Mundlos Gewalt unter der Geburt
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8288-6295-1
Verlag: Tectum
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Der alltägliche Skandal
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-8288-6295-1
Verlag: Tectum
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
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II. Was ist Gewalt unter der Geburt? Der Begriff »Gewalt« wird in unserer Gesellschaft häufig auf ganz unterschiedliche Art und Weise verwendet. Mal meint man damit körperliche Verletzungen, mal, die Macht über eine Person oder Sache zu haben, oder auch psychische Übergriffe wie Nötigung, Beleidigung etc. Zunächst werde ich beschreiben, wie genau der Begriff »Gewalt« in diesem Buch verwendet wird. Eine Gewaltdefinition hilft sicherzustellen, dass die Mütter, Hebammen, ich als Autorin und Sie als Leserinnen und Leser den Begriff auf ganz ähnliche Art verstehen. Dabei werde ich auch die verschiedenen Facetten der Gewalt und einige gängige Erklärungsansätze zu Gewaltursachen beschreiben. Anschließend gebe ich konkrete Beispiele für die Gewalt unter der Geburt und beleuchte den Zusammenhang mit dem damit einhergehenden Vertrauensmissbrauch. Eine sehr umfangreiche Definition von Gewalt, die vielen sozialwissenschaftlichen Arbeiten zugrunde gelegt wird, stammt von dem Begründer der Friedens- und Konfliktforschung Johan Galtung: »Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung … Gewalt ist das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert.«10 Gewaltdefinitionen sind also stets Werturteile und haben einen gewissen politischen Hintergrund und auch eine politische Wirkung. Einen übergeordneten allgemeingültigen Gewaltbegriff kann es daher nicht geben.11 Kann die Gewalt unter der Geburt als Gewalt gegen Frauen bezeichnet werden bzw. fällt sie unter den Begriff »Gewalt gegen Frauen«, wie er allgemein verwendet wird? Da die Gewalt unter der Geburt in erster Linie immer nur Frauen und keine Männer treffen kann und erst in zweiter Linie auch Männer als Väter oder als Geburtshelfer in ihrer Funktion als Zeuge mitbetroffen und mittraumatisiert sein können, muss die Gewalt unter der Geburt natürlich als Gewalt gegen Frauen angesehen und verstanden werden. Dabei stellt sich weniger die Frage nach der Ursache. Es macht also wenig Sinn, zu vergleichen, ob sonstige körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt gegen Frauen eventuell stärker durch Frauenfeindlichkeit bei den Tätern und Täterinnen ausgelöst wird als die Gewalt unter der Geburt. Wir können nur mutmaßen, ob die Kreißsäle gewaltfreiere Orte wären, wenn (auch) Männer Kinder gebären könnten (wovon ich überzeugt bin). Berücksichtigen wir das gesellschaftliche Frauen- und Männerbild und die Position von Frauen in unserer Gesellschaft sowie die Hindernisse, die es immer noch auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter gibt, kann man nur davon ausgehen, dass männliche Gebärende weniger oder seltener Gewalt unter der Geburt erleben würden. Daher gehe ich von einer sexistischen Gewaltform aus. Viel wichtiger ist bei der Beschreibung der Gewalt unter der Geburt als frauenfeindliche Gewalt jedoch, dass die Auswirkungen dieselben sind wie bei anderen Formen frauenfeindlicher Gewalt. Frauen werden geschwächt, ihre Rechte nicht akzeptiert und kommuniziert, es wird sich über ihre körperliche und psychische Freiheit und Integrität gewaltsam hinweggesetzt. Die Gewalt unter der Geburt verhindert und beeinträchtigt die Umsetzung der Ziele zur Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft. Sie verletzt die Menschenrechte der Gebärenden (und der Neugeborenen). Gewalt kann von Einzelpersonen, von einer Gemeinschaft oder auch vom Staat ausgeübt oder geduldet werden. Bei der Gewalt unter der Geburt sind alle drei Formen möglich. Es ist allgemeiner Konsens, dass Gewalt eine Form der Verletzung ist, die über körperliche Gewaltanwendung hinausgeht. Und auch mit der Gewalt, die während der Geburt stattfindet, bezeichnen wir hier nicht nur physische, sondern auch psychische und sexuelle Gewalt. Die physische Gewalt umfasst dabei alle Formen von körperlichen Misshandlungen und Verletzungen. Sie ist in der Regel relativ einfach zu definieren und festzustellen. Bei der Gewalt unter der Geburt ist dies schon bedeutend schwieriger. Denn es muss stets unterschieden werden zwischen medizinisch notwendigen Verletzungen und unnötigen Verletzungen der Gebärenden. Dies ist für die Betroffenen manchmal nur schwer zu unterscheiden. Psychische Gewalt, die auf der emotionalen Ebene ausgeübt wird, ist schwer zu definieren und wird häufig als strittig erlebt – obwohl ihre Auswirkungen ebenfalls gravierend sein können. Das Spektrum ist hier recht breit und reicht von einem Ignorieren der Bedürfnisse der Gebärenden bis hin zu Beleidigungen, Bedrohungen, Verleumdungen, Entwertungen und dem Angstmachen.12 Unter der Geburt geht körperliche Gewalt fast immer auch mit psychischer Gewalt einher, oder die zunächst »nur« psychisch ausgeübte Gewalt geht zu einem späteren Zeitpunkt in physische Gewaltanwendung über. Mit sexueller Gewalt sind alle aufgezwungenen sexuellen Handlungen gemeint. Wichtig ist bei der sexuellen Gewalt, zu erkennen, dass es sich dabei nicht um eine sexuell/triebhaft motivierte Gewalt handelt, sondern dass die sexuelle Ebene lediglich der Austragungsort von Aggression und Machtmissbrauch ist.13 Gewalt unter der Geburt kann mit sexueller Gewalt einhergehen. Es besteht jedoch kein notwendiger Zusammenhang. So ist sowohl psychische als auch körperliche Gewalt unter der Geburt möglich, ohne dass diese gleichzeitig als sexuelle Gewalt bezeichnet werden könnten. Es gibt verschiedene Theorien, die sich mit den Ursachen von Gewalt beschäftigen und diese zu erklären versuchen: Psychopathologische Ansätze gehen davon aus, dass GewalttäterInnen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, psychische Dispositionen, Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Da kein Nachweis für eine derartige charakterliche »Prägung« existiert und in bestimmten Milieus und Zusammenhängen Gewalt gehäuft auftritt (z. B. in der Familie, im Kreißsaal etc.), ist diese Theorie jedoch kritisch zu sehen und kann jedenfalls nicht als alleiniger Erklärungsansatz dienen.14 Sozialpsychologische Lerntheorien legen den Fokus auf die Kindheitserfahrungen von TäterInnen und Gewalt als ursächlich in der Kindheit erlerntes Verhalten. TäterInnen sind laut dieser Theorie also in ihrer Kindheit Opfer und/oder ZeugInnen von Gewalt gewesen. Dieser Theorie liegt damit jedoch ein sehr simples Verständnis von komplexen Vorgängen wie Lernen, Nachahmen und Sozialisation zugrunde und lässt außer Acht, dass es auch TäterInnen gibt, die keine Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit gemacht haben.15 Stresstheorien betrachten insbesondere Belastungen in Form von Stress und stressigen Ereignissen als Auslöser für Gewalt. Je mehr Stressfaktoren vorhanden sind, für umso wahrscheinlicher gelten dabei Gewalthandlungen. Wie bei den vorhergehenden Theorien auch schon, lässt sich ein gewisser Zusammenhang nicht völlig abstreiten. Jedoch können die Stresstheorien allein keine Gewalthandlungen erklären. Zudem gilt dieser Zusammenhang nicht für alle Menschen, Gruppen oder Gesellschaften gleichermaßen. Es gibt viele Gegenbeispiele, die andeuten, dass manche Personengruppen, die unter starkem Stress stehen (z. B. auch Frauen), wesentlich weniger Gewalt anwenden als andere Gruppen mit weniger oder gleichviel Stressfaktoren.16 Neben diesen personenzentrierten Theorien gibt es auch Theorien, die Gewalt als vorwiegend durch soziale Strukturen und kulturelle Werte beeinflusst sehen.17 Die strukturellen Einflüsse auf Gewaltanwendung sind für die Gewalt unter der Geburt von besonderer Bedeutung. Die Situation, in der sich Gebärende befinden, und das Verhältnis, das sie während der Geburt zu den beteiligten Personen haben, ähnelt sich von Geburt zu Geburt. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Phänomen »Gewalt unter der Geburt« also nicht um »Zufall« handelt. Gebärende geraten nicht etwa ausnahmsweise an Kreißsaalpersonal, dass ein ganz individuelles, charakterliches Problem, traumatische Kindheitserfahrungen oder aktuell speziellen Stress hat. Dafür ist die Gewalt im Kreißsaal zu weit verbreitet und nicht an einzelne Personen oder Kliniken geknüpft. Es handelt sich um ein weltweites Phänomen, das auch in den westlichen Kulturen in den meisten Kliniken auftritt.18 Daher muss diese Gewaltform als zumindest AUCH strukturell bedingt angesehen werden.19 Sicher ist sie nicht ausschließlich strukturell bedingt, da es durchaus auch Hebammen, Geburtshelfer, Ärztinnen und Ärzte gibt, die keine Gewalt anwenden. Wichtige Aspekte aus den soziostrukturellen und soziokulturellen Theorien sind, dass Gewalt ein Mittel zur Aufrechterhaltung oder Herstellung von Rollen und Strukturen innerhalb einer Gruppe ist.20 Zudem wird hervorgehoben, dass die Entwicklung von Gewalt dadurch beeinflusst wird, wie auf Gewaltanwendung innerhalb der Gruppe/des Systems reagiert wird. Gewalt wird also befördert, wenn sie für die TäterInnen folgenlos bleibt oder sogar Lob, Wertschätzung oder/und eine Statussteigerung zur Folge hat. Wenn die Gewalt weder von den Betroffenen noch von den ZeugInnen angeprangert wird und die TäterInnen keine negativen Konsequenzen zu fürchten haben, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit von Gewaltanwendungen.21 Welche Handlungen von den Frauen unter der Geburt als...