Mühsam / Hirte / Piens | Tagebücher in Einzelheften. Heft 10 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 10, 120 Seiten

Reihe: Tagebücher in Einzelheften

Mühsam / Hirte / Piens Tagebücher in Einzelheften. Heft 10

1912
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95732-049-0
Verlag: Verbrecher
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

1912

E-Book, Deutsch, Band 10, 120 Seiten

Reihe: Tagebücher in Einzelheften

ISBN: 978-3-95732-049-0
Verlag: Verbrecher
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Erich Mühsam führte zwischen 1910 und 1924 Tagebuch. Er war Lyriker und Anarchist, Satiriker und Revolutionär und einer der führenden Köpfe der Münchener Räterepublik. In seinen Tagebüchern hat er sein Leben festgehalten - ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber - und niemals langweilig. Sie sind ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument. Die historisch-kritische Ausgabe der 'Tagebücher' wird seit 2011 von Chris Hirte und Conrad Piens herausgegeben. Sie erscheint in 15 Bänden als Leseausgabe im Verbrecher Verlag und zugleich als Online-Edition unter http://www.muehsam-tagebuch.de. Begleitend werden nun die 'Tagebücher' in Einzelheften" als E-Books veröffentlicht. Jedes Einzelheft dieser mitreißenden Tagebücher ist mit einem Register versehen und verschlagwortet. Die hier vorliegende Ausgabe ist das Heft 10.
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München, Freitag, d. 16. August 1912. Jenny schrieb mir in einem ihrer Briefe, sie schreibe das, was sie bewege, lieber an mich, als in ihr Tagebuch. Mir gehts jetzt gradeso. Seit ich ihr fast täglich schreibe, vernachlässige ich wie nie in den letzten zwei Jahren diese Hefte. Aber für die nächsten Tage muß ich wohl wieder hierher zurückflüchten, da Jenny mir mitteilte, daß sie einen Besuch bei ihren Verwandten in Russland mache, und ich ihr während dieser Zeit nicht schreiben könne. So will ich das Versäumte aus den letzten Tagen heute kurz nachholen. Dienstag: ich erhalte Besuch des Genossen Losch aus Luzern, der mir über den Stand der Schweizer Bewegung referiert. Erinnerung an meinen Luzerner Vortrag vor zwei Jahren, bei dem ich den Genossen so hart vor den Kopf schlug. Mittwoch: abends in der Torggelstube sehr amüsante Stunden. Wedekind so aufgeräumt, wie ich ihn seit langer Zeit nicht sah, machte brillante Witze und poussierte heftig Anny Rosar, die dort – zum ersten Mal seit ihrem Abenteuer mit ihm – Barnowsky wiedersah. Mir als Eingeweihtem war die Situation sehr pikant. Possart- und Lautenberg-Anekdoten. Wedekind sagt von Possart, er sei der Erfinder des Münchner Fremdenverkehrs. Spät nach Hause. Donnerstag: Ich hole, laut Verabredung, mittags Anny Rosar ab, um sie zur Bahn zu begleiten, da sie nach Starnberg zur Massary eingeladen war und mir noch über die Entwicklung ihrer Angelegenheit mit Barnowsky berichten will. (Die Sache ist geregelt. Sie wird Thomas Magdalena in zweiter Besetzung – nach Centa Bré – im Kleinen Theater in Berlin spielen). Am Bahnhof überredet sie mich mitzufahren. Charlé fährt mit uns. Wir trennen uns am Starnberger Bahnhof mit der Verabredung, daß ich die Massary im Laufe des Nachmittags anrufen soll. Ich esse bei Pellet-Maier Mittag, suche dann vergeblich Rössler und Gotthelf, die beide in Riem zum Rennen waren (gestern war Feiertag: Mariä Himmelfahrt). Auch der Consul und ihre Mutter sind nicht aufzufinden. Ich telefoniere die Rosar an und werde dringlich eingeladen. Fritzi Massary bewohnt mit Pallenberg zusammen (sie wollen demnächst heiraten) die Villa Ammann weit draußen in der Possenhofenerstrasse. Ich gelange in scharfem Tempo in einem halbstündigen wunderschönen Spaziergang hin, auf der Landstrasse schon empfangen von Pallenberg, der Rosar und der Massary, die ich jetzt erst kennen lernte, nachdem wir uns bisher immer nur von weitem sahen. Eine entzückende Person, schön, schlank, intelligent, lebhaft. Sie soll über vierzig Jahre alt sein. Man schätzt sie höchstens auf dreißig. Sie wohnen wunderschön, direkt am See, gegenüber der Gedächtniskapelle für Ludwig II., die die ganze Gegend verschandelt. Ich erhalte einen prachtvollen starken Kaffee und brillante Servelatwurst. Angeregteste Unterhaltung. Um 6 Uhr im Motorboot mit Pallenberg und der Rosar, die beide abends zu spielen hatten, zurück. Um 7 Uhr Ankunft in München, nachdem wir am Starnberger Bahnhof wieder Charlé getroffen hatten. – Ich habe mit Pallenberg und der Massary verabredet, daß ich ihnen einen Sketch schreiben soll, da sie vom Winter ab gemeinsam mit Sketchen in Varietés auftreten wollen. Das kann, wenn es glückt, eine ganze Menge Geld einbringen. Abends wurde ich im Café Stefanie von Betty Seipp, dem Seppel, angerufen. Sie holte mich mit Auto von dort ab, und wir fuhren zusammen in die Torggelstube. Sie sah sehr hübsch aus, kam vom Gardasee und trug noch ein grünes Dirndl-Kostüm. Aber sie hat üble Eigenschaften angenommen, vor allem eine ganz blöde Bazillenfurcht, die sie fortwährend betont. Schade. Geld und Türklinken werden nur mit Handschuhen angefaßt und alles so albern wie möglich aufs Hygienische hin beurteilt. Nachher mußte ich sie im Auto heimfahren. Die beiden Autofahrten kosteten mich über vier Mark, und nun bin ich so ziemlich wieder am Ende meiner Geldmittel angelangt. Es ist recht trübselig. Morgen werde ich nichts mehr haben. Von Jenny nichts Neues. In der Sache kein Schritt weiter. Aber heute von Onkel Leopold eine Postkarte, ich solle ihm umgehend (unterstrichen) über den Stand der Angelegenheit berichten. Vielleicht weiß er etwas Neues und Gutes? – Ich habe ihm geantwortet. Er hat noch immer geholfen. Vielleicht bewährt er sich diesmal besser und freundschaftlicher als mein reicher Vater mit seinen gefesteten Grundsätzen.   München, Sonnabend, d. 17. August 1912. Ich bin in einiger Sorge um Jenny. Seit Mittwoch habe ich keine Nachricht von ihr, und jüngst schrieb sie mir, daß sie sich krank fühle. Schreiben kann ich ihr jetzt garnicht. Sie hat es ausdrücklich verboten, da sie für einige Tage nach Russland wolle, und inzwischen das Briefgeheimnis in Eydtkuhnen nicht ganz gesichert sei. Nun hoffe ich nur, daß morgen ein Brief ankommt. Sonst fürchte ich entsetzliche Nerventorturen. Gestern mittag bestellte mich Seppel telefonisch ins Luitpold. Während wir dort saßen, erschien plötzlich Ilona Ritscher, die sich nochmals höchlich für meine Kain-Notiz bedankte. Sie sah sehr nett aus. Angeblich ist es doch noch nicht ganz ausgeschlossen, daß sie hier engagiert wird. Speidel selbst hat sie noch garnicht gesehn. – Sie erzählte auch, daß sie in Berlin am Kleinen Theater in Thomas »Magdalena« die Titelrolle spielen werde, und zwar in erster Besetzung. Ob sie statt der Bré dazu berufen ist, oder ob man der Rosar oder der Bré oder ihr oder noch diversen Frauen etwas vorgeschwindelt hat, wird sich ja herausstellen. Ich werde der Rosar nichts sagen, um sie nicht aufzuregen. Aber Barnowsky scheint mir da kein ehrliches Spiel zu treiben. – Heute vormittag sollte ich die Ritscher im Hotel Vier Jahreszeiten anrufen, verschlief aber. Sie war schon ausgegangen. – Ich machte dann also nach dem Luitpold mit Seppel einen ziemlich weiten Spaziergang durch den Englischen Garten, wobei sie mir weit besser gefiel als vorgestern. Vor allem sah sie entzückend aus. – Abends war ich dann allein im Künstlertheater, um die Massary als Helena zu sehn, die sie zum letzten Mal sang. Sie ist unvergleichlich besser als die Nagel und kann in mancher Hinsicht auch über die Jeritza gestellt werden. Pallenberg trieb wieder das Tollste. – Im Theater traf ich eine Dame, die ich im Fasching viel geküßt habe (im Luitpold), eine Bekannte aus der Gustav-Gross-Zeit, deren Namen ich mir nie merken kann. Durch sie lernte ich einen Wiener Herrn kennen, einen Bruder des verstorbenen Otto Weininger, einen netten feinen Menschen, der mir vom Kraus-Kreis erzählte. Die beiden brachten mich im Auto zur Torggelstube, wo gepokert wurde: Rössler, Gotthelf, Strauß, Charlé, Bernauer, Eyssler. An einem andern Tisch saßen die Ehepaare Wedekind und v. Jacobi mit Herrn Schröder (ehemals Schmutzler). Rosenthal kam, und ich setzte mich mit ihm zu Wedekinds Tisch. – Als Meinhardt erschien, nahm ich ihm sogleich 5 Mk ab, und als alle andern weg waren, ging ich an den Spielertisch zurück und gewann dort beim Baccarat, indem ich bei einem einzigen Coup setzte, 4 Mk. So bin ich für heute und morgen mal wieder gesichert, – und Montag denke ich dem »Simplizissimus« mal wieder einen Besuch abzustatten.   München, Sonntag, d. 18. August 1912. Was hat das zu bedeuten? Von Jenny immer noch kein Brief! Ich bin sehr beunruhigt, zumal ich kaum eine andre Erklärung finde, als daß sie krank sein muß. Ist morgen keine Nachricht da, so schreibe ich trotz ihres Verbots. – Zu all den Unsicherheiten und Sorgen nun auch noch die Unterbrechung der Verbindung: es ist bald nicht mehr zu ertragen. Ich fürchte ernstlich für mein Herz, das ich jetzt häufig spüre. Inzwischen lebe ich hier in ewiger Abwechslung, wie immer, wenn ich mit der Seele sehr beschäftigt bin, der Körper Zerstreuung braucht. Gestern nachmittag traf ich im Stefanie Gustav Lewitzky mit Asta, die ich seit fünf Jahren nicht sah. Sie hat sich wenig verändert, die feinen Glieder der Turkestanerin entzückten mich wie ehedem und ich hörte interessiert, daß die beiden eine vierjährige Tochter haben, und daß Asta sich Lewitzkys Wunsch, sie zu heiraten, mit großer Hartnäckigkeit widersetzt, weil sie den Staat nicht als Zeugen ihres Privatlebens dulden will. Ich führte die beiden durch München, und zeigte ihnen unter anderm den alten Turnierhof in der Münze, den ich bei dieser Gelegenheit auch erst kennen lernte. Ein wundervolles Renaissancedenkmal, wie ich es in solcher stilreinen Schönheit nicht zum zweiten Mal kenne. Ich war dann im Hofbräuhaus und noch einmal im Stefanie mit ihnen, und lieferte sie um 10 Uhr vor der Bonbonnière ab, während ich in die Torggelstube ging. Gotthelf mit Lottchen, Falkenstein, Strauß, Frau Victor Léon (eine aufgedonnerte Wienerin) mit zahllosen Brillanten und ganz hübscher Tochter, Charlé, Feldhammer, Sidonie Lorm, Graf Keyserlink. Wir alle gingen ins Odeon-Casino, wo viel getrunken wurde. Gegen 5 Uhr kam ich ins Bett, wachte aber schon früh auf, da mich die Aufregung, ob Jenny endlich Nachricht geben werde, nicht schlafen ließ. Gebe Gott, daß ich bald beruhigt werde. Meine Nervenverfassung läßt eine lange Fortdauer dieser zweifelsvollen Zeit kaum noch zu.   München, Dienstag, d. 20 August 1912. Ein Brief Jennys von zauberhafter Süßigkeit und Güte brachte mich gestern ganz aus dem Häuschen. Das süße geliebte...


Erich Mühsam, geboren am 6. April 1878 in Berlin, war ein Dichter und politischer Publizist. Seit 1909 lebte er in München-Schwabing. Als Zentralfigur der Schwabinger Bohème war er befreundet mit Heinrich Mann, Frank Wedekind, Lion Feuchtwanger, Fanny zu Reventlow und vielen anderen. Mühsam war Mitarbeiter des Münchner Kabaretts und verschiedener satirischer Zeitschriften wie des Simplicissimus und der Jugend. Von 1911 bis 1919 gab Erich Mühsam in München die Zeitschrift Kain heraus. Er war maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde. Als Sonderheft seiner Zeitschrift Fanal erschien 1932 kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten seine programmatische Schrift Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, mit dem Untertitel Was ist kommunistischer Anarchismus? versehen.
1933 wurde er verhaftet und am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS-Wachmannschaft ermordet.



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