E-Book, Deutsch, 380 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 200 mm
Mornštajnová / Mornstajnová Hana
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99047-109-8
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 380 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 200 mm
ISBN: 978-3-99047-109-8
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein mährisches Städtchen 1954 – Mira widersetzt sich ihren Eltern und geht aufs Eis. Zur Strafe erhält sie kein Törtchen, aber dieses Ereignis verändert ihr Leben für immer. Die Tragödie bindet sie an ihre schweigsame, seltsame Tante Hana und beide müssen lernen, miteinander zu leben. Allmählich wird die Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren aufgedeckt und Mira lernt zu verstehen, warum sich die Tante so schwer im Leben zurechtfindet.
Drei Generationen Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Zwei geschickt verwobene Zeitebenen und Schicksale in grausamen Zeiten. Zwei Frauen haben sich neben dem durchlebten Leid aber auch mit der Frage der Schuld auseinanderzusetzen, wenn durch eigenes Handeln anderen Leid zugefügt wird, bewusst oder unbewusst. Und wie erträgt man, als Einzige überlebt zu haben.
Die Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert, ist in einem mitreißenden Tempo geschrieben, dramatisch wie ein Film. Alena Mornštajnovás mehrfach preisgekrönter Roman ist in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt worden und in Tschechien ein Bestseller.
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ERSTES KAPITEL
Februar 1954 Ich habe noch nie verstanden, warum die Erwachsenen den Kindern einreden, es lohne sich, artig und gehorsam zu sein. Wäre ich eine gehorsame Tochter gewesen, stünde heute mein Name in den Grabstein gemeißelt – so wie die Namen von Mamas Eltern, Oma Elsa und Opa Ervin, die lange vor meiner Geburt verstorben waren, oder Oma Ludmila und Opa Mojmír, an deren Grab Mama und ich jedes Mal kleine braune Grablichter anzündeten, obwohl wir dafür bis ans Ende des Friedhofs gehen mussten. Während meine Freundinnen an Sonntagnachmittagen bei schönem Wetter mit den Familien in den Park oder durch die Stadt spazieren gingen, steckte Mama Dagmara, Ota und mich in Sonntagskleider und schickte uns vor die Tür der Uhrmacherei, die früher uns gehörte. Zu dieser Zeit durfte Papa hier aber nur noch für miese Bezahlung arbeiten und Mama hatte die Erlaubnis, umsonst in dem dunklen Lädchen im Erdgeschoss den ausgetretenen Fußboden zu wischen. Jeden Sonntag nach dem Mittagessen wusch Mama das Geschirr ab, setzte sich das schwarze Hütchen auf, setzte Otík in den Kinderwagen, oder nahm ihn, als er schon größer war, bei der Hand und führte uns in Richtung Friedhof. Der Weg schien mir endlos. Wir mussten an der Kirche vorbei zum Fluss, über die Brücke, durch die ganze Unterstadt, die aus einem mir unbekannten Grunde Krásno – Schönheit – hieß, uns am langen Schloss-park entlangschleppen, bis hinter die letzten Häuschen, durch das Friedhofstor treten und warten, bis Mama die Grabsteine abgefegt, die Blumen ordentlich in Vasen gestellt und Kerzen angezündet hatte. Während der Arbeit sprach sie mit den Toten und erzählte ihnen, was es in Mezirící Neues gab, wer geboren worden war, wer gestorben, was man sich in der Stadt so erzählte, wie es den Nachbarn ging und was wir Kinder wieder angestellt hatten. Ich traute mich nie, etwas zu sagen, seufzte nur schwer, damit Mama verstünde, wie sehr mir das Warten zuwider war, aber auch so sagte sie jedes Mal vorwurfsvoll zu mir: »Mach nicht so ein Gesicht, wären sie nicht gewesen, gäbe es dich nicht.« Als auf den Grabsteinen neue Namen hinzukamen und der von Mama dabei war, dachte ich daran, wie sie jeden Sonntag an den Gräbern gestanden und mit ihren Nächsten gesprochen hatte. Es tröstete mich, dass sie jetzt mit denen zusammen war, die sie so sehr vermisst hatte. Mein Name ist nur deshalb nicht unter den in Gold ausgeführten Inschriften auf den Grabsteinen, weil es sich manchmal lohnt, ungehorsam und frech zu sein. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, lesen Sie nicht weiter. Und geben zur Sicherheit dieses Buch nie Ihren Kindern in die Hand. Der Winter dieses Jahres, als ich neun Jahre alt war und sich mein ganzes Leben komplett änderte, war herrlich weiß und frostig, aber im Februar schien er gar kein Ende mehr nehmen zu wollen. Erst in den letzten Februartagen wurde es wärmer, der Schnee begann zu tauen und das Eis zu brechen. Der Fluss, der Mezirící und Krásno teilte, zog sich stellenweise nur träge dahin, statt in Richtung der größeren Flüsse zu eilen, und weil der Schnee in den nahen Bergen nur langsam taute und der Fluss davon bis jetzt nur geringfügig schneller geworden und angestiegen war, schien er uns wie geschaffen dafür, ein Stück auf den losen Eisschollen zu schwimmen. In diesem Februar des Jahres 1954, als das Böse schon in der Tiefe unter der Stadt lauerte, liefen wir jeden Tag nach der Schule geradewegs zum Fluss und warteten ungeduldig, ob das Eis schon nachgab und brach, und ob das Wasser so stark floss, dass wir auf die Schollen springen, ein paar Meter mitgleiten und das Abenteuer genießen könnten, das die Zwillinge Eda und Mirek Zednícek aus der Sechsten in den Pausen beschrieben. Die hatten vor ein paar Jahren schon einen strengen Winter erlebt und die Schollenfahrt selbst ausprobiert. Nach ein paar Tagen riss das Eis endlich, die Mitte des Flusses wurde frei und die Schollen wanderten langsam stromabwärts. Unsere Zeit war gekommen, lang ersehnt und sorgfältig geplant. Ich stand in der Küchentür, in der einen Hand die rote Bommelmütze, in der anderen die Handschuhe. »Was fällt euch da bloß ein?«, wunderte sich Mama, als ich sie fragte, ob ich mit Jarmila rodeln gehen dürfe. In der Küche war es gemütlich warm und es roch gut, weil Mama Kuchen für ihre Geburtstagsfeier buk. »Der Schnee taut, der ist feucht, du wirst durch und durch nass werden.« Ich streckte mich nach einem Stück Kuchen vom Blech, zuckte aber gleich zurück, weil es noch heiß war. »Ja eben. Was, wenn das die letzte Möglichkeit ist, ein bisschen zu rodeln?« Mama sah mich misstrauisch an. »Mira, lass dir nicht einfallen, zum Fluss zu gehen.« Daraus, dass Mama ahnte, was Jarmilka Stejskalová, die Zednícek-Jungen und ich planten, und mir streng verbot, zum Fluss zu gehen, schloss ich, dass auch sie zu Zeiten, in denen sie noch nicht erwachsen und übertrieben vorsichtig war, selbst Eisschollenfahrten unternommen hatte. Aber Dinge, die ich nicht tun durfte, um mich nicht zu verletzen, gab es so viele! Ich durfte nicht auf den Dachboden gehen, um nicht über irgendwelchen Kram zu stolpern oder aus dem Fenster zu fallen. Ich durfte nicht in den Keller gehen, um nicht auf den Stufen abzurutschen. Ich durfte nicht hinaus in die Loggia, weil ich wegen ihrer baufälligen Konstruktion auf den gepflasterten Hof stürzen könnte. Kein Wunder, dass der Mensch das »Du darfst nicht« nicht ernst nimmt, wenn er das in jedem Satz hört. »Natürlich nicht. Jarmilka und ich gehen nur auf den Hügel hinter Zedníceks Garten«, sagte ich und stopfte mir ein heißes Stück Kuchen in die Tasche. Mama war sehr schön, und wenn sie mich umarmte, wärmte sie wie ein Ofen und duftete wunderbar nach Vanillezucker. Aber in diesem Augenblick sahen mich ihre großen braunen Augen, die mir immer so traurig erschienen, dass ich mich fürchtete hineinzuschauen, so misstrauisch an, als könnten sie meine geheimsten Gedanken lesen. Jarmilka wartet schon«, sagte ich, knöpfte den Mantel zu, schnürte die warmen Knöchelschuhe und zog mir die Mütze bis in die Stirn. Mama gab mir noch ein Kuchenstück. »Hier, für Jarmilka.« Ich lief hinaus, packte Jarmilkas Schlitten am Seil und ging los in Richtung Marktplatz. Im Rücken brannte mir Mamas Blick. »Auf Wiedersehen, Frau Karásková«, rief Jarmilka, »und danke schön.« Sie warf ihren langen blonden Zopf herum, um den ich sie ganz unfreundschaftlich beneidete, weil alle Jungen aus der Klasse sie bewundernd daran zogen, lächelte Mama unschuldig an und biss in den Kuchen. Am Ende der Straße bogen wir nach links ab. »Wo gehst du hin?«, fragte Jarmilka und zog am Seil, um mich zu stoppen. »Wir wollen doch nicht um die ganze Stadt herumlaufen.« »Ich möchte nicht, dass Mama sieht, dass ich zum Fluss gehe.« »Sie kann doch nicht um die Ecke gucken.« Ich sah mich auf der Straße um. Im ersten Stock eines Hauses mit abgeblätterter Farbe bewegte sich die Gardine. Vielleicht schien es mir nur so, aber vielleicht hielt die alte Beneška am Fenster Wacht, um alles mitzubekommen, was sich um den Platz herum tat. Ich ging schneller. »Man kann nie wissen. Wenn wir jemanden treffen, gibt es Ärger.« »Und zum Abendbrot bekommst du Erbsen«, lachte Jarmilka und trippelte ergeben hinter mir her. Erbsen konnte ich wirklich nicht ausstehen und Mama wusste das, also bekam ich sie zum Mittag oder zum Abendbrot, wenn ich Widerworte gab oder etwas getan hatte, was ich nach Meinung der Eltern nicht hätte tun sollen. Ich saß mit den anderen am Tisch, schaute zu, wie sie sich ihre Kartoffelpuffer mit selbstgemachter Marmelade oder etwas anderes Gutes schmecken ließen, und aß von dem grünen Püree. Im Stillen zog ich ein Gesicht, laut sagte ich: »Immer noch besser, als wenn Papa seinen Gürtel abschnallt.« Was ich manchmal, öfter als meine beiden kleineren Geschwister, nicht vermeiden konnte. Und heute würde es für den Gürtel reichen. Daran hatte ich keinen Zweifel. Die braunen Schuhe waren durchnass, noch bevor wir am Fluss angekommen waren, und meine Finger froren trotz der Handschuhe. Die Zednícek-Jungen warteten schon am Ufer unterhalb der weiß geputzten Kapelle mit dem Holzschindeldach auf uns. Sie liefen in dem matschigen Schnee herum und versuchten mit langen Stangen die Schollen abzustoßen, die am Ufer aufgeschwemmt waren. Sowie sich eine Scholle löste, erfasste die Strömung sie und trieb sie erst langsam, dann immer schneller zum fünfzig Meter entfernten niedrigen Wehr, wo die Scholle in dem angehäuften gesplitterten Eis steckenblieb. In diesem Moment verließ mich der Mut, und Jarmilka wohl auch, denn sie setzte sich auf den Schlitten und sagte: »Ich schau nur zu.« »Feigling«, sagte Eda Zednícek verächtlich, und ich begriff, dass ich zwar nicht an Schönheit, so doch mit Mut Jarmilka übertreffen könnte. Die Jungen ziehen sie vielleicht am Zopf, aber auf mich werden sie...