutschland überwiegend dem Erkenntnisinteresse zuordnen, ob und in welcher Ausgestaltungsform direktdemokratische Verfahren auf Bundesebene eingeführt bzw. ausgestaltet werden oder wie die Regelungen auf der Landes- und Kommunalebene sich im politischen Prozess auswirken (vergleiche z.B. Mehr Demokratie e.V./Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie 2008, Mittendorf 2008a oder Hofmann 2009).
Die Befürwortung innerhalb dieses Diskurses gründet sich im Allgemeinen auf normativen Einschätzungen der jeweiligen Proponenten: entweder negativ auf belegbaren oder empfundenen Funktionsdefiziten der repräsentativen Demokratie - jedenfalls in deren vorfindlicher Ausprägung - oder positiv auf der Überlegung, einem gestiegenen Partizipationsbedürfnis Rechnung tragen zu wollen. Die Ablehnung gründet sich demgegenüber häufig entweder negativ auf der Angst vor negativen Wirkungen für das politische System aufgrund erwarteter schlechter Entscheidungen bzw. Entscheidungsblockaden oder positiv auf der angenommenen Zufriedenheit mit den Politikergebnissen im gegebenen politischen Systemumfeld. Gleichzeitig wurde die Argumentation implizit oft auf Grundlage entweder eines Vergleichs der empirischen Defizite der repräsentativen mit einem Idealbild der direkten Demokratie oder eines Idealtyps der repräsentativen Demokratie mit einem Negativbild bzw. worst-case-Szenario der direkten Demokratie betrieben.
Das Spannungsfeld, in dem sich die Diskussion befindet, ist also sehr weitreichend und je nach politiktheoretischer Tradition und Standpunkt verbunden mit unterschiedlichen Perspektiven und Wirkungserwartungen. Eine politikwissenschaftliche Erörterung muss eben dem Rechnung tragen und neben der Rechtfertigung von demokratischen Normen auch für eine empirische Unterfütterung der Annahmen sorgen.