E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Mosebach Ruppertshain
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-423-40092-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-423-40092-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Sie hatte die Vertreibung aus Böhmen hinter sich, sie war die Mutter eines chaotischen Sohnes, und sie hatte dreißig Jahre lang den täglichen Drahtseilakt einer Ehe mit Heinrich und einer Liaison mit Albrecht bewältigt.'
'Sie hatte die Vertreibung aus Böhmen hinter sich, sie war die Mutter eines chaotischen Sohnes, und sie hatte dreißig Jahre lang den täglichen Drahtseilakt einer Ehe mit Heinrich und einer Liaison mit Albrecht bewältigt.'
Nun wartet Antonia, die mit fünfzig noch immer attraktiv und schön ist, mit einer Handvoll Menschen auf das Ableben ihres todkranken Mannes. Die Monate vergehen, doch in der weißen Villa in Ruppertshain im Taunus herrscht eine merkwürdige Art von Stillstand. Um so mehr sind seine Bewohner erschüttert, als das erwartete Ereignis tatsächlich eintritt – und ihnen eröffnet wird, daß Haus und Park zutiefst verschuldet sind. Und schon werden aus alten Freunden Feinde, lauern die Finanzhaie darauf, den Besitz des ehemaligen Frankfurter Bankiers zu parzellieren und gewinnbringend zu vermarkten. Antonia aber weiß sich zu wehren.
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Ivanovich konnte den Tag nicht mehr bestimmen, an dem er begonnen hatte, seinen Vater mit anderen Augen anzusehen. Irgendwann, ob er erst zehn oder schon fünfzehn Jahre alt war, wurden Heinrich und seine begeisterte Zutunlichkeit ihm lästig. Heinrich sah lange nicht, was geschehen war. Er konnte nicht verstehen, daß Ivanovich, der es so viele Jahre lang genossen hatte, wenn man einen Gast ins Schwimmbecken warf, jetzt ein Gesicht dazu schnitt und mit den Händen in den Hosentaschen wegging. Das Schlimmste für Heinrich war, daß ihn sein Sohn nicht einmal eines richtigen Aufstandes für wert erachtete und daß er einfach stehengelassen wurde wie ein langweilig gewordenes Spielzeug. Heinrich fiel ein, wie er mit dem dreijährigen Ivanovich spazierengegangen war. Einmal begegneten sie einer jungen Frau mit ihrem kleinen Kind, so alt wie Ivanovich. Das Kind hielt eine blaue Ente an sein Herz gedrückt. Kaum hatte Ivanovich die Ente gesehen, begann er zu brüllen, sein Gesicht wurde zornrot wie bei einem Anfall, denn sein Sohn hatte es frühzeitig verstanden, dem Schreien einen beunruhigenden Unterton zu geben. Die junge Frau trug einen alten Mantel, ihr Kopftuch war grau, sie sah aus, als habe sie wochenlange Irrfahrten hinter sich. Ihr Kind bot mit Tränenspuren auf den schmutzigen Backen, laufender Nase und zu großer Mütze auch keinen erfreulichen Anblick. Heinrich war verlegen, als plane er etwas Unanständiges, als er ihr vorschlug, die Ente zu verkaufen. Als sie hörte, daß es fünf Mark dafür geben sollte, wollte sie die Ente sofort herausgeben. Heinrich war der Handel peinlich, da er nicht ohne Zeugen abgelaufen war. Passanten blieben stehen und guckten zu, wie das Flüchtlingskind dem dicken Kind im zweireihigen Flanellmäntelchen die Ente abgeben mußte. Ein Glück nur, daß Antonia das nicht sah. Das beraubte Kind war ein ebenso furchteinflößender Schreihals wie Ivanovich, und Heinrich sah voll Mitgefühl das entnervte Gesicht der jungen Frau, die, ohne sich von ihm zu verabschieden, schnell vom Ort ihres Handels wegzukommen versuchte. Ivanovich hatte nun die Zelluloidente in der Hand, sie war federleicht, eingedellt und schmutzig. Das waren keine Nachteile in den Augen ihres neuen Besitzers, sein Gesicht war satt und zufrieden wie das des Tamerlan, wenn ihm die Ohren seiner Feinde gebracht wurden. Trotzdem war mit der Ente nicht allzuviel anzufangen. Sie quäkte nicht, sie rasselte nicht, sie rollte nicht mit den Augen, sie war leicht wie ein Pingpongball – zu leicht, um wirklich interessant zu sein, dachte Ivanovich möglicherweise und schleuderte sie weit weg. Als Heinrich, der ihn nicht gleich verstand, der Ente nachlief und sie seinem Sohn zurückbrachte, wurde er schnell eines Besseren belehrt: Ivanovich weigerte sich rundheraus, die eben noch heiß begehrte Ente auch nur anzufassen, während in der Ferne das Geschrei des anderen Kindes noch zu hören war. Das war in den Jahren ihrer höchsten Harmonie geschehen, ein Erlebnis, das Heinrich damals besonders liebenswert vorgekommen war. Überhaupt nahm er Ivanovich nichts übel. Er war entschlossen, alles großartig zu finden, was Ivanovich dachte und unternahm, wenn sich sein Sohn nur ein einziges Mal bereitgefunden hätte, ihm etwas zu erklären. Heinrich verstand einfach nicht, wieso alles, was zwischen ihnen immer die höchste Lust gewesen war, von einem auf den anderen Tag nichts mehr gelten sollte. Als Ivanovich vierzehn war, lehnte er plötzlich ab, im Winter mit Heinrich und Freunden aus der Schule auf dem zugefrorenen Teich Eishockey mit umgekehrt gehaltenen Spazierstöcken zu spielen, eine Beschäftigung, die Heinrich liebte und auf die er sich vom ersten Frost an freute. Ivanovich ging einfach weg, obwohl Heinrich ihm in ungewohnt herrischem Ton zu bleiben befahl, und hatte auch, als sein Vater sich schließlich aufs Bitten verlegte und um Pardon bat, weil er Ivanovichs Schienbein mit voller Wucht geschlagen hatte, als er den Ball treffen wollte, nur stumm den Kopf geschüttelt, mit einem hämischen Ausdruck, wie Heinrich sich selbstquälerisch eingestand. Leider war Heinrich nicht der Mann, der bereit gewesen wäre, sich mit einer einmal entstandenen Lage abzufinden und heikle Punkte nicht zu berühren. Was Antonia seine Unsensibilität nannte, hatte damit in Wahrheit nichts zu tun. Heinrich spürte beinahe ein wenig zu viel, er hörte bei den Menschen, auf die sich der Blick seiner eifersüchtigen Liebe gelegt hatte, das Gras wachsen, er hörte die Flöhe husten, war mimosenhaft empfindlich und was dergleichen Redensarten mehr sind, um die sensitiven Fähigkeiten zu beschreiben, die fast jedem Menschen zuwachsen, wenn sein Liebstes bedroht ist. Heinrich bestand nur darauf, Ivanovich niemals zu ersparen, ihn zurückzuweisen. Weil Heinrich die Lieblosigkeit seines Sohnes zu ertragen hatte, sollte auch Ivanovich leiden. Er sollte sich nicht in dem Vertrauen ausruhen dürfen, daß einmal Narben über die von ihm geschlagenen Wunden wachsen würden. Ivanovichs kommunistische Phase schaffte eine gewisse Entspannung zwischen Vater und Sohn, die Heinrich freilich nicht recht genießen konnte, weil ihm an Entspannung ja nichts gelegen war. Aber es gab nun wenigstens einen Vorwand, den scheinbar eklatanten Gegensatz in der politischen Überzeugung nämlich, der dazu gut war, sich nach Herzenslust anzuschreien. Bei einer solchen Auseinandersetzung war auch, und zwar ein einziges Mal, das Wort »Schieber« gefallen, und Ivanovich hatte augenblicklich bereut, was ihm da entfahren war, um sich für den »Parasit« zu rächen, den Heinrich ihm zuvor an den Kopf geworfen hatte, eine Leistung der Schauspielkunst im übrigen, denn Heinrich wünschte in Wirklichkeit nichts inniger, als daß Ivanovich willig und genußvoll bei ihm schmarotzte, und war in Wut geraten, weil sein Sohn ein paar Monate lang seinen Wechsel zurückgewiesen hatte. Auch Ivanovich wußte, daß die Schieber nicht seine wirklichen Feinde waren. Ihr Lebensraum war das Chaos, von dem Ivanovich sehnsuchtsvoll träumte. Sie hatten gewiß nichts mit der moralisch veredelten Wirtschaftsordnung des Professors Erhard gemeinsam, und wenngleich Heinrich nur nach dem Krieg ein wenig geschoben hatte, als das beinahe jeder tat, der wieder auf einen grünen Zweig kommen wollte, spürte Ivanovich ganz richtig, daß sein Vater liberalem Pathos gegenüber gleichgültig blieb und eine geheime Verachtung dem allgemeinen Wunsch nach Sicherheit von Recht und Eigentum entgegenbrachte. Ohne über solche Fragen groß nachzudenken, erklärte Heinrich doch gern: »Mir geht’s in jedem System gut«, und Ivanovich war immer so anständig geblieben, seinen Vater deshalb nicht einen Opportunisten zu schimpfen. Er nannte ihn statt dessen asozial, was sich in Ivanovichs Mund erheblich freundlicher ausnahm. Als aber nach Ivanovichs Renegatentum der politische Gegensatz als Vorwand für Scheingefechte wieder verschwunden, Ivanovich mit väterlicher Hilfe die Rückkehr aus Nicaragua geglückt war und er nun, heimgekehrt, seine Füße wieder, wie Heinrich sich ausdrückte, unter den Tisch zu Hause stellte, gingen sich Vater und Sohn aus dem Weg, denn Heinrich hatte keine Freude an der Niederlage seines Sohnes, und Ivanovich litt unter der Pflicht zur Dankbarkeit um so mehr, als Heinrich davon absah, sie einzufordern. Ivanovich sah seinen Vater an und fand, daß er in seinem Bett wie ein Sträfling aussah. Das war ebenfalls kein abwertendes Urteil. Anders war das bei Antonia, die Heinrich, als sie seinen rasierten Kopf nach der Operation zum ersten Mal erblickte, mit Grauen Sträfling genannt hatte. Allerdings verbanden Mutter und Sohn andere Bilder mit diesem Begriff. Antonia fielen die langen Reihen bis auf die Knochen abgemagerter Menschen ein, die im harten Winter in ihrer dünnen gestreiften Kleidung am Bahndamm auf Kommando die Hacke schwangen. Der Zug hielt an, wie er auf der kurzen Strecke nach Brünn schon hundertmal angehalten hatte, und jemand warf aus einem anderen Abteil ein Stück Brot heraus, das einen Augenblick lang auf der Strecke lag. Dann stürzten sich die am nächsten Stehenden blitzschnell darauf, bissen und schlugen sich und standen auch schon wieder in einer Reihe, bevor die Aufseher etwas bemerkt hatten. Aber genau unter Antonias Fenster stand eine Frau, wie Antonia trotz der harten Züge und des blank geschorenen Kopfes sicher zu wissen glaubte, und blickte mit solcher Gier in die Richtung, in die das Brot gefallen war, daß ihr Gesicht wie von einer Vakuumpumpe nach vorn gezogen wurde und die Augen, die eben noch tief in den Höhlen verschwunden waren, sich blaß und...